Weibliche Genitalbeschneidung aus Sicht betroffener Frauen
Aufgrund der weltweit zunehmenden Migration ist das Phänomen weiblicher Genitalbeschneidung auch in Europa gesellschaftlich relevant geworden.1 Studien zufolge2 sollte die Arbeit derjenigen Organisationen, die in Deutschland versuchen, eingewanderte Mädchen vor diesem Eingriff zu schützen und betroffene Frauen im Umgang mit den Konsequenzen des Eingriffs zu unterstützen, an die Bedürfnisse der Betroffenen angepasst werden. Hierzu sind die Sichtweise der Betroffenen und ihre Bedürfnisse im Umgang mit weiblicher Genitalbeschneidung wegweisend.
Dieser Beitrag zielt darauf ab, die Perspektive derjenigen sichtbar machen, die von weiblicher Genitalbeschneidung betroffen sind. Besonderer Fokus liegt dabei auf neu in Deutschland ankommenden Mädchen und Frauen und der Tatsache, dass geschlechtsspezifische Asylgründe viel zu wenig beachtet werden.
Da aus der Perspektive betroffener Frauen sich viele von der häufig verwendeten Bezeichnung "Genitalverstümmelung" stigmatisiert und auf ihre Genitalien reduziert fühlen, wird hier der Begriff "weibliche Genitalbeschneidung" verwendet, während weibliche Genitalverstümmelung oder Female Genital Mutilation (FGM/C) nur im Kontext von Zitaten vorkommen.
Was ist weibliche Genitalbeschneidung?
Bei weiblicher Genitalbeschneidung handelt es sich um eine Form der Gewalt an Mädchen und Frauen, die in der "Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women" (CEDAW) explizit als Menschenrechtsverletzung benannt ist und von der Mehrzahl aller Länder als solche anerkannt wird. Trotz dieser weltweiten Anerkennung als Menschenrechtsverletzung und des gesetzlichen Verbotes der Praktik in nahezu allen, auch in Genitalbeschneidung praktizierenden Ländern werden in einigen Ländern Afrikas, der arabischen Welt, Asiens und des Mittleren Ostens Mädchen und Frauen beschnitten.3 Weltweit sind laut WHO-Schätzungen circa 200 Millionen Mädchen und Frauen beschnitten. Davon leben circa eine halbe Million in Europa und ungefähr 47.359 betroffene beziehungsweise bedrohte Mädchen und Frauen in Deutschland.4 Seit 2013 steht weibliche Genitalbeschneidung in Deutschland laut § 226 a StGB unter Strafe.
Bei weiblicher Genitalbeschneidung handelt es sich um eine sehr alte Praktik, deren Ursprung aufgrund von Wandmalereien und späteren Schriften der Antike in Ägypten vermutet wird.5 Von dort verbreitete sie sich mit leicht wandelnder gesellschaftlicher Bedeutung weltweit. Auch in Europa wurde die Beschneidung weiblicher Genitalien bis Mitte des 20. Jahrhunderts durchgeführt. Das 19. Jahrhundert wurde von sehr rigiden, besonderen Vorstellungen hinsichtlich weiblicher Sexualität geprägt, die insbesondere Masturbation und lesbische Liebe anprangerten. Die römisch-katholische Kirche empfahl in einem "Handbuch für Beichtväter" noch bis 1940 die "Verätzung oder Amputation der Klitoris gegen das Laster des Lesbiertums".6
Definition weiblicher Genitalbeschneidung
Die WHO definiert Genitalbeschneidung folgendermaßen: "Female genital mutilation (FGM/C) comprises all procedures that involve partial or total removal of the external female genitalia, or other injury to the female genital organs for non-medical reason."7 (Die weibliche Genitalverstümmelung (FGM/C) umfasst alle Verfahren, die eine teilweise oder vollständige Entfernung der äußeren weiblichen Genitalien oder andere Verletzungen der weiblichen Geschlechtsorgane aus nichtmedizinischen Gründen beinhalten.)
Sie unterscheidet dabei vier Beschneidungstypen, die von der teilweisen bis vollständigen Entfernung der Klitoris über die Beschneidung der inneren und/oder äußeren Labien bis zum nur eine kleine Öffnung aussparenden Zusammennähen der beschnittenen Labien oder eine Durchlöcherung oder Dehnung der Geschlechtsorgane reichen.
