Sucht-Selbsthilfe goes online
Im Zuge des Neustarts der Online-Beratung der Caritas wird der Kreuzbund als katholischer Sucht-Selbsthilfeverband sein analoges Angebot ab Herbst 2019 durch Online-Chats ergänzen. Aktuell kommen bundesweit etwa 22.000 Frauen und Männer (Suchtkranke und Angehörige) in circa 1200 Gruppen zusammen, um sich gegenseitig Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Die Gruppengespräche, von geschulten ehrenamtlichen Betroffenen moderiert, finden meist wöchentlich in fast allen Regionen Deutschlands statt. Gleichwohl ist klar, dass bestimmte Personengruppen nicht oder nur schlecht erreicht werden können: so beispielsweise Berufstätige, die nicht regelmäßig zur Gruppe kommen können, Jüngere, die nur temporär teilnehmen möchten, oder Menschen, die aus persönlichen Gründen keinen Face-to-Face-Kontakt wünschen.
So war es naheliegend, die ab dem Jahr 2019 vorgesehene Weiterentwicklung des Online-Beratungsangebots der Caritas zu nutzen, um Zugang zu diesen Personengruppen zu erhalten und den Kreuzbund mit der Online-Beratung der beruflichen Suchthilfe der Caritas zu vernetzen. Ratsuchende können so leichter zwischen Beratung und Selbsthilfe wechseln. Die Erfahrungen aus der bisherigen Online-Beratung der Caritas haben gezeigt:
- Es gibt keine Hinweise darauf, dass Anfragen ins Unendliche ansteigen.
- Face-to-Face-Beratungen gehen nicht zurück, wenn Online-Angebote etabliert sind.
- Frauen werden überdurchschnittlich gut erreicht.
- Die Quote der am besten Erreichten sind 20- bis 30-Jährige.
Die Chancen von Online-Selbsthilfe
Chats in der Online-Selbsthilfe fördern den Austausch unter Gleichbetroffenen mit dem Ziel, wechselseitige Unterstützung zu ermöglichen. Weitere Chancen können sein:
- Das Aufschreiben klärt eigene Probleme, Gefühle und Bedürfnisse.
- Der Zugang ist niedrigschwellig: Man kann anonym bleiben und ortsunabhängig Kontakt aufnehmen.
- Der Zugang zur Selbsthilfe wird erleichtert und ergänzt. Menschen können so früher erreicht werden (Frühintervention).
Eine wichtige Chance besteht darin, dass die Sucht-Selbsthilfe intelligent in das crossmediale Caritas-Angebot integriert wird, und das bei größtmöglicher Datensicherheit: Einerseits werden Ratsuchende mit Suchtproblemen je nach Kontext und Bedarf in die passenden beruflichen und nicht beruflichen Hilfeangebote geleitet. Andererseits erhalten die Gruppenmitglieder des Kreuzbunds direkten Zugriff auf das gesamte Beratungsspektrum der Caritas – beispielsweise über Verlinkungen auf den Webseiten. Über ein entsprechendes „Wording“ soll jederzeit verdeutlicht werden, in welchem digitalen Beratungs- oder Selbsthilferaum sich die Ratsuchenden gerade aufhalten.
Studienergebnisse zeigten, dass virtuelle Kommunikation von denjenigen, die sich an einer solchen beteiligen, als wertvoll und dem Austausch von Angesicht zu Angesicht ebenbürtig empfunden wird. Online geschlossene Kontakte werden nicht selten ins reale Leben überführt.
Weiterhin gibt es keine Hinweise darauf, dass virtuelle Selbsthilfe für herkömmliche Selbsthilfegruppen eine „Bedrohung“ im Sinne eines Mitgliederschwunds darstellt. Fast zwei Drittel der Nutzer(innen), die eine Face-to-Face-Gruppe kannten, aber nicht besuchten, gaben als Grund an, dass sie durch die virtuelle Selbsthilfe alles, was sie an Unterstützung brauchten, bekämen. Andere häufig genannte Gründe verweisen auf subjektiv empfundene Nachteile der Gruppe vor Ort: Diese sei zeitlich festgelegt, oft nicht anonym und bringe das mit sich, was andere als wichtigen Vorteil schätzen, nämlich Gruppenatmosphäre und Gruppendynamik. Entscheidend ist, die unterschiedlichen Bedürfnisse und Wünsche von Hilfesuchenden anzuerkennen. Jede und jeder soll das Unterstützungsangebot erhalten, das für sie und ihn subjektiv am besten geeignet ist. Letztlich werden Menschen das für sie passende Setting ohnehin selbst auswählen (und wenn wir es nicht anbieten, macht es ein anderer …).
Neben Befürchtungen, die Daten virtueller Kommunikation seien nicht sicher (genug), wird besonders ein starkes Argument gegen Online-Selbsthilfegruppen geäußert: „Das Internet kann mich nicht in den Arm nehmen.“ Gerade in der Face-to-Face-Begegnung geschieht diese direkte emotionale Zuwendung immer wieder – und gerade sie ist eine der großen Stärken analoger Selbsthilfe. Dies bleibt anzuerkennen und ist nicht zu verwässern.
