Caritas in Vielfalt will gelernt sein
Vielfalt ist da. Überall. Menschen unterscheiden sich in ihrer kulturellen und religiösen Zugehörigkeit, in Geschlecht, Lebensform, sexueller Identität, Alter, Weltanschauung, körperlichen Merkmalen, sozialem Status, Bildung und vielem mehr …
In einem Dialogprozess anlässlich seines hundertjährigen Bestehens im Jahr 2018 hat der Diözesan Caritasverband Rottenburg-Stuttgart daher "Leben in einer Vielfaltsgesellschaft" als eines seiner wichtigsten gesellschaftlichen Wirkungsfelder für die Zukunft beschrieben:
"In einer freiheitlich-demokratischen, rechtsstaatlichen Gesellschaft setzen wir uns für ein gelingendes Zusammenleben so ein, dass sich die Unterschiedlichkeit der Menschen bereichernd entfalten kann. Als Teil dieser Gesellschaft wollen wir Ausgrenzung von Menschen (Exklusion) verhindern und Inklusion fördern. Deshalb unterstützen und fördern wir entsprechende Haltungen, Prozesse und Strukturen."1
Doch wie kann das gehen? Wie wird die katholische Caritas vielfaltskompetent? Und was bedeutet dies für das Miteinander in der Dienstgemeinschaft? Vielfalt ist auch in der Caritas längst da, aber sie will auch gestaltet werden.
Ein mehrdimensionaler Lern- und Entwicklungsprozess
Von Anfang an war klar, dass ein rein arbeitsrechtlicher oder pragmatischer Zugang hier zu kurz greift. "Caritas in Vielfalt" ist mehr als die Frage, wer im Verband beschäftigt wird, und mehr als das Angebot von Fortbildungen. Viel entscheidender ist es, einen partizipativen Lernweg in der ganzen Organisation zu initiieren und zu begleiten. Eine Wechseldynamik von Top-down und Bottom-up-Prozess war hier kennzeichnend. So erscheint "Caritas in Vielfalt" etwa als Frage
- der Einstellung und Beschäftigung von Mitarbeiter(inne)n;
- der Neujustierung von Schlüsselprozessen, zum Beispiel Ausschreibung, Dienstvertrag, Verständnis von Spiritualität, die barrierefreie Gestaltung von Veranstaltungen;
- der Pflege einer wertschätzenden und vielfaltssensiblen Kultur des Miteinanders;
- eines organisationalen Lern- und Entwicklungsprozesses;
- des Aufbaus von Vielfaltskompetenzen (als einzelne(r) und als Organisation) …
Die neue Haltung wird offen und klar kommuniziert
Dabei war es wichtig, sich gemeinsam als Verband eine Haltung zu erarbeiten. In einem Netzwerk von caritativ tätigen Theolog(inn)en wurden die wesentlichen Orientierungen entwickelt. Die entscheidende Motivation für den kirchlichen Umgang mit Vielfalt muss das Evangelium selbst sein - und nicht Urteile des Europäischen Gerichtshofs, der Druck staatlicher Gerichte oder die Angst vor Klagen wegen Verstoßes gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Die Haltung des Verbandes wurde dann jeweils verschriftlicht, vom Aufsichtsgremium (Caritasrat) autorisiert und offen vom Vorstand kommuniziert, etwa durch Besuche des Caritasdirektors vor Ort oder bei Begrüßungstagen für neue Mitarbeitende. So erfahren diese ganz konkret: Vielfalt ist erwünscht und nicht nur "geduldet". Sie zu gestalten ist genuiner Ausdruck des christlichen Auftrags.
Auf dem Lernweg hat sich bewährt, jeweils mit der Energie ("Kairos") zu gehen, die an einem bestimmten Zeitpunkt in der Organisation entsteht:
Zu Beginn des Prozesses stand noch ganz die Beschäftigung mit weltanschaulicher und religiöser Vielfalt im Vordergrund.2 Aus dieser Befassung und den entsprechenden Diskussionen entwickelte sich folgerichtig die Frage nach dem Umgang mit Lebensformen und sexueller Identität: "Wenn ihr nicht auch offen über die Themen Wiederheirat und Homosexualität redet, bleibt ihr unglaubwürdig …" - so lautete immer wieder die kritische Aussage der Mitarbeitenden.
