Behindertenhilfe: Aufarbeitung am Anfang
Am 30. September 2021 hat die Forschungsgruppe um Professor Heiner Fangerau der Stiftung "Anerkennung und Hilfe" ihren Bericht übergeben. Darin werden Leid- und Unrechtserfahrungen von Menschen in Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie dargestellt und untersucht. Auf 837 lesenswerten Seiten werden 17 Einrichtungen exemplarisch für die vielen Einrichtungen in Deutschland innerhalb des Untersuchungszeitraums betrachtet. Einen Bericht zur Arbeit der Stiftung stellt er nicht dar.
Der Bericht ist gewiss keine leichte Lektüre, weniger wegen des Umfangs, sondern vor allem wegen der Thematik. Denn er beschreibt eindrücklich und klar, welch erschreckende Gewalterfahrungen junge Menschen in Heimen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie erlitten haben. In bedrückender Weise gilt dies gleichermaßen für Einrichtungen in beiden deutschen Staaten sowie für solche in öffentlicher, evangelischer und katholischer Trägerschaft. Denn auch katholische Einrichtungen und Verantwortliche haben damals ihren christlichen Auftrag nicht erfüllt.
Das Leid und das Unrecht können nicht ungeschehen gemacht werden. Aber die Stiftung will mit diesem Forschungsbericht und ihren anderen Säulen - individuellen Gesprächen und finanziellen Anerkennungsleistungen - einen wirkungsvollen Beitrag zur Anerkennung und Aufarbeitung des erfahrenen Leids der Betroffenen leisten. Diese mussten lange dafür kämpfen, dass ihnen zugehört und geglaubt wurde.
Die Betroffenen und ihre Leiderfahrungen nun erneut ins Blickfeld zu rücken ist das erste, wichtige Verdienst dieses Berichts. Gleichzeitig kann er dazu dienen, aus diesen dunklen Kapiteln der Heimgeschichte zu lernen und das Bewusstsein für heutige und künftige Präventionsbemühungen zu schärfen. Auch wenn sich vieles in der Behindertenhilfe und der Psychiatrie in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert und verbessert hat, ist dies eine bleibende Aufgabe aller Institutionen, in deren Obhut Menschen sich begeben oder an die sie übergeben werden.
Die Verfasser benennen an einigen Stellen noch tiefer- und weitergehende Forschungsmöglichkeiten, denen aufgrund des bewusst an der Stiftung orientierten Zuschnitts der Studie dieses Mal nicht nachgegangen wurde. In verschiedenen Bereichen steht die wissenschaftliche Aufarbeitung des Leids und Unrechts vergangener Jahrzehnte noch am Anfang. Dieser Forschungsbericht zeigt, dass sie nötig und wie sie möglich ist. Die Chance sollte ergriffen werden.