Zu bleiben bedarf der Rechtfertigung
Ich war im Kino. Nein, das stimmt nicht ganz. Ich habe einen Film gestreamt. Für mich eine neue Erfahrung - dank Corona. Es handelt sich um "Das neue Evangelium" von Milo Rau, Italien 2019. 9,99 Euro für ein Kino meiner Wahl in meiner Heimatstadt in Bochum. 107 Minuten geballte Jesusgeschichte. Allerdings nicht so, wie ich sie erwartet hätte.
Regisseur Milo Rau, selber bekennender Marxist und Atheist, kehrt in der süditalienischen Stadt Matera zu den Ursprüngen des Evangeliums zurück und inszeniert es als Passionsspiel einer Gesellschaft, die geprägt ist von Unrecht und Ungleichheit. Gemeinsam mit dem Politaktivisten Yvan Sagnet, der Jesus verkörpert, erschafft Rau eine zutiefst biblische Geschichte. Nach Jesu Vorbild kehrt Yvan als "Menschenfischer" in das größte der Flüchtlingslager bei Matera zurück. Unter den dort Gestrandeten findet er seine "Jünger" und "Jüngerinnen". Verzweifelte, die über das Mittelmeer nach Europa gekommen sind, um auf den Tomatenfeldern Süditaliens zu arbeiten und dort unter unmenschlichen Bedingungen wie Sklav(inn)en in regelrechten Ghettos hausen. Gemeinsam mit ansässigen Kleinbäuerinnen und -bauern begründen sie die "Revolte der Würde" ("The Revolt of Dignity"), eine politische Kampagne, die für die Rechte von Migrant(inn)en kämpft. Diese Menschen sind nicht nur diejenigen, die als Migrant(inn)en in Süditalien gegen die katastrophalen Arbeitsbedingungen bei der Tomatenernte kämpfen, sondern sie sind gleichzeitig auch die Schauspieler(innen), die ausgewählte Szenen des Evangeliums spielen. Darunter viele Muslime und Musliminnen, die während des Drehs streng ihre Gebetszeiten einhalten.
Den Plot des Films beschreibt Sagnet folgendermaßen: "Die Botschaft auch an Christen, dass es nicht reicht, zur Messe zu gehen, die Bibel zu lesen und sich zu bekreuzigen. Das Drehen war auch eine politische Aktion, ein Protest gegen das Wirtschaftssystem, das Ungleichheit zwischen Menschen und Völkern schafft. Für Gott gäbe es keine Einwanderer, keine Menschen ohne Papiere, keine Ausgrenzung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder eines Passes."1
Wie Gott einen Ort sichern in dieser Zeit?
Der Evangelist Johannes verbindet in seinen sogenannten Abschiedsreden die Abendmahlsszene mit der Fußwaschung. Teile der frühen Kirche haben die Fußwaschung wie ein Sakrament zelebriert. Der Mailänder Bischof Ambrosius (339-397) verband sie als Sakrament mit der Tauffeier.
Ich stelle mir manchmal vor, dieses Zeichen der Fußwaschung, der tätigen Nächstenliebe, hätte sich anstelle der Mahlfeier in der Kirche als "Quelle und Höhepunkt" durchgesetzt. Die Caritas wäre unsere Liturgie geworden. Caritas als Sakrament. Und uns Christ(inn)en wäre dadurch immer bewusst, dass wir im Dienst am Nächsten Christus real begegnen. Auf diesen Aspekt legt der Film "Das neue Evangelium" großen Wert.
Sind sich die Mitarbeitenden der Caritas eigentlich bewusst, dass sie in all ihrem Tun quasi "gottesdienstlich" oder "sakramental" unterwegs ist? Das würde für jede und jeden Mitarbeitenden bedeuten, ebenfalls "Zeichen und Werkzeug" für diese Liebe Gottes zu sein.
Und nun zu Simon Petrus, dem die Frage gestellt wird: "Bist du nicht auch einer von denen?"2 (Lk 22,58). Petrus legte aus frommer Sicht ja eine steile Karriere hin. Vom Fischer zum Anführer und Wortführer der Jünger und später zum Leiter der ersten Gemeinde. Also eine Führungskraft im klassischen Sinne. Petrus nimmt unter den Jüngern eine Vorrangstellung ein. Kennt Jesus wie nur wenige andere. Muss manchen Rüffel von Jesus einstecken und wird von diesem sogar in einer Szene als Satan bezeichnet: "Geh (du) hinter mich!" (Mt 16,23), befiehlt Jesus ihm. Jesus ist vorne. Ein für mich wichtiger Satz in der Bibel: "Geh hinter mich!" Und am Ende verleugnet er ihn.
