Radikalisierung gefährdet den gesellschaftlichen Frieden
In den europäischen Gesellschaften mehren sich Anzeichen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt nachlässt, stattdessen Polarisierungen und Radikalisierung zunehmen. In einer Reihe von Fällen ist dies bereits mit Gewalttaten einhergegangen. Auch wenn in vielen Teilen der europäischen Gesellschaften die Zustimmung zu liberalen und weltoffenen Werten eher wächst, haben Umfang und Einfluss besonders lauter Gruppen mit antipluralistischen, autoritären und antidemokratischen Zielsetzungen in vielen Ländern deutlich zugenommen. So haben islamistische Gruppen in den letzten Jahren deutlichen Zulauf erhalten, einzelne in Europa aufgewachsene Personen haben sich an islamistisch inspirierten Anschlägen beteiligt. Spätestens seit 2015 haben zudem Strömungen auch aus dem rechten Spektrum deutlich an Gewicht gewonnen, wobei in Europa Parteien mit rechtskonservativer und rechtsradikaler Programmatik bereits längere Zeit zuvor durch Wahlen deutlich gestärkt worden waren. Nach 2015 sind zudem Angriffe auf Migrant(inn)en, Flüchtlingsunterkünfte und politisch Andersdenkende auch in den westlichen Demokratien angestiegen. Inzwischen ist zwar ein leichter Rückgang der Gesamtzahlen zu verzeichnen, dennoch hat auch Deutschland in den letzten Jahren eine Reihe schwerer Fälle politisch motivierter Gewalt erlebt. Hierzu zählen unter anderem die rechtsextremistisch motivierte Ermordung von neun Menschen in einem Münchener Einkaufszentrum im Juni 2016, der Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz im Dezember desselben Jahres durch einen Islamisten sowie die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019 oder der Angriff auf eine Synagoge und die Ermordung von zwei Menschen in Halle (Saale) im Oktober 2019 durch Rechtsextremisten.
Gewaltfrei Konflikte lösen ist nicht selbstverständlich
Extremistische Einstellungen und politische Gewalt waren nach 1945 nie verschwunden. Gerade rechtsextremistische Gewalt ist insbesondere für Angehörige gesellschaftlicher Minderheiten und viele engagierte Bürger(innen) eine vertraute Realität. Dennoch zeigt sich gegenwärtig ein Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion. Bedrohungen für den Frieden wurden lange Zeit praktisch ausschließlich außerhalb der Kernzone etablierter Demokratien verortet, während friedliche Beziehungen innerhalb dieser als weitgehend selbstverständlich vorausgesetzt wurden. In einer Zeit, in der illiberale und extremistische Akteure politisch an Macht gewinnen und den öffentlichen Diskurs entscheidend prägen, tritt nun wieder deutlicher hervor, dass das gewaltfreie Austragen von Konflikten innerhalb offener pluralistischer Gesellschaften trotz scheinbar eingeübter demokratischer Verfahren nicht selbstverständlich ist.
Für Staat und Gesellschaft gilt es, besonders bedrohte Gruppen und Personen zu schützen und Gewalt so gut wie möglich zu verhindern. Die langfristigen Gefährdungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die demokratische Politik liegen aber nicht allein in der direkten physischen Bedrohung durch die einzelnen Gewalttaten selbst. So schlimm jedes einzelne Opfer ist, gefährden solche Taten an sich noch nicht den gesellschaftlichen Frieden und den Bestand der staatlichen Ordnung. Egal ob terroristische und extremistische Gewalttäter(innen) Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe direkt angreifen oder scheinbar wahllos Zivilist(inn)en attackieren, senden sie durch ihre sichtbaren und oftmals symbolisch aufgeladenen Handlungen aber immer auch ein Signal an ein breites Publikum. Das Ziel kann die Delegitimierung einer staatlichen Ordnung sein, aber auch die Mobilisierung Gleichgesinnter, die Einschüchterung Andersdenkender oder die Spaltung von Gesellschaften, etwa durch das Schüren von Misstrauen zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Gewalt innerhalb politischer Auseinandersetzungen ist so stets eingebettet in einen Konfliktzusammenhang, dessen Teil auch die Staaten und Gesellschaften sind. Politische und mediale Reaktionen auf solche Taten laufen dabei stets Gefahr, diese Logik aufzunehmen und einen Aufschaukelungsprozess voranzutreiben. Gruppen, die antipluralistische, autoritäre und/oder antidemokratische Zielsetzungen verfolgen, können sich dann stärker Gehör verschaffen, verstärkt noch durch die sozialen Medien als Orte, an denen Hasskampagnen besonders einfach geschürt werden können.