Die physischen Konsequenzen des Eingriffs sind mittlerweile detailliert durch Studien belegt, während umfassende Studien zu den psychischen Konsequenzen und den Auswirkungen auf das sexuelle Erleben und Empfinden betroffener Frauen fehlen. Die akuten, also unmittelbar während des Eingriffs auftretenden Konsequenzen, sind vielschichtig. Sie reichen neben dem psychischen Trauma von hohem Blutverlust über Schock, Infektionen, Abszesse, Sepsis, Tetanus, HIV, Verletzungen von Nachbarorganen und Frakturen (durch das Festhalten) bis zum Tod.8
Als chronische Konsequenzen leiden viele Frauen unter Problemen beim Wasserlassen und der Menstruation, rezidivierenden Harnwegsinfekten, Inkontinenz, starken Menstruationsbeschwerden mit aufsteigenden Infektionen, chronischen Entzündungen und Sterilität. Es kommt häufig zu Komplikationen des Narbengewebes, Neuropathien, Störungen der Sexualität (Schmerzen, Missempfindungen beim Geschlechtsverkehr), erschwerter Vaginaluntersuchung und Problemen unter der Geburt (verlängerter Geburtsverlauf, Wundinfektionen, erhöhte perinatale Mortalität, erhöhter Blutverlust). Aus der Erfahrung der psychischen Gewalt entwickelt sich häufig ein posttraumatisches Belastungssyndrom mit psychosomatischen Beschwerden, psychischen und Verhaltensstörungen.9
Soziokulturelle Hintergründe
In der Literatur werden zur Begründung der weiblichen Genitalbeschneidung die "Kultur" oder die "Forderung von Männern" angeführt.10 Hierbei handelt es sich aber vornehmlich um eine Beschreibung und Bewertung aus "westlicher", weißer, feministisch geprägter Perspektive. Dadurch wird weibliche Genitalbeschneidung teilweise als Beispiel für die Unterdrückung der Frau durch patriarchale Systeme instrumentalisiert. Diese Perspektive deckt sich jedoch nicht zwingend mit der aller betroffenen Frauen, da diese sich in der Regel weder als "Opfer" noch als "verstümmelt" betrachten.11 Um die bislang kaum berücksichtigte Sichtweise betroffener Frauen und Männer unmittelbar einzufangen, wurden 2016 im Rahmen einer Studie, die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugendliche in Auftrag gegeben wurde, qualitative Interviews mit Menschen geführt, die ursprünglich aus Ländern kommen, in denen weibliche Genitalbeschneidung praktiziert wird.
Die Frauen berichteten, dass die Beschneidung einer Frau Ehre, gesellschaftliche Zugehörigkeit und Anerkennung verschaffe, sie "rein mache" für die Heirat und Ehe und Werte wie Jungfräulichkeit, Ehre und Treue garantiere.12 Die Mehrzahl aller befragten Frauen war selbst beschnitten und litt unter den Folgen des Eingriffs. Hinsichtlich der Abschaffung von Beschneidung wünschten sich die meisten Interviewpartner(innen) mehr Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagnen und vor allem Zeit, in der vertrauensvolle Beziehungen für Gespräche wachsen können.
Geschlechtsspezifische Asylgründe
Frauen, die den Weg nach Deutschland finden, haben auf ihrer Flucht teils schwer traumatisierende Erfahrungen gemacht. Sie kommen häufig aus Kriegs- und Krisengebieten, in denen die Frauen (sexualisierter) Gewalt ausgesetzt waren, nahe Angehörige verloren haben, selbst Todesängste hatten und vieles mehr. Zudem tragen sie meist noch die Verantwortung für ihre mit auf der Flucht befindlichen Kinder, was sie zusätzlich vulnerabel macht. Laut einer Studie der Charité aus dem Jahr 2017 zeigen sich bei einigen der befragten Frauen Symptome eines posttraumatischen Belastungssyndroms.13
Geflüchtete, von Beschneidung bedrohte oder betroffene Mädchen und Frauen, die neu in Deutschland ankommen, sollten geschlechtsspezifische Asylgründe geltend machen können. Dies bedeutet, dass ihnen mehr Zeit eingeräumt werden muss, um hier ankommen zu dürfen, ohne direkt von Mitarbeitenden des Bundesamts für Migration befragt zu werden. Um ein solches Ankommen zu gewährleisten, benötigen Frauen dringend Schutzräume für Gespräche untereinander und den Austausch mit professionellen Mitarbeiterinnen, am besten einem multiprofessionellen Team. Sie brauchen in ihrem Leben unter stark belasteten Bedingungen mehr muttersprachliche Unterstützung, um an die für sie notwendigen Informationen zu gelangen. Auch wäre sehr wichtig, dass die Frauen schnellstmöglich kostenlose Deutschkurse bekommen - unabhängig von der Bleibeperspektive.
