Gute Teilhabeberatung braucht multidisziplinare Teams
Aktuell beschäftigt sich der Deutsche Bundestag mit dem Angehörigenentlastungs-Gesetz, einem Reparaturvorhaben im Nachklapp zum Bundesteilhabegesetz (BTHG), das seit Anfang 2017 in Kraft ist, mit dem hehren Anspruch, die selbstbestimmte Teilhabe behinderter Menschen durch ein Bündel an Maßnahmen wirtschaftlich und rechtlich zu stärken. Eine dieser Maßnahmen, gefasst in § 32, verspricht den Aufbau und die Finanzierung der sogenannten Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB). Davon gibt es in der Zwischenzeit nach stotterndem Beginn bundesweit circa 500 Stellen. Die Beratung erfolgt, bevor Leistungen beantragt werden, unabhängig von Leistungsträgern und -erbringern und auf Augenhöhe mit den Ratsuchenden. Sie ist idealerweise als Peerberatung organisiert, also für Betroffene durch Betroffene. Die ursprünglich im BTHG vorgesehene Befristung der EUTB bis Ende 2022 wird nun durch das Angehörigenentlastungs-Gesetz aufgehoben und zu einer dauerhaften bundesfinanzierten Leistung.
Dass Teilhabe-Beratung aktuell als Herzstück moderner Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie in aller Munde ist, hängt meiner Meinung nach mit drei Dynamiken zusammen:
- Erstens wurde der Zugang zu Unterstützungsleistungen verkompliziert: Der schon vor Inkrafttreten des BTHG nicht gerade barrierearme Weg von der vermuteten zur bestätigten Leistungsberechtigung und vom Bedarf über den dokumentierten Bedarf zur Leistungsfinanzierung ist – ­getriggert von guten Gründen – eine Kletterpartie über zwei, häufig drei bis vier Sozialgesetzbücher und Leistungsträger. Die „guten Gründe" sind hinlänglich kommuniziert. Den behinderungsbedingten Anspruch auf Teilhabe-Leistungen wollte der Bundesgesetzgeber als Reha-Leistung einkommensunabhängig stellen und löste ihn deshalb aus der Fürsorge heraus. Auch wenn die noble Absicht nicht in Gänze realisiert wurde – mit der schrittweisen Anhebung der Vermögens- und Verdienstfreigrenzen ist der Gesetzgeber auf halbem Weg –, ob unterwegs oder steckengeblieben, darüber wird gestritten. In der Konsequenz müssen sich nun allerdings die Leistungsberechtigten durch ein Gestrüpp von teilweise ineinander verschachtelten Leistungsanträgen schlagen, um am Ende gut unterstützt zu sein in ihren persönlichen Teilhabe-Anforderungen, in der erforderlichen pflegerischen Unterstützung sowie in existenzsichernden Leistungen mit angemessenem Wohnraum und den weiteren Hilfen zur Deckung des Lebensunterhaltes.
Höhere Mathematik ist gefordert
Welche Bedarfe man wann, wo und wie anmeldet, dafür benötigt der Betroffene reichlich Begleitung. Auch deshalb, weil die Abgrenzung und Zuordnung von Leistungsansprüchen zu Leistungsträgern selbst Topexpert(inn)en nur mäßig gelingt. Augenfällig wird das an den Schnittstellen von Teilhabe-Unterstützung und Pflege. Da ist höhere (Sozial-)Mathematik gefordert. Die Abgrenzung gelingt nicht mit einem Leistungskatalog, sondern nur unter personenbezogener Abwägung der den Leistungen beigeordneten Leistungszielen. Auch für die Wohnraumfinanzierung haben Leistungsberechtigte künftig neben dem einkommens- und vermögensabhängigen Eigenanteil den Grundsicherungsbescheid des örtlichen und eventuell einen ergänzenden Bescheid des überörtlichen Sozialhilfeträgers für Fachleistungen zu berücksichtigen. Da die Abstimmung der Leistungsträger nicht zu den Stärken zuständiger Behörden gehört, braucht es unabhängige Beratung. Das hat der Gesetzgeber mit dem vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales verantworteten EUTB-Projekt erkannt.