Und ich: Bin ich nicht auch eine(r) von denen? Folgen oder nicht?
Wie unangenehm, dem Verdacht ausgesetzt sein, eine(r) "von denen" zu sein. Die abschätzige Missachtung ist deutlich zu spüren. Hier sind wir - da sind die anderen. Und zu den anderen zu gehören, fühlt sich an, wie ausgesetzt zu sein. Einem der größten Protagonisten der Jüngerschaft Jesu wird diese Frage gestellt. Petrus, im Angesicht des bevorstehenden Todes seines Herrn, findet nicht den Mut, sich zu ihm zu bekennen. Er leugnet und weint bitterlich, als er sich seines "Verrates" bewusst wird. So erzählt es unter anderem das Lukasevangelium.
Heute bekommt diese Frage eine andere Konnotation. Nicht die, die gehen, sondern die, die bleiben, müssen begründen, warum sie sich immer noch mit diesem Nachfolgekonzept, das wir "Kirche" nennen, verbinden wollen. Hilfreich ist ein Blick mit Hilfe des Soziologen Hartmut Rosa, der mit seinem Entwurf zum Thema "Resonanz"3 für viel Aufmerksamkeit gesorgt hat. Zusammengefasst lautet seine These, dass wir uns aufgrund vieler Prozesse der Welt entfremden. Er entwirft ein "Resonanzmodell" und beschreibt, dass es entscheidend darauf ankommt, eine resonante Weltbeziehung herzustellen, "Resonanzachsen" auszubilden, die es dem Subjekt erlauben, sich in der Welt getragen oder wohlzufühlen. Mit "Entfremdung" beschreiben übrigens die meisten der aus der Kirche Ausgetretenen den Grund ihres Austritts.
In einem aktuellen Interview in der taz reflektiert Hartmut Rosa die Pandemie vor seiner Resonanztheorie.4 Er schreibt: "Virologen sagen, dass Viren immer dann auftreten, wenn die Beziehung eines Organismus zu seiner Umwelt gestört ist. Das passt perfekt in meine Theorie. Ich würde also sagen: Dieses Virus macht deutlich, dass die Weltbeziehung dieser Gesellschaft gestört ist. Die Grundbeziehung zur Welt ist das Atmen. Und die fundamentalste Form der Weltbeziehungsstörung ist, wenn ich dem Atmen nicht mehr trauen kann, wenn ich nicht mehr unbesorgt ein- und ausatmen kann. Ich brauche jetzt einen Filter zwischen mir und der Welt. Das ist eine größtmögliche Verunsicherung, denn der Erdboden und die Luft sind das Fundamentalste, was wir kennen. Ich kann mir selbst nicht mehr trauen - vielleicht ist das Virus schon in meinem Körper. Und ich kann den anderen nicht mehr trauen - vielleicht stecken sie mich an."
In seiner Diagnose der "Beziehungsstörung zur Welt" erkenne ich das Verhältnis vieler Menschen zur Kirche. Kirche wird nicht mehr als "resonant" erlebt.
Sie bringt kaum noch etwas zum Schwingen oder Klingen und verliert dadurch jede Lebensrelevanz.
Rosa spricht in seiner Resonanztheorie von horizontalen und vertikalen "Resonanzachsen" - die zwischenmenschlichen und politischen und die zur Welt als Ganzes, zu denen die Religion zu rechnen ist. Kirche müsste also "Resonanzräume" zur Verfügung stellen oder sogar Resonanzraum sein. Und das scheint ihr/den Menschen in den Kirchen immer weniger zu gelingen.
Strukturprozesse reichen nicht
In seinem Buch "Credo" schreibt der Benediktiner David Steindl-Rast:
"Ich schaue auf die Flut von Kirchenaustritten und sehe darin voll Hoffnung ein Austreten der Kirche über ihre herkömmlichen Ufer, eine Überschwemmung. Die wirft zwar viel Altes über den Haufen, sogar manches, worum mir leid ist, kündigt aber Neues an, so wie die Donauüberschwemmung anzeigt, dass in den Alpen der Schnee schmilzt und also der Frühling kommt. In diesem Sinne müssen auch alle, die sich darum bemühen, als kirchentreue Christen zu leben, innerlich immer wieder aus der Kirche austreten, ohne die Kirche zu verlassen. Das muss ich selber täglich tun. Gerade aus Treue zur Kirche gilt es, über alle Enge hinauszutreten, in ein wahrhaft katholisches - allumfassendes - Glaubensverständnis."5
Da sehe ich einen starken Impuls: aus der Kirche austreten, die Grenzen weiten, um - weiter geworden - wieder bewusst wie neu einzutreten. Auffällig ist doch, dass die Menschen nicht aus ökonomischen Gründen austreten, sondern aus Gewissensgründen, aus Verantwortung. Sie treten aus der Kirche aus, um Kirche bleiben zu können. Diejenigen, die bleiben, müssen vor ihrem Gewissen und den Anfragen der anderen verantworten, warum sie bleiben. Die, die gehen, gehen zu Recht.
