Glaubwürdige Anwaltschaft macht die Caritas stark
Der Deutsche Caritasverband befindet sich in einem Reformprozess, der nicht zuletzt dadurch ausgelöst wird, dass die wirtschaftlichen Mittel zurückgehen, die dem Verband zur Verfügung stehen. Damit gewinnt die Frage an Bedeutung, wo der Verband seine Prioritäten setzt. Dieser Beitrag plädiert dafür, in dieser Situation die anwaltschaftliche Aufgabe stärker zu fokussieren und neu zu konturieren.
Der Staat finanziert soziale Leistungen
Der soziale Rechtsstaat hat die finanzielle Verantwortung für die Tätigkeit der Wohlfahrtspflege weitgehend übernommen. Das wirkt sich auf die Rolle der Wohlfahrtsverbände aus. Zugleich nimmt die politische Wirksamkeit der Selbstvertretung zu. Die politische Bedeutung der Wohlfahrtsverbände geht dagegen zurück.
Der Ausbau des Rechts der sozialen Leistungen hat zur Vollfinanzierung sozialer Leistungen nach dem Kostendeckungsprinzip geführt. Mit den Reformen des Leistungserbringungsrechts in den 1990er-Jahren hat der Gesetzgeber das Selbstkostendeckungsprinzip durch die prospektive Entgeltfinanzierung ersetzt. Auch der Vorrang der Träger der freien Wohlfahrtspflege, der eine faktische Monopolstellung gewesen war, wurde aufgegeben.
Ein großer Teil der sozialen Leistungen wurde in einen Markt überführt, in dem gemeinnützige Träger mit privatwirtschaftlichen Anbietern konkurrieren. Aus Menschen in Notlagen, denen Hilfe gewährt wurde, wurden leistungsberechtigte Personen, die zwischen unterschiedlichen Leistungserbringern wählen können und die als Vertragspartner der Leistungserbringer auch über vertragliche Ansprüche auf Leistungen gegen diese verfügen. Leistungsberechtigte wurden rechtlich von Objekten der Fürsorge zu Subjekten des Leistungsgeschehens. Dies war ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Realisierung des Selbstbestimmungsrechts von Menschen, die auf soziale Leistungen angewiesen sind, auch wenn die Praxis sich bis heute damit schwertut, die vertraglichen Beziehungen zu Klienten so zu gestalten, dass deren Rechtsansprüche gegen Leistungserbringer transparent und wirksam werden.
Politische Bedeutung der Caritas geht zurück
Von der herausragenden moralischen Autorität, über die die christlichen Kirchen in Deutschland vor wenigen Jahrzehnten noch verfügten, ist nicht mehr viel übrig. Eine aktuelle Befragung kommt zum Ergebnis, dass die Menschen in Deutschland das moralische Verhalten der katholischen Kirche auf einem Niveau mit Google und dem Axel-Springer-Verlag sehen.1 Im Ranking landet die katholische Kirche in Deutschland auf Platz 118. Die Caritas erreicht Platz 20 und wird damit zwar deutlich besser bewertet. Die große Diskrepanz zeigt jedoch, dass die kirchliche Verankerung der Caritas ihre politische Bedeutung nicht mehr so trägt wie vor 30 Jahren.
Unabhängig davon nimmt die politische Bedeutung der Selbstvertretung zu, während das politische Gewicht der freien Wohlfahrtspflege zurückgeht. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Menschen mit Behinderung. Ihre Selbstvertretung findet heute in der Politik Gehör. Die Legitimation politischer Vorhaben, die Menschen mit Behinderungen betreffen, kann nur noch gelingen, wenn die Interessenverbände der Betroffenen am politischen Prozess beteiligt werden.
„Ende der Veranstaltung"
Menschen in benachteiligten Lebenslagen werden sowohl im politischen Prozess als auch in der Ausgestaltung der Leistungen mehr und mehr als Subjekte ihrer Biografien anerkannt – auch wenn dabei große Unterschiede zu konstatieren sind. Menschen in Armut wird sehr viel weniger Autonomie zugestanden als zum Beispiel Menschen mit einer Körperbehinderung. Die Selbstbestimmungschancen von Ausländern hängen in hohem Maß vom Aufenthaltstitel ab.
Die Zeiten sind vorbei, in denen Menschen mit einer Behinderung in Anstalten untergebracht und
ihres Selbstbestimmungsrechts weitgehend beraubt wurden. Der Psychiatriehistoriker Klaus Dörner hat diesen Prozess, der längst auch die politische Bühne erreicht hat, das „Ende der Veranstaltung"2 genannt. Die freie Wohlfahrtspflege hat nicht nur ihr ökonomisches Monopol am Markt sozialer Dienstleistungen verloren, sondern auch das politische Monopol als Fürsprecher benachteiligter Gruppen.
