Eine normale Kita – nur anders
Robert Koch’s Kinderoase, kurz: Kita RoKoKo, liegt gleich hinter dem Bahnhof im Stadtteil Aachen-Rothe Erde. In einfachen Wohnungen aus den späten 50er-Jahren leben hier besonders viele langzeitarbeitslose Menschen und sogenannte Bedarfsgemeinschaften. Fast 80 Prozent der Bewohner(innen) sprechen Deutsch nicht als Muttersprache. Fast alle Kinder aus diesem sogenannten Notwohngebiet besuchen für einige Zeit die Kita RoKoKo. Obwohl eigentlich als Übergang gedacht, gelingt nur wenigen Menschen der Umzug in ein anderes Viertel. Auch in Aachen hat sich die soziale Segregation durch den enormen Preisanstieg am Mietmarkt weiter verstärkt.
Im Eingangsbereich steht ein großes Aquarium, im Garten ein Bienenkorb. Auch Achatschnecken werden in der Kita fachgerecht versorgt. Und dann gibt es Paul und Jussi. Die beiden Labradore gehören eigentlich der Familie des Kitaleiters, aber irgendwie auch zum pädagogischen Personal. Denn manche Kinder fassen zuerst zu den Tieren Vertrauen und dann zu den Menschen. Vor allem, wenn die Kinder zu Hause kein Deutsch sprechen oder eine Fluchtgeschichte hinter sich haben. Die meisten Kindertageseinrichtungen verschließen ihre Türen außerhalb der Bring- und Abholzeiten - aus Sicherheitsgründen. In der Kita RoKoKo ist das nicht so. Den ganzen Tag über kommen Eltern in die Kita - um sich Hilfe beim Ausfüllen eines Formulars zu holen, im Winter, um sich kurz aufzuwärmen. Auch für Wohnungslose, die um die Ecke im Don-Bosco-Haus oder auf der Straße leben, sind die Türen offen. Auf einem Tisch im Windfang stehen Pappteller mit erkaltetem Mittagessen, abgedeckt mit Frischhaltefolie - zum Mitnehmen für Menschen aus dem Viertel.
Kinderkleidung wird umsonst abgegeben
"Wir sind eine normale Kita - nur anders", charakterisiert Michael Fegers seine Einrichtung. Seit 15 Jahren arbeitet er hier im Leitungsteam, seit 2011 als Leiter. "Anders" bedeutet: Die Fach- und Leitungskräfte kennen die alltägliche Lebenslage armutsbetroffener Familien und Kinder. Und sie richten ihre Arbeit danach aus. Dass in den Familien spätestens ab dem 20. eines Monats das Geld knapp wird, ist hier kein Geheimnis. In der Kita RoKoKo gibt es keine Flohmärkte, bei denen Kinderkleidung verkauft wird. Alle Kleiderspenden werden umsonst abgegeben, und auch sonst gilt "all inclusive": Bastelangebote, Ausflüge, Hygieneartikel wie Windeln oder Taschentücher, Schultütenbasteln. RoKoKo unterstützt die Familien mit Geschirr, Möbeln, Spielsachen und Haushaltsgegenständen - und auch mit Lebensmitteln. Jeder Tag beginnt mit einem Frühstück - zwei Bäckereien spenden dafür das Brot vom Vortag (s. auch neue caritas Heft 10/2018, S. 28 f.). Denn viele Kinder kommen hungrig in die Kinderoase.
RoKoKo bekommt viele Spenden - und sie tun auch viel dafür: Ein Newsletter informiert einen festen Spenderstamm über die Kita-Arbeit. Aus der monatlichen Kochaktion mit einigen Müttern ist ein Kochbuch entstanden. Öffentlichkeitsmaterial und Fundraising - für beides bleibt eigentlich keine Zeit - doch der Arbeitstag von Michael Fegers beginnt um sechs Uhr und endet lange nachdem das letzte Kind nach Hause gegangen ist.