- Ein zweiter Motor für die wachsende Bedeutung von Beratung ist: Die Ratsuchenden von heute wollen nicht mehr an die Hand genommen werden von paternalistischen Wohltätern und geführt zu einem Ziel, mit dem Prädikat "anerkannt vernünftig". Sie wollen entscheidend vorkommen. Es geht um ihre Ziele und um ihre Wege. Es geht um höchst subjektive Sehweisen, Prioritäten, Entscheidungen. Die Empowerment-Bewegung hat kraftvoll zu Protokoll gegeben: "Nichts über uns ohne uns." Im Mittelpunkt steht die eigensinnige Person mit ihren vielfältigen partizipativen Wünschen für ein sozial eingebundenes Leben. Wichtig dabei ist: Behinderung und chronisch psychische Erkrankung machen - eigentlich eine Binsenweisheit - abhängig, abhängig von Hilfe und damit zwangsläufig von der richtigen Kooperation mit den Helfer(inne)n. Darin steckt, das lehrt die Geschichte der Behindertenhilfe und Psychiatrie, eine hohe Anfälligkeit für Verobjektivierung und Missbrauch. Dagegen steht das Konzept der assistierten Freiheit1, ein Orientierungsrahmen, der Selbstbestimmung fordert und fördert und der Abhängigkeiten unter die Kontrolle der Assistenznehmer bringen will. Gemeint ist ein sehr grundsätzlicher haltungsbezogener Paradigmenwechsel. An die Stelle von Wohltätigkeit tritt die Beachtung fundamentaler, heißt unveräußerlicher Menschenrechte. An die Stelle von Mildtätigkeit und Barmherzigkeit tritt der Anspruch, gesellschaftliche Solidaritätspflichten einzuklagen.
Der Ratsuchende als Experte in eigener Sache
Für das Beratungsthema hat das zwei Konsequenzen. Zum einen wird von den professionellen Berater(inne)n eine menschenrechtsbewegte Grundhaltung erwartet, die etwa das Recht der Betroffenen auf Eigensinn zur Geltung bringt, sich in den Dienst des persönlich Gewünschten stellt. Zum anderen ist Abschied zu nehmen von einem veralteten Expertenbegriff, der nur qua Studium und Erfahrung dem Profi zugeordnet ist. Zu ergänzen ist der Ratsuchende als Experte in eigener Sache und - für das Thema besonders wichtig - der Einbezug von ausgebildeten Berater(inne)n mit Betroffenen-Hintergrund. Daraus ergibt sich ein Dreiklang aus wissenschaftlich fundierter und praxisorientierter Beratungskunst mit Ich-gestärkten Ratsuchenden und Beratungsprofis, die gelernt haben, ihr durch persönliche Erfahrung erworbenes Wissen und Fühlen mit Gewinn für den Ratsuchenden einzubringen.
- Eine dritte Dynamik, eher selten diskutiert und doch eminent wichtig, macht Beratung mehr denn je zu einem systemrelevanten und spannungsreichen Prozess: Es verändern sich die Rolle und Grundhaltung der Beratungsprofis und die spezifische Fachlichkeit des professionellen Beratungsprozesses. Beratung ist eine systemische Aufgabe. Sie erschöpft sich - was schon schwierig genug ist - nicht in der kompetenten Navigation durch die jeweils relevanten Sozialgesetzbücher. Sie nimmt systemisch in den Blick:
◆ die aktuelle Lebenssituation des Ratsuchenden;
◆ seine kurz-, mittel- und langfristigen Lebensperspektiven;
◆ was Dritte mit ihr/ihm vorhaben (zum Beispiel Eltern und Angehörige);
◆ das regionale System der Unterstützungsangebote,
◆ die persönlichen Barrieren und Brücken auf dem Weg zur Teilhabeleistung.