Bleiben bedarf der Rechtfertigung - mehr denn je. Auf die Frage an Petrus würden die Gehenden vermutlich antworten: Zu diesem Jesus gehöre ich gerne, aber nicht mehr zu der Kirche, die sich anmaßt, sein Instrument und Werkzeug (Sakrament) zu sein.
Meine eigene positive Wahrnehmung in dieser Krise ist, dass die Kirchengebäude zwar leer stehen (das Bistum Essen trennt sich von fast jedem zweiten Kirchgebäude), aber die Kirche vielfach in den Seelen erwacht, wie der Priester Romano Guardini schon vor 100 Jahren geschrieben hatte.6 Da beobachte ich keine Massenbewegung, aber eine Bereitschaft, der eigenen Sehnsucht nach Vergemeinschaftung im religiösen Kontext neuen Raum zu geben.
Noch einmal Guardini: "Uns muss aufgehen: In dem Maß bin ich christliche Persönlichkeit, als ich Glied der Kirche bin, und die Kirche in mir lebendig ist. Spreche ich zu ihr, dann sage ich in einem ganz tiefen Verstande nicht ‚Du‘, sondern ‚Ich‘."7
Das hat für mich die gleiche Zielrichtung wie das vielzitierte Wort von Karl Rahner: "Der Fromme von morgen wird Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird gar nicht mehr sein."8 (Erschienen zehn Monate nach Abschluss des Vaticanum II - auch da war Kirche in Zeiten großer Unruhe.) Und Rahner bezieht diesen Satz nicht auf ein Anhängen an eine Institution, sondern auf eine Erfahrung, die ich mit Gott mache und die mein Leben tatsächlich verändert. Gott zutrauen, dass er/sie sich erfahren lässt. Gott liebt Resonanz.
So hat der Film "Das neue Evangelium" in mir eine große Resonanz ausgelöst. Kirche ist immer da, wo Menschen die Wahrheit ans Licht bringen und sich solidarisch mit den Ärmsten dieser Welt verbünden. Nicht als Schauspiel, sondern real präsent. Eben als Caritas.
Eine kleine Geschichte zum Schluss
Das Drama um den dänischen Fußballspieler Christian Eriksen, der nach einem Herzstill[1]stand auf dem Spielfeld wiederbelebt werden musste, überlagerte den Auftakt der Fußball-Europameisterschaft in diesem Jahr. Dramatische Minuten auf dem Spielfeld. "Er war schon weg. Wir haben ihn zurückgeholt", wird der Mannschaftsarzt auf der Pressekonferenz sagen. Irgendwann im Stadion beginnen die finnischen Fans zu rufen: "Christiaaan", und die Dänen antworten im Chor mit: "Eriksen!" Wieder und wieder.
Diese Verbrüderung in Sorge berührt mein Herz. Teamgeist, Mitgefühl und Liebe. Von denen bin ich gerne einer.
Anmerkungen
1. Glaube, Liebe, Hoffnung. Was würde Jesus heute tun? Interview mit Yves Sagnet. In: SZ-Magazin, 4. Dezember 2020.
2. Bibelübersetzung von Kammermayer, A.: Das Neue Testament. Eine Übersetzung, die unsere Sprache spricht. München: Don Bosco, 2012.
3. Rosa, H.: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp, 2019.
4. taz 25-04-21; www.taz.de/Soziologe-Hartmut-Rosa-im-Gespraech/!5763329
5. Steindl-Rast, D.: Credo. Freiburg: Herder, 2015, S. 11.
6. Guardini, R.: Vom Sinn der Kirche. Mainz: Matthias Grünewald Verlag, 1922.
7. Ebd.
8. Rahner, K.: Frömmigkeit früher und heute. In: Rahner, K.: Zur Theologie des geistlichen Lebens. Einsiedeln u. a.: Benziger-Verlag, 1966 (Schriften zur Theologie VII), S. 21-23.
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