Anwaltschaftlichkeit tut not
Die Mitglieder und Unternehmen, die dem Deutschen Caritasverband angehören, beschäftigen bundesweit mehr als 650.000 Menschen. Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Entwicklungen stellt sich die Frage, ob die Zeit vorüber ist, in der ein solcher Verband sich die anwaltschaftliche Vertretung der Interessen benachteiligter Gruppen auf die Fahnen schreiben sollte. Es scheint nahezuliegen, dass die Caritas sich darauf konzentriert, ihre Stellung am Markt sozialer Dienstleistungen zu verteidigen oder auszubauen. Eine solche Entwicklung wäre jedoch fatal.
Checks and Balances
Das System sozialer Dienstleistungen ist von Aushandlungsprozessen zwischen wohlfahrtsverbandlich verankerten Dienstleistern auf der einen und staatlichen Akteuren auf der anderen Seite geprägt. Dass beide Seiten gerne die Übermacht der jeweils anderen Seite beklagen, zeigt, dass das Sozialleistungssystem trotz vieler Unzulänglichkeiten von einer Balance geprägt ist. Daneben kommt in einigen Bereichen privatgewerblichen Anbietern eine gewisse Bedeutung zu. Das heutige System folgt dem Prinzip von Checks and Balances, das sich im sozialleistungsrechtlichen Dreiecksverhältnis und den zugehörigen Schiedsstellenverfahren konkretisiert. Die staatliche Seite akzeptiert dabei nicht nur ihre Finanzierungsverantwortung, sondern auch die besondere Rolle der Wohlfahrtsverbände – zum Beispiel hinsichtlich ihrer Beteiligung an politischen Prozessen, an Aushandlungsprozessen auf kommunaler Ebene oder an Schiedsstellenverfahren.
Das System der sozialen Dienstleistungen dient einerseits der Gesellschaft insgesamt, die ein essenzielles Interesse daran hat, Exklusionsprozesse einzuhegen und die Folgen von Benachteiligungen zu begrenzen. Andererseits dient es den betroffenen Menschen, die regelmäßig über unzureichende Ressourcen und nur geringe Marktmacht verfügen. Im Kern geht es um die politischste aller Fragen: um die soziale Frage. In diesem Rahmen kann ein Verlust der Balance nur zu einem etatistischen System führen, in dem soziale Dienstleistungen in ganz anderer Weise zu Verfügungsmasse politischer Interessen werden können, als das heute der Fall sein mag. Das kann weder im Interesse benachteiligter Gruppen noch im gesamtgesellschaftlichen Interesse und gleich gar nicht im Interesse der Caritas liegen.
Die Legitimität der besonderen Rolle der freien Wohlfahrtspflege ist konstitutiv für das heutige System von Checks and Balances. Sie würde jedoch erodieren, wenn die freie Wohlfahrtspflege sich auf ihre unternehmerische Rolle zurückzöge. Die Wahrnehmung der anwaltschaftlichen Aufgabe und die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung als Solidaritätsstifter sind die Grundlage der Legitimität der Ansprüche auf Deutungshoheit und politische Mitsprache. Aber die Zeiten sind endgültig vorbei, in denen die Inanspruchnahme einer anwaltschaftlichen Rolle alleine damit begründet werden konnte, dass die Caritas eine große Akteurin auf dem Markt sozialer Dienstleistungen ist. Heute wäre das, als präsentiere sich Apple als Anwalt seiner Kunden.
Selbstvertretung ist selektiv
Die Chancen zur Selbstvertretung sind ungleich verteilt. Menschen mit einer Körper- oder einer Sinnesbehinderung haben relativ gute Chancen, sich zu organisieren und ihre Interessen einzubringen. Kinder, die mit ihren Eltern oder ohne sie aus einem Kriegsgebiet geflüchtet sind und sich in einer Erstaufnahmeeinrichtung aufhalten, haben nicht die geringste Chance, sich zu organisieren und ihre Interessen einzubringen. Der Gewinn für die politische Kultur in Deutschland, der in der zunehmenden Akzeptanz der Selbstvertretung liegt, darf nicht den Blick darauf verstellen, dass die Stimmen, die jetzt hörbar geworden sind, nicht mehr – aber auch nicht weniger! – sind als Stimmen bestimmter Gruppen. Wenn die Selbstvertretung an die Stelle der anwaltschaftlichen Vertretung benachteiligter Interessen insgesamt tritt, dann muss das dazu führen, dass die Interessen derjenigen, die sich nicht selbst vertreten oder organisieren können, unsichtbar und politisch wirkungslos bleiben.