Kritik an der virtuellen Beratung
Aber auch Gefahren durch Cybermobbing oder Ähnliches werden kritisch beurteilt; allerdings scheint dieses Risiko – schenkt man den Erfahrungen aus der Online-Beratung Glauben – eher gering zu sein. Ebenfalls ernst zu nehmen sind Hinweise auf die Suchtgefahr des Mediums selbst. Gleichwohl stellen Online-Chats unter Umständen die einzige Möglichkeit dar, Menschen mit problematischem Computer- oder Internetgebrauch überhaupt zu erreichen.
Schließlich wird darauf verwiesen, dass die Reduzierung auf den schriftlichen Online-Austausch Betroffene und Ratsuchende mit geringen sprachlichen oder internet-technischen Fähigkeiten benachteiligt, vielleicht sogar ausgrenzt.
Die Haltung macht’s
Online-Angebote haben Grenzen und Risiken, zweifelsohne. Und sie stellen keinen Ersatz für Face-to-Face-Angebote dar. Aber sie sind heute eine unverzichtbare Ergänzung, um mehr Menschen zu erreichen und sie in der Selbsthilfe zu halten. Dabei geht es nicht um ein „Entweder-oder“, sondern um ein „Sowohl – als auch“.
Es braucht zunächst eine aufgeschlossene Haltung zur Digitalisierung, die sich nicht von Abwehr oder gar Angst leiten lässt. Die Angst, mit der Online-Sucht- Selbsthilfe könnte eine Konkurrenz zur analogen Selbsthilfe entstehen und diese ihre Bedeutung verlieren, ist letztlich unbegründet, ebenso die Angst, man sei den Herausforderungen nicht gewachsen. Vielmehr geht es um die Aufgabe und Überzeugung, das eigene Angebot kontinuierlich zu verbessern und zukunftsfähig zu machen.
Online­-Selbsthilfe ist der richtige Schritt
Mit der Herbstarbeitstagung des Kreuzbund-Bundesverbandes 2018 ist dies gelungen. Unter der Moderation von Daniela Ruf, Leiterin des Referates Gesundheit, Rehabilitation und Sucht beim Deutschen Caritasverband in Freiburg, diskutierten die ehrenamtlichen Vorstände der 27 Diözesanverbände teilweise kontrovers über digitale Formen der Kreuzbund-Selbsthilfe. Am Ende waren sich alle einig: Der Kreuzbund benötigt Online-Selbsthilfe unter dem Dach der Caritas, um als zukunftsfähiger Sucht-Selbsthilfeverband wahrgenommen zu werden. Er will an die neu entstehende Caritas-Plattform andocken, um so die Chancen der Vernetzung nutzen, die größtmögliche Datensicherheit gewährleisten und den Verband mit einem zeitgemäßen ergänzenden Angebot ausstatten zu können. Ermutigend war, dass sich bereits am Schluss der Tagung eine Handvoll ehrenamtlicher Moderator(inn)en für die Begleitung von Gruppenchats zur Verfügung gestellt und ihre Bereitschaft erklärt hat, sich dafür schulen zu lassen.
Weiterhin Mut machend ist, dass die Finanzierung eines solchen Auftritts, der nicht aus laufenden Haushaltsmitteln des Kreuzbunds zu stemmen ist, gesichert scheint: Im Rahmen der Projektförderung der Gesetzlichen Krankenversicherung auf der Grundlage von § 20 h SGB V hat die Deutsche Angestelltenkrankenkasse die Mitfinanzierung dieses für den Kreuzbund so wichtigen Projektes für 2019 in Aussicht gestellt. Bestandteile des Projektantrags sind sowohl die konzeptionelle Entwicklung, die Programmierung eines eigenen digitalen Raums mit eigenem „Wording“, Ausbildungen von kreuzbunderfahrenen Moderator(inn)en als auch die Beteiligung an der Governance-Struktur für die Zusammenarbeit auf Caritas-Ebene.
Digitale Technik verändert das Zusammenleben
Viel und oft wird derzeit mit mancherlei Ängsten besetzt über die sogenannte digitale Transformation gesprochen. Ein großes Wort: Transformation, Verwandlung. Es klingt mystisch. Veränderungen, die gerade passieren, sind nicht ganz greifbar. Der Begriff der Verwandlung macht ihre Tragweite treffend deutlich. Die digitale Technik und die sozialen Medien haben das Zusammenleben in den vergangenen Jahren in einer noch nie dagewesenen Geschwindigkeit verwandelt. Dieses Geschehen ist so tiefgreifend, dass es in alle Lebensbereiche hineinwirkt und Konsequenzen hat, die noch nicht vollends abzuschätzen sind.
Der Kreuzbund muss ein achtsames Augenmerk auf diese Entwicklungen haben – auf ihre Chancen, aber auch auf ihre Gefahren. Es muss jeder und jedem Betroffenen selbst überlassen bleiben, wie sehr sie oder er sich mit der eigenen (Krankheits-)Geschichte exponieren möchte. Gerade aus Datenschutzgründen obliegt dem Verband diese große Verantwortung – und das nicht erst seit Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverordnung. Zum anderen ist die Begegnung auf Augen höhe zwischen gleichermaßen Betroffenen das "Kerngeschäft" des Kreuzbunds.
Letzteres wird auch immer so bleiben. Doch birgt digitale Begegnung auch viele Chancen, die zu nutzen sind. Gerade weil Sucht nach wie vor schambesetzt ist, mag virtuelle Selbsthilfe es für manche Menschen leichter machen, den ersten Schritt zu tun.
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