Die Verhinderung von Gewalt und die Ermöglichung eines gewaltfreien Konfliktaustrags sind unter diesen Umständen eine dauerhafte, schwierige Aufgabe. Die Bewahrung des gesellschaftlichen Friedens ist voraussetzungsreich, die Ursachen politischer Gewalt sind vielgestaltig und wandlungsfähig. Sie werden in der Forschung nicht allein an sozialen und ökonomischen Bedingungen, sondern auch an individuellen Biografien oder Gruppenprozessen festgemacht. Hinzu kommen weitere mögliche Faktoren. Dazu gehören nicht nur extremistische Ideologien, sondern bei manchen Gewalttäter(inne)n auch die Suche nach Aufmerksamkeit, Anerkennung oder Abenteuer. Es besteht allerdings kein einfacher verallgemeinerbarer Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen solchen Faktoren und dem tatsächlichen Auftreten politischer Gewalt. In der Regel spielen die Faktoren auf unterschiedliche Weise zusammen. In der Rückschau lässt sich zwar oftmals ein Weg in die Gewalt rekonstruieren, dieser nimmt aber niemals einen vorgezeichneten Verlauf.
Möglichkeiten und Grenzen der Prävention
Die Ursachen für die Entstehung und Ausübung von Gewalt in politischen Auseinandersetzungen sind somit vielfältig. Dies macht es schwierig, einzelne Maßnahmen zu benennen, durch die sie verhindert werden kann. Demokratisch gewählte Regierungen und europäische Institutionen verfügen grundsätzlich über eine breite Palette von Möglichkeiten, den illiberalen Strömungen und politisch motivierten Gewalttaten entgegenzuwirken. Neben der notwendigen polizeilichen Ermittlungsarbeit und strafrechtlichen Verfolgung sowie der Erschwerung der Tatbegehung, etwa durch die Sicherung bestimmter öffentlicher Plätze, ist dabei die Verhinderung von Anschlägen durch geeignete Präventionsmaßnahmen von besonderer Bedeutung. Diese können an verschiedenen Ursachen und verschiedenen Phasen ansetzen. Grundsätzlich unterscheidet man primäre, sekundäre und tertiäre Prävention. Die primäre Prävention zielt darauf ab, den allgemeinen Entstehungsbedingungen von Extremismus und Gewalt entgegenzuwirken. Eine Antwort darauf wären dann umfassende Ansätze, die etwa Armutsbekämpfung, Bildung oder politische Beteiligung in den Mittelpunkt stellen. Es ist allerdings gar nicht ohne weiteres ersichtlich, welche allgemeinen Bedingungen geändert werden müssten, um bestimmte Personen zielsicher davon abzubringen, zur Gewalt zu greifen. Als primäre Prävention kann auch der breite Bereich der Vermittlung von Werten und einer gewaltfreien Lösung von Konflikten verstanden werden, etwa indem Schulen oder Träger der Jugendhilfe Jugendliche für Gefahren im Umgang mit den sozialen Medien sensibilisieren oder Hassreden im Internet durch kommunikative Gegenstrategien nicht unwidersprochen bleiben. Solche Bildungsaufgaben gehören allerdings zum Kern gesellschaftlichen Zusammenlebens und sollten als Wert an sich und nicht allein unter Präventionsgesichtspunkten betrachtet werden
Wenn es schon Probleme gibt ...