Träger der Kita RoKoKo ist der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF). Aktuell werden 75 Kinder aus 23 Nationen in vier Gruppen im Alter ab zwei Jahren betreut. Die Kinderoase ist ein Familienzentrum, vereinigt unter ihrem Dach also verschiedene Angebote für Kinder und ihre Eltern: ein Elterncafé, interkulturelles Kochen, eine Eltern-Kinder-Gruppe für Kinder unter zwei Jahren. Die Musikschule kommt ins Haus, es gibt Sprachförderung und eine Motopädin. RoKoKo ist eine sogenannten Plus-Kita, nimmt also an einem Landesprogramm teil, mit dem NRW Personalkostenzuschüsse an Kindertageseinrichtungen vergibt, die einen überdurchschnittlichen Anteil an Kindern im SGB-II-Bezug betreuen (www.mkffi.nrw/pluskita). Neben dem hauptamtlichen Personal gibt es viele freiwillige Helfer(innen). Aber auch RoKoKo spürte den Fachkräftemangel: Erst kurzfristig zum neuen Kindergartenjahr konnten nach langer Suche drei offene Stellen besetzt werden.
Das Kita-Personal ist für die Eltern immer ansprechbar
Etwa die Hälfte der Familien im Wohngebiet hat mehr als drei Kinder. Die Kita-Mitarbeitenden sind also für viele Eltern und Kinder langjährige und vertraute Begleiter(innen). Wenn Eltern Post vom Jobcenter bekommen, wenn sie einen Folgeantrag auf Hartz IV stellen müssen oder einen Antrag für das Bildungs- und Teilhabepaket, kommen sie damit in die Kita. Was sich die dortigen Mitarbeiter(innen) dringend wünschen: mehr Personal und weniger Bürokratie. Alle sind überfordert von einem ausufernden Antrags(un-)wesen, das viele Eltern nicht bewältigen können und Kitas einen enormen Aufwand an Verwendungsnachweisen abverlangt. Jedes Mittagessen, jeder Ausflug müssen dokumentiert werden. Trotzdem ist das Kita-Personal für die Eltern immer ansprechbar. Diese Begleitung bricht ab, wenn die Kinder in die Grundschule kommen. Dabei wird sie mit dem Schuleintritt besonders wichtig: Elterngespräche, Hausaufgaben, ein ruhiger Platz zum Lernen und die Entscheidung über die weiterführende Schule - obwohl der formale Bildungserfolg als Schlüssel für den Weg aus der Armut gilt, fehlt es an den meisten Schulen an Begleitung für diejenigen Kinder und Eltern, die sie am dringendsten bräuchten.
RoKoKo leistet in zwei angemieteten Wohnungen auch eine qualifizierte Hausaufgaben- und Freizeitbetreuung mit zwei Erziehern und ehrenamtlich tätigen Student(inn)en für die Schulkinder der Robert-Koch-Straße. Doch das ist die Ausnahme, dem besonderen Charakter des Wohngebiets und der Bewohner(innen) geschuldet. Die meisten Grundschulen bieten lediglich Räume zum Hausaufgabenmachen und ehrenamtliche Helfer(innen). Den Bildungs- und Erziehungsnachteil armutsbetroffener Kinder können sie damit nicht ausgleichen. Seit Michael Fegers in der Kita arbeitet, haben es zwei Kinder aufs Gymnasium geschafft. Die Mutter eines Jungen verfügte über einen Förderschulabschluss und wenige gesunde Zähne. Ins Gymnasium zu gehen zu einem Elterngespräch, auf Augenhöhe mit dem Oberstudienrat - für sie undenkbar. Fegers hat den Jungen zum Gespräch begleitet. Ein Einzelfall. Ein Glücksfall, müsste man wohl sagen. Doch Glück ist nichts, worauf sich armutsbetroffene Kinder verlassen können. Und eine Gesellschaft, die ernsthaft Strategien zur Armutsprävention verfolgt, darf sich dabei nicht auf das außergewöhnliche Engagement einzelner Kita-Leitungen verlassen.
Damit die Kommunikation gut klappt
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