Die Novellierung der Grundordnung (GrO)3 war ein weiterer Anlass, sich damit zu befassen. Dabei lag es nahe, auch Loyalitätsaspekte wie Kirchenaustritt und extreme religiöse und politische Positionierung mit einzubeziehen. Wesentliche Grundhaltungen und Hinweise zur konkreten Umsetzung wurden daraufhin in einer Handreichung für Führungskräfte verschriftlicht.4 Speziell für die Kommunikation mit allen Mitarbeiter(inne)n hat der Verband auf dieser Grundlage zusätzlich eine Kurzfassung "Caritas in Vielfalt" entwickelt. Sie gibt in leicht verständlicher Sprache Antworten auf Fragen, die immer wieder gestellt werden. Dies ist nicht nur für die Mitarbeitenden von Belang, sondern auch für die Kommunikation nach außen.5 Caritas in Vielfalt - was heißt das jetzt konkret? In Vielfalt zusammenzuarbeiten führt in einem weiteren Schritt wie selbstverständlich zu der Frage, was die Mitarbeiterschaft verbindet: Was sind die Werte der Caritas, für die sie in der Gesellschaft einstehen will? Auf was achten die Verantwortlichen jetzt in Bewerbungsgesprächen?
Wer gut mit Vielfalt umgehen will, braucht einen eigenen Standpunkt und die Fähigkeit, über Wertefragen miteinander ins Gespräch zu kommen. Hier entstand sozusagen der nächste "Energiepunkt" des verbandlichen Lernweges. Im Jahr 2016 wurde deshalb in der Geschäftsstelle und den örtlichen Gliederungen des Verbandes ein Prozess mit dem Titel "WERTvolle Caritas" initiiert: Rund 100 Mitarbeiter(innen) und Führungskräfte haben sich darüber ausgetauscht, welche Werte ihnen für ihre eigene Arbeit wichtig sind: Getragen vom Handeln und der Botschaft Jesu treten sie als Caritas ein für Menschenliebe und Gerechtigkeit: offen - anstößig und professionell. So lautet kurz zusammengefasst das Ergebnis dieses Wertedialogs.6 Wichtige Haltungen, für die der Caritasverband stehen will, sind zum Beispiel7:
- Religiöse und weltanschauliche Vielfalt sind als positive Stärke des Verbandes anzusehen. Daher ist es möglich, Menschen mit anderer Religionszugehörigkeit je nach Aufgabe und Funktion einzustellen. Entscheidend ist, ob die Mitarbeitenden die Werte und Ziele der Caritas mittragen und den kirchlich-religiösen Charakter der Caritas respektieren. Da die Führungskräfte in der Geschäftsstelle und den regionalen Gliederungen für die christliche Prägung der jeweiligen Organisationseinheiten verantwortlich sind, ist hier in der Regel die Mitgliedschaft in der katholischen beziehungsweise in einer christlichen Kirche wünschenswert.
- Wiederverheiratete geschiedene und homosexuelle Mitarbeiter(innen) gehören selbstverständlich zur Dienstgemeinschaft. Eine Haltung des Respekts und des Vertrauens in die persönliche Lebensführung ist leitend. Im Gespräch mit den Mitarbeiter(inne)n wurde jedoch deutlich: Die Sorge um arbeitsrechtliche Konsequenzen und die Erfahrung fehlender Wertschätzung haben bei vielen tiefe Spuren hinterlassen. Der Verband hat gelernt, hier als Organisation nicht bruchlos zum Ansatz einer Caritas in Vielfalt übergehen zu können. Es gilt, zuerst zu dieser Geschichte und dieser Schuld zu stehen und dies auch offen auszusprechen. Das versteht der Verband als eine wichtige Etappe seines Lernwegs.
- Zugleich darf Vielfalt nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. So braucht zum Beispiel die Situation des Kirchenaustritts eine sorgfältige Abwägung der Einzelfallumstände. Es steht außer Frage: Ein Kirchenaustritt ist eine Distanzierung von Kirche. Caritas als Teil der Kirche steht daher vor der Herausforderung, zum einen die vielschichtigen Gründe für einen Kirchenaustritt angemessen zu berücksichtigen und zugleich die Loyalität zum kirchlichen Charakter der Einrichtung sicherzustellen. Im Bewerbungsverfahren fällt eine Entscheidung immer nach persönlichem Gespräch mit der jeweiligen Führungskraft in Absprache mit dem Vorstand. In der Handreichung "Caritas in Vielfalt" sind entsprechende Orientierungen für das Gespräch und die Entscheidung benannt. Gegebenenfalls gibt es ein zusätzliches Gespräch mit dem Vorstand selbst. Einen Wiedereintritt als Bedingung der Anstellung zu verlangen lehnt der Caritasverband hingegen ab. Es gehört zum Selbstverständnis, hier die Gewissensentscheidung des Einzelnen zu achten.
