Die Leidtragenden sind die Menschen mit Behinderung
Das Recht der Eingliederungshilfe (§§ 90 bis 150 SGB IX) ist die wichtigste Rechtsgrundlage für Leistungen, auf die Menschen mit wesentlichen Behinderungen angewiesen sind. Die Reform der Eingliederungshilfe steht im Zentrum des Bundesteilhabegesetzes vom 23. Dezember 2016. Die Reform sollte die Einrichtungszentrierung der Eingliederungshilfe überwinden und Menschen mit erheblichen Behinderungen nach dem Grundsatz der Gleichberechtigung ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Dazu sollte die Eingliederungshilfe zu einer personenzentrierten Leistung umgebaut werden. Doch bislang hat sich nichts geändert.
Anstaltsstrukturen der Eingliederungshilfe
Leistungen für Menschen mit erheblichen Behinderungen sind in Deutschland bis heute in hohem Maß einrichtungszentriert. Im Jahr 2019 erhielten etwas mehr als eine Million Menschen Leistungen der Eingliederungshilfe. Rund 560.000 von ihnen lebten in Wohnheimen. Besonders problematisch erscheinen dabei die großen Komplexeinrichtungen, die oft außerhalb bestehender Ortschaften errichtet wurden. Die Strukturen folgen der Anstaltslogik, die sich verheerend auf die Betroffenen auswirkt. Doch auchambulante Leistungen folgen in vielen Bundesländern einer institutionellen Logik, die sich von einer klassischen Anstaltsstruktur nur geringfügig unterscheidet. Anstaltsstrukturen können nicht nur äußere, sondern auch innere Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, wie das Entwickeln selbstbestimmter Wünsche, beschädigen oder entziehen.
Dabei erweisen sich die ökonomischen und rechtlichen Elemente der Anstaltsstruktur als weit folgenschwerer als die räumlichen und architektonischen. Im Kern übernehmen die Leistungserbringer die umfassende Verantwortung für die Versorgung eines Menschen mit Behinderungen. Im Gegenzug erhalten sie eine pauschale Vergütung (traditionell einen Tagessatz), die sie mit der staatlichen Seite vertraglich vereinbart haben. Die Folge für die Leistungsberechtigten ist, dass sie keine individuellen Ansprüche mehr geltend machen können. Zwar haben sie einen Rechtsanspruch auf individuelle Leistungen zur sozialen Teilhabe, um zum Beispiel nach Feierabend oder am Wochenende etwas unternehmen zu können oder um Beziehungen zu Menschen außerhalb der Einrichtung zu pflegen. Doch nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes kann dieser Anspruch vollständig abgegolten werden, indem der Kostenträger eine Pauschale an den Leistungserbringer zahlt. Das Bundessozialgericht hat allen Versuchen leistungsberechtigter Personen, in Fällen von Unterversorgung den Anspruch auf ergänzende individuelle Hilfen durchzusetzen, eine Absage erteilt.
Folgen für die Leistungsberechtigten
Je umfassender eine betroffene Person von Hilfe abhängig ist, desto mehr wird der Leistungserbringer auf diese Weise zur totalen Institution. Dabei kommt es weniger darauf an, ob eine leistungsberechtigte Person als Mieter(in) in einer eigenen Wohnung oder in einem Heim lebt. Soweit sie für die Gestaltung von Alltag und Beziehungen wegen ihrer Behinderung auf Hilfe angewiesen ist, können ambulante Versorgungsstrukturen Abhängigkeiten und Beschränkungen erzeugen, die sich kaum von der Situation in einem Heim unterscheiden. Die Pauschalierung ist für den Kostenträger attraktiv, weil die Pau[1]schale deutlich geringer ausfällt, als die Kosten individueller Ansprüche voraussichtlich ausfallen würden. Sie ist auch für die Leistungserbringer attraktiv, denn das System fixiert keine spezifische Leistung, die sie erbringen müssten. Sie erhalten vielmehr einen frei verhandelten Betrag, ohne dass dem eine genau bestimmbare Leistungsverpflichtung gegenüberstünde. Damit erhalten sie die Möglichkeit, Qualität und Umfang der Leistungen weitgehend frei zu bestimmen. Zugleich ist den leistungsberechtigten Personen die Möglichkeit genommen, einen Teil der Leistungen, wie zum Beispiel die Unterstützung bei Freizeitaktivitäten, bei anderen Unternehmen einzukaufen. Die unternehmerischen Risiken können zum großen Teil auf die leistungsberechtigten Personen abgewälzt werden.