Bei der sekundären Prävention geht es um Maßnahmen, wenn bereits Problemsituationen erkennbar sind. Das können etwa die Vermittlung von Handlungsoptionen in konkreten Konfliktsituationen oder die Angehörigenberatung durch entsprechende Beratungsstellen sein. Dies erfordert aber Informationen über konkrete "Auffälligkeiten" sowie Zugang zu den be-
troffenen Personen und verlangt große Professionalität und Sensibilität. Maßnahmen und Programme in der tertiären Prävention richten sich an Individuen, die sich bereits im Prozess der Radikalisierung befinden oder die sich schon radikalisiert haben. Interventionen in diesem Stadium sollen den Weg in die Radikalisierung unterbrechen oder den Ausstieg aus extremistischen Gruppierungen unterstützen. Präventiven Charakter können aber auch solche polizeilichen und strafrechtlichen Maßnahmen haben, die bereits im Vorfeld gewalttätiger Handlungen ansetzen. Dies betrifft sowohl Maßnahmen gegen vermutete "Gefährder" als auch Maßnahmen, die alle Bürger(innen) erfassen, etwa durch die Überwachung der Kommunikation im Internet. Da dies mitunter tief in die Grundrechte von Menschen eingreifen kann, die bisher keine strafrechtlich relevanten Handlungen unternommen haben und dies vielleicht auch nie tun werden, kommt der Rechtsstaat hier aber schnell an Grenzen. Die
Auseinandersetzung mit Bewegungen und Diskursen, die die Entstehung von Gewalt befördern oder legitimieren können, kann in einer offenen Gesellschaft daher nicht nur mit den Mitteln des Strafrechts geführt werden.
Die Notwendigkeit demokratischer Politik in "unsicheren Zeiten"
Je nachdem, welche Strategien konkret Anwendung finden, können sie die in den westlichen Demokratien beobachtbaren Auflösungsprozesse noch verstärken. In einigen Staaten Europas sind Regierungen an der Macht, die selbst illiberalen Programmatiken folgen und sich hierbei Argumenten bedienen, die auf Abschottung, Renationalisierung und gesellschaftliche Restauration zielen. Sie verstärken bewusst die Unsicherheiten in der Bevölkerung und arbeiten liberalen Werten kalkuliert entgegen. Sie setzen auch repressive Mittel gegen missliebige gesellschaftliche Gruppen und politische Gegner ein. Staaten haben grundsätzlich die Aufgabe, ihre Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Auch für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft ist es wichtig, dass in der Bevölkerung ein Grundgefühl der Sicherheit und des Vertrauens herrscht. Die Erhöhung des "Sicherheitsgefühls" der Bevölkerung, etwa durch eine verstärkte Polizeipräsenz, kann daher durchaus legitim sein und Ängsten entgegenwirken. Sie kann allerdings nur bedingt als Legitimation für Maßnahmen gelten, die in zentrale Freiheitsrechte eingreifen.
Zwischen dem Ziel eines gesellschaftlichen Friedens, der weitgehende Freiheitsrechte für alle Menschen in einem Staat einschließt, und staatlichen Sicherheitsmaßnahmen in Reaktion auf Polarisierung und tatsächliche oder in der Zukunft vermutete Gewaltereignisse ergeben sich Spannungsverhältnisse. Sie lassen sich nur durch rechtsstaatliche Kontrollen und eine offene demokratische Debatte lösen. Politische Gewalt und Radikalisierung stellen ein ernstes politisches Problem dar, für das es zwar keine Pauschallösung gibt, das sich aber durch eine pragmatische, langfristige und kontextsensitive Strategie vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen und im Rahmen demokratischer und rechtsstaatlicher Vorgaben bearbeiten lässt.
Eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit
Als Lehre aus der Vergangenheit lässt sich mit Blick auf den gesellschaftlichen Frieden der Schluss ziehen, dass der Erhalt individueller Freiheitsrechte, Minderheitenschutz sowie Werte- und Interessenpluralismus die einzigen sachangemessenen Antworten auf die gegenwärtigen Entwicklungen darstellen. Die liberalen westlichen Demokratien sind zwar in eine Krise geraten, diese grundsätzlichen Erkenntnisse bleiben dennoch weiterhin gültig. Die Aufgabe besteht gerade heute darin, darüber nachzudenken, wie bedürfnisgerechte demokratische Ordnungen hergestellt und aufrechterhalten werden können. Dazu gehören auch Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Ein so verstandenes Programm ist angesichts der Zunahme illiberaler Bewegungen und gesellschaftlicher Polarisierungen sowie der beschriebenen staatlichen Reaktionen auf sie gegenwärtig nicht einfach umzusetzen, bleibt aber dennoch notwendig.
Kampagne "Sei gut, Mensch" – Gelebte Solidarität
Wie Nächstenliebe Gesellschaft gestalten kann
Alarmierende Ergebnisse
Weiter am Ball bleiben
Weiterhin Umsatzsteuerbefreiungen für Bildungsleistungen
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