Glaubwürdige Anwaltschaftlichkeit
Ob es in Wohlfahrtsverbänden gelingt, glaubwürdig anwaltschaftlich für benachteiligte Gruppen einzutreten, hat entscheidenden Einfluss darauf, inwieweit ihnen auf Dauer besondere Bedeutung für die Ausgestaltung des sozialen Rechtsstaats zuerkannt werden wird. Es liegt daher im ureigensten Interesse der Caritas, diese Rolle überzeugend auszufüllen. Zugleich sind diejenigen, die ihre politische Vertretung aus unterschiedlichen Gründen nicht selbst organisieren können, darauf angewiesen, dass andere Akteure für sie eintreten. Sonst laufen sie Gefahr, im politischen Raum nicht wahrgenommen zu werden.
Anwaltschaftliche Vertretung der Interessen benachteiligter Gruppen ist nur dann politisch wirksam, wenn sie glaubwürdig ist. Doch Glaubwürdigkeit entscheidet nicht nur über den Erfolg der Lobbyarbeit. Auch die Legitimität des Anspruchs der Caritas auf Deutungshoheit und politisches Gewicht hängt von ihr ab.
Partizipation
Menschen, die Benachteiligungen ausgesetzt sind, als Subjekte ihrer Biografie anzuerkennen, heißt nichts anderes, als ihnen Definitionsmacht über ihre Interessen zurückzugeben. Anwaltschaftlichkeit heißt Interessenvertretung und setzt die Identifizierung von Interessen voraus. Die Interessen, für die die Caritas sich im Rahmen ihrer anwaltschaftlichen Rolle einsetzt, können nicht mehr aus einer Außenperspektive bestimmt werden. Die Betroffenen sind zu beteiligen. So einfach sich das fordern lässt, so schwer ist es umzusetzen. Denn die Gruppen, um die es hier geht, verfügen oft nicht über Strukturen, derer es bedarf, um Interessen für eine Gruppe zu artikulieren.
Partizipation braucht daher unterschiedliche Formate, die noch zu entwickeln sind. Mitunter mag teilnehmende Beobachtung durch unabhängige Dritte erforderlich sein. In anderen Bereichen kann es auf besondere sprachliche oder kulturelle Kompetenzen ankommen. Im ersten Schritt heißt das: Partizipation erfordert Kompetenzen. Um diese zu erzeugen, braucht es Ressourcen. Das ist in der gegenwärtigen Situation eine Herausforderung. Daher wird es entscheidend sein, die Entwicklung von Beteiligungsformaten, die eine glaubwürdige anwaltschaftliche ­Interessenwahrnehmung ermöglichen, als Chance für eine starke Caritas zu begreifen.
Unternehmens- versus Verbraucherinteressen
Auch wenn es unbequem ist: Die Interessen von sozialen Unternehmen und die Interessen ihrer Klienten mögen große Überschneidungen haben. Aber sie sind nun einmal nicht identisch. Unternehmen haben ein natürliches Interesse, unternehmerische Risiken auf ihre Kunden abzuwälzen. Kunden haben ein natürliches Interesse daran, dass die Verantwortung für unternehmerische Risiken bei den Unternehmen verbleibt.
Die Caritas ist Dienstleisterin, Interessenvertreterin benachteiligter Gruppen und gesellschaftliche Solidaritätsstifterin in einem. Sie kann diese drei Rollen glaubwürdig spielen, wenn sie die Konflikte, die sich daraus ergeben, nicht schamhaft unter den Teppich kehrt, sondern als strukturellen Vorteil begreift. Diesen Vorteil kann sie ausspielen, wenn sie die Interessen ihrer Unternehmen den Interessen ihrer Klientinnen und Klienten offen gegenüberstellt und damit Konvergenzen und Divergenzen gleichermaßen sichtbar macht.
Sie kann einen Beitrag dazu leisten, dass wir in einer Gesellschaft leben, zu der alle dazugehören. Um das politische Gewicht, das sie heute hat, auch in der Zukunft zu haben, muss sie sich weiterentwickeln.
Anmerkungen
1. Gemeinwohlatlas 2019: https://bit.ly/2KgWP53
2. Dörner, K.: Ende der Veranstaltung. Neumünster, 2015 (Erstauflage 1998).
Damit im Notfall Hilfe auch erreichbar ist
Die Patienten sind der Maßstab
Glaubwürdige Anwaltschaft macht die Caritas stark
Gute Teilhabeberatung braucht multidisziplinare Teams
Begleitet in Arbeit und Beruf
Fehlende Kurzzeitpflege-Plätze
Ordnungsgemäße Barmittelverwaltung überprüfen
Neue kirchliche Arbeitsrechtsordnung
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