Im Hinblick auf das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sind die Folgen drastisch. Der Tagesablauf und die Freizeitgestaltung werden umfassend durch die Einrichtung bestimmt. Triviale Dinge wie ein Gang durch die Innenstadt, der Besuch von Cafés und Restaurants, eigenständiges Einkaufen wer[1]den weitgehend ausgeschlossen. Die Chancen zur persönlichen Entwicklung werden auf den Rahmen begrenzt, den die Einrichtung setzt. Diese Wirkungen setzen keineswegs eine räumlich abgesonderte Anstalt außerhalb eines Wohnortes voraus. Solange es dabei bleibt, dass die individuellen Ansprüche von Menschen mit Behinderungen voll[1]ständig durch Pauschalen abgegolten werden, die Kostenträger und Leistungserbringer ohne die Beteiligung der Betroffenen aushandeln, mögen Anstaltsstrukturen subtiler werden. Aber am Ergebnis ändert sich wenig. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wird letztlich nicht durch Gebäude (wie Heime) beschränkt, sondern dadurch, dass der individuelle Rechtsanspruch auf bedarfsdeckende Leistungen durch dessen pauschale Abgeltung durch Zahlung an einen Dritten - den Leistungserbringer - unterlaufen wird.
Das Bundesteilhabegesetz - eine halbherzige Reaktion
2008 ratifizierte Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Im Zuge der ersten Staatenberichtsprüfung (2011 bis 2015) durch den UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen kritisierte der Ausschuss Deutschland wegen des hohen Grades der Institutionalisierung. Das war Anlass dafür, die seit langem erhobene Forderung, die Eingliederungshilfe zu einem personenzentrierten Hilfesystem weiterzuentwickeln, mit dem Bundesteilhabegesetz aufzugreifen und den Grundsatz der Personenzentrierung in § 95 SGB IX an zentraler Stelle zu normieren. Allerdings ist auch das neue Recht nicht frei von Ambivalenz. Die Regelungen über die Vergütung enthalten eine Vorschrift, die es erlaubt, anstelle einer leistungsbezogenen Vergütung wie bislang Leistungspauschalen für "Gruppen mit vergleichbarem Bedarf" zu vereinbaren (§ 125 Absatz 3 Satz 3 SGB IX). Diese Vorschrift könnte als Feigenblatt dienen, um den im Gesetz klar verankerten Grundsatz der Personenzentrierung für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf zu umgehen. Die Folge wäre ein Zweiklassensystem, in dem personenzentrierte Leistungen für ressourcenstärkere Menschen mit Behinderungen zugelassen werden, die ihre Ansprüche durchsetzen und die Leistungen selbst kontrollieren können - also vor allem Menschen mit einer körperlichen Behinderung -, während eine große Zahl von Menschen mit einer geistigen oder seelischen Behinderung und mit hohem Unterstützungsbedarf wie bislang auf dem Wege der pauschalen Abgeltung ihres Anspruchs um ihre Entfaltungschancen gebracht wird.
Eingliederungshilfe im rechtsfreien Raum
Doch nicht einmal dazu ist es bislang gekommen. Die Träger der Eingliederungshilfe und die Vereinigungen der Leistungserbringer haben sich in ganz Deutschland auf Landesebene mit sogenannten Übergangsvereinbarungen darauf verständigt, dass sie die Anwendung des neuen Rechts bis auf weiteres aussetzen. Die bis 2019 geltenden Regeln werden ohne rechtliche Grundlage mit wenigen unvermeidlichen Modifikationen weiterhin angewendet. Die seit dem 1. Januar 2020 geltenden Rechtsvorschriften über Art und Ausgestaltung der Leistungen, den Grundsatz der Personenzentrierung, die Beachtung der Wünsche der Leistungsberechtigten und den Umfang des Bedarfs werden schlicht nicht beachtet. Das ermöglicht attraktive Überschüsse und die Abwälzung unternehmerischer Risiken auf die Leistungsberechtigten für die Leistungserbringer und eine Begrenzung der Ausgaben für die Kostenträger. Die Leidtragenden sind die Leistungsberechtigten, deren Entfaltungs- und Entwicklungschancen auf diesem Wege auf subtile, aber sehr wirkungsvolle Weise den Interessen der Kostenträger und der Leistungserbringer geopfert werden.
Anmerkung
1. Der Artikel wurde ursprünglich im Grundrechtereport 2021 veröffentlicht (www.grundrechte-report.de).
Literatur
Schädler, J.: Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe unter Bedingungen institutioneller Beharrlichkeit. Strukturelle Voraussetzungen der Implementation Offener Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung. Diss. Universität Siegen, 2002. Falk, W.: Deinstitutionalisieren durch organisationalen Wandel. Selbstbestimmung und Teilhabe behinderter Menschen als Herausforderung für Veränderungsprozesse in Organisationen. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, 2016
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