Beratung in diesem Sinn ist multiperspektivisch. Zugang etwa zur Perspektive des Ratsuchenden zu bekommen, kann im Kontext von Schwerst- und Mehrfachbehinderung ein aufwendiges Unterfangen sein. Hilfreich in diesem Bemühen ist:
- konsequent einfache Sprache zu verwenden, nicht nur in Flyern der Beratungsstellen;
- dort, wo auch einfache Sprache an ihre Grenzen stößt, die Methodik der Unterstützten Kommunikation (UK) zu nutzen;
- die Möglichkeit, viel Zeit und Geduld in die Kommunikation zu investieren, mit dem Ziel, den verbarrikadierten Verstehens-Zugang zur Lebenswelt von Menschen mit komplexen Mehrfachbehinderungen in Ansätzen, manchmal auch intensiv zu gestalten.
Auch der Zugang zum Unterstützer(innen)kreis des Ratsuchenden, zu Eltern und Angehörigen, zu Mitarbeitenden im System der Wohnhilfen oder des Arbeitsplatzes, zum Freundeskreis ist komplex. Oft öffnen sich hier stark divergente Interessenlagen mit hohem Einfluss auf die Lebensgestaltung des Ratsuchenden. Dabei geht es nicht nur um ein sachbezogenes Abwägen. Maßgeblich sind Emotionen: Angst, Abenteuerlust, Sicherheitsbedürfnisse, Sorge, Eigensinn, Mut und Mutlosigkeit. Ein ganz eigenes ebenso herausforderndes Unterfangen ist die Beratung von Klient(inn)en mit psychischer Erkrankung oder Behinderung. Beispielhaft sei das Beratungsgeschehen unter den Bedingungen einer floriden psychischen Störung genannt,
die nicht selten mit erheblichen Irritationen, Kommunikationsdissonanzen und situativen Abbrüchen einhergeht. Um hier sinnvolle Beratungsreichweiten zu finden, um wahrgenommene Selbst- oder Fremdgefährdungen gut einschätzen zu können, sind Berater(innen) auf ein hohes psychiatriefachliches Niveau ebenso angewiesen wie auf die Erfahrung mit sich krisenhaft zuspitzenden Situationen. Gerade weil die EUTBs unter dem Motto "Eine (Beratungsstelle) für alle" stehen, ergeben sich hier erhebliche Vernetzungs- und Differenzierungserfordernisse.
Vorläufiges Schlussplädoyer
Der Gesetzgeber hat gut daran getan, die Beratung der Menschen mit Behinderung als gesetzlich hinterlegten Anspruch bundesweit zu verankern. Durch die geforderte Beteiligung von Betroffenen wird die bisherige Konstruktion "Nicht betroffene Profis beraten betroffene Laien" nachhaltig irritiert und im besten Sinne bereichert durch ein spezifisches Wissen ausgebildeter Betroffener. So manche Diskussion über angemessene Beratungssettings driftet ab nach dem Muster: "Nur die Peerberatung ist gute Beratung!" Es wird damit die Betroffenenszene von wenigen regionalen Ausnahmen abgesehen massiv überfordert. Wer das leugnet, hat vermutlich kein großes Interesse an kompetenter Beratungsleistung. Ideal ist deshalb nicht das Peer-Modell "stand alone", sondern die Integration von Betroffenen- und Fachperspektive in einem multidisziplinären Team. Es wäre wünschenswert, wenn die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales der EUTB-Arbeit beigestellte Wirkungsforschung dazu bald Ergebnisse liefern könnte. In Neuss wurde ein solches Team gebildet und erste gute Erfahrungen wurden gesammelt.
Anmerkung
1. Siehe Graumann: Assistierte Freiheit. Von einer Behindertenpolitik der Wohltätigkeit zu einer Politik der Menschenrechte. Campusverlag, 2011.
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