Theologische Orientierung für die Gestaltung einer Caritas in Vielfalt
Gottes Liebe teilt nicht nach Gruppenzugehörigkeiten, Taufscheinen und Identitätsmerkmalen ein. Sie gilt allen Menschen. Diese Liebe ohne Grenzen und Bedingungen für möglichst viele Menschen erfahrbar zu machen - das macht die Identität und Glaubwürdigkeit von Caritas aus. Leitend ist die Überzeugung, dass Menschen in ihren unterschiedlichen Religionen, Weltanschauungen, Lebensformen oder sexuellen Identitäten Zeug(inn)en für diese Liebe Gottes sein können. Was die Dienstgemeinschaft in aller Vielfalt verbindet, ist das gemeinsame Handeln im Sinne des Evangeliums. Auf dieser Basis ergibt sich ein institutionelles Loyalitätsverständnis:
Entscheidend ist die Bereitschaft der Mitarbeiter(innen), die Werte und Ziele des Caritasverbandes zu teilen und den kirchlich-religiösen Charakter der Caritas respektieren. Die Verantwortung für die christliche Prägung der Organisation liegt zuallererst bei der Leitung beziehungsweise beim Träger.
"Ich bin stolz, bei der Caritas zu arbeiten"
Mitarbeiter(innen) melden immer wieder zurück, wie stolz es sie macht, bei einer Caritas zu arbeiten, die so bewusst und offen mit dem Thema Vielfalt in der Dienstgemeinschaft umgeht. Der Prozess trägt dazu bei, dass sich alle in ihren jeweiligen Lebenssituationen und religiösen Prägungen willkommen und anerkannt fühlen. Gerade diese Öffnung führt zu einer tieferen Identifikation mit Caritas als kirchlicher Arbeitgeberin und befördert die Bereitschaft, sich mit spirituellen und ethischen Fragen auseinanderzusetzen. Eine klar kommunizierte Haltung schafft Sprach- und Handlungssicherheit und ermöglicht auch eine ganz andere Kommunikation nach außen (zum Beispiel zu Partnern in der Kommune oder anderen Trägern): Führungskräfte und Mitarbeitende können zeigen, dass Caritas professionell mit dem Thema umgeht und sie nicht nur ihre persönliche Meinung äußern.
Der Weg geht weiter …
Aktuell liegt der Akzent auf dem verstärkten Aufbau von Vielfaltskompetenzen. Der sogenannte Anti-Bias-Ansatz erscheint aus Sicht des Verbandes dazu besonders geeignet. "Bias" kann mit "Schieflage" beziehungsweise "Voreingenommenheit" übersetzt werden. Es ist Anliegen dieses Ansatzes, für Prozesse der Diskriminierung, der Vorurteilsbildung und der eigenen Verstrickung in Machtasymmetrien zu sensibilisieren und entsprechend anders zu handeln.
Aus alldem wird klar: Es braucht in der Organisation eine Kultur, in der Räume des Austauschs zu Fragen von Vielfalt, Menschenbild, Spiritualität und eigenen Werthaltungen im Alltag eröffnet und als selbstverständliche Dimension der Fachlichkeit angesehen werden. So wächst eine Kultur der Wertschätzung und des Vertrauens. Und so wird die christliche Identität von Caritas lebendig.
Anmerkungen
1. Charta 28 des DiCV Rottenburg-Stuttgart; siehe www.caritas-rottenburg-stuttgart.de/wer-wir-sind/mit-100-indie-zukunft/caritas-28/caritasachtundzwanzig
2. Vgl. Caritasverband Rottenburg-Stuttgart (Hrsg.): Vielfältig glauben - gemeinsam engagiert. Eine Handreichung für Leitungskräfte zum Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt in der Dienstgemeinschaft. Impulse Nr. 16, Neuauflage, Stuttgart, 2016.(www.caritas-rottenburg-stuttgart.de) siehe Download unter Kurzlink https://bit.ly/2uqGfdG).
3. Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse in der Fassung vom 27. April 2015 (kurz: GrO). Siehe https://www.caritas.de/glossare/grundordnung-des-kirchlichen-dienstes
4. Vgl. Caritas in Vielfalt. Handreichung zum Umgang mit der Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Stuttgart, 2019 (Download siehe Fußnote 2).
5. Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart: Kurzfassung "Caritas in Vielfalt". Stuttgart, 2018 (Download siehe Fußnote 2).
6. Zum Text der Wertekarten siehe www.caritas-rottenburg-stuttgart.de, Kurzlink: https://bit.ly/2NQuioD 7. Die Haltungen und Regelungen können hier nur verkürzt wiedergegeben werden. Vgl. die ausführlichere Darstellung in der Handreichung "Caritas in Vielfalt" (siehe Anm. 4).
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