Weltweit sind laut WHO 200 Millionen Frauen beschnitten
Die Situation, Kinder im Heimatland zurückgelassen zu haben, schwächt Frauen und Familien enorm, weshalb es ein dringendes Anliegen der Frauen ist, ihre engsten Angehörigen schnellstmöglich nachzuholen. Besonders für im Heimatland verbliebene Mädchen wäre dies wichtig, da sie ohne ihre Mütter/Eltern dem Risiko, beschnitten zu werden, ausgesetzt sind. Mädchen und Frauen, die von weiblicher Genitalbeschneidung betroffen oder bedroht sind, brauchen Schutz, einen sicheren Aufenthalt und medizinische Versorgung durch geschulte Fachkräfte, was gleichfalls für schwangere Frauen gilt.
Die hier zitierten Studien sowie unsere langjährigen Erfahrungen mit geflüchteten Frauen und Minderjährigen zeigen, wie verletzlich und somit schutzbedürftig diese Personengruppen sind, was aus unserer Sicht die Abschiebung von geflüchteten Frauen und Kindern verbietet. Ziel sollte stattdessen sein, dass Frauen und Kindern nach teils jahrelanger lebensgefährlicher Flucht und Gewalterfahrungen ein Leben in Sicherheit ermöglicht wird.
Anmerkungen
1. Bundesamt für Statistik: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, 2018. Verfügbar unter: https://bit.ly/2xzgiKK , 4.2.20.
2. Asefaw, F.: Weibliche Genitalbeschneidung. Hintergründe, gesundheitliche Folgen und nachhaltige Prävention. Ulrike Helmer Verlag, 2008 und Ihring, I.: Weibliche Genitalbeschneidung im Kontext von Migration. Budrich Uni Press, 2015.
3.WHO: Eliminating female genital mutilation. Verfügbar unter: www.who.int/activities/eliminating-female-genitalmutilation, 14.2.20.
4. Netzwerk INTEGRA und Ramboll: Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland, 2016. Verfügbar unter: www.netzwerk-integra.de/startseite/ studie-fgm, 3.3.20.
5. Hulverscheidt, M.: Weibliche Genitalverstümmelung. Diskussion und Praxis in der Medizin während des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Mabuse-Verlag, 2002, S. 25 und Abb. 1.
6. Lightfoot-Klein, H.: Der Beschneidungsskandal. Orlanda Frauenverlag, Berlin, 2003, S. 34.
7. World Health Organisation: Female Genital Mutilation, 2020. Verfügbar unter: www.who.int/news-room/fact-sheets/ detail/female-genital-mutilation , 17.2.20.
8. Bundesärztekammer: Empfehlungen zum Umgang mit Patientinnen nach weiblicher Genitalverstümmelung, 2016. Verfügbar unter: www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/ user_upload/downloads/pdf-Ordner/Empfehlungen/2016-04_ Empfehlungen-zum-Umgang-mit-Patientinnen-nach-weiblicher-Genitalverstuemmelung.pdf, 17.2.20.
9. Ebd.
10. Schnüll, P.: Weibliche Genitalverstümmelung in Afrika. In: Terre des Femmes (Hrsg.): Schnitt in die Seele. MabuseVerlag, 2004 und Herrmann, C.: Das Recht auf Weiblichkeit. Hoffnung im Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung. Dietz Verlag, 2000.
11. Dirie, A.: Betroffene Frauen verdienen unseren Respekt und unsere Unterstützung. In: Terre des Femmes (Hrsg.): Schnitt in die Seele. Mabuse-Verlag, 2004.
12. Netzwerk INTEGRA und Ramboll: Eine empirische Studie zu Genitalverstümmelung in Deutschland, 2016 (s. o.).
13. Charité Berlin: Study on Female Refugees. https:// female-refugee-study.charite.de, 2017.
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