Die Teufelskreise sozialer Ungerechtigkeit durchbrechen
Die seit Jahren höchste Armuts- beziehungsweise Kinderarmutsquote in der BRD wurde 2016 gemessen. Sie lag bei 16,5 Prozent (13,4 Millionen) und wies einen Anstieg von 2015 auf 2016 um 0,6 auf 20,3 Prozent auf, das sind 2,8 Millionen aller Kinder. Besonders stark betroffen waren dabei Kinder aus Migrantenfamilien. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung1 wies darauf hin, dass inzwischen immer mehr Kinder dauerhaft in Armut leben. Den untersuchten Haushalten fehlen dabei durchschnittlich 7,3 von 23 wichtigen Gütern (unter anderem Waschmaschine, Kinobesuch, Urlaub, PC, trockene Wände, Freunde zum Essen einladen?…). In der Konsequenz schließt dauerhafte Armut von sozialen und kulturellen Aktivitäten aus. Ärmere Kinder haben nachweislich schlechtere Bildungschancen, die Möglichkeiten, ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Armut zu führen, werden deutlich eingeschränkt. Offenkundig verringern lange Armutsphasen vor allem Bildungschancen.
Erschöpfte Familien
Wer sich mit Benachteiligungen durch Armut beschäftigt, muss den Blick auf Kinder in familiären Situationen richten, die ich als "erschöpfte Familien" diskutiert habe. Es sind Menschen, die durch vielfältige Formen der Entmutigung, hervorgerufen durch eine höhere Verwundbarkeit, Verunsicherung, Statusverluste, Armut und dauerhafte Belastungen immer weniger in der Lage sind, ihre alltäglichen Verrichtungen eigenständig, sinnvoll und nachhaltig zu organisieren. Mit dieser Betrachtung entsteht vor allem eine Innensicht der Folgen von Prekarisierung, sozialen Verwundungen, Bedrohung und Erschöpfung, die das alltagskulturelle Verhalten in den Blick nehmen kann - ohne es moralisch zu verurteilen.
Die Phänomene sind nicht neu. Mit Begriffen wie "Multiproblemfamilien" oder "vielfach belastete Familien" werden sie in der sozialarbeiterischen und sozialpolitischen Literatur seit langem erörtert. Diese Begriffe werden aber deskriptiv verwendet und weisen auf kumulative Effekte sozialer Benachteiligung hin, insofern verbindet sich damit keine Diagnose oder ein Erklärungskontext, sondern nur eine Beschreibung. Ich sehe diese Begriffe als schwierig an, da in ihnen mitformulierte, aber nicht ausgesprochene Vorannahmen liegen: Im Zentrum stehen Probleme und Lasten, die einen Blick auf eher passive Familien werfen, auf deren Handlungsunfähigkeit, aber auch auf deren unzulässiges Verhalten, bis hin zum sogenannten "Erschleichen von Leistungen", das vor dem Hintergrund normativer Entwürfe von familiärer Normalität kritisiert wird.
Wenig Energie für die Gestaltung des Alltags
Mit dem Begriff der "familiären Erschöpfung" wird hingegen erörtert, dass Menschen Akteure sind und auch bleiben. Dass sie immer auch ihre Lagen bewältigen wollen, sie aber zugleich müde sind und immer weniger Energie für die Gestaltung ihres Alltags aufwenden können und insofern nur noch das tun, was ihnen unter gegebenen Bedingungen möglich ist. Erschöpfung prägt ihre Lebensführung. So finden sich eine Vielfalt an Symptomen, die Ausdruck ihrer Verhältnisse und ihrer Geschichte sind, wie Partnerkonflikte, Suchtverhalten, psychische Probleme, psychosomatische Störungen, Entwicklungsrückstände der Kinder, Kindesmisshandlung, Arbeitslosigkeit oder Wohnungs- und Mietprobleme, welche oft mit einer hohen Verschuldung einhergehen.
Mit diesem Begriff wird somit kein normativer Entwurf einer richtigen Lebensführung unterstellt. Es wird deutlich, dass diesen Familien eine nach ihren eigenen Vorstellungen gelingende Lebensführung immer weniger möglich scheint. Ihre Erschöpfung wird von sozialen und ökonomischen Bedingungen geprägt, die sie nicht selbst zu verantworten haben, an denen sie aber immer mehr scheitern, da ihr familiärer Alltag von vielfältigen Überforderungen überfrachtet ist. Dies kann zu einer wachsenden Unfähigkeit führen, einen Haushalt zu gestalten, und allmählich auch eine Abschwächung der Erziehungsfähigkeit bedingen.
Die Qualität der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern ist neben der materiellen Armut von zusätzlichen Belastungen und Verwundbarkeiten abhängig, eben von Arbeitslosigkeit, Schulden, Suchtverhalten der Eltern, eskalierenden Konflikten zwischen den Eltern, Wohnungsräumungen, Perspektivlosigkeit, Orientierungslosigkeit, depressiver Rückzug aus Kontakten und Isolation.
Da Elternfunktionen nicht generell gleich belastet sind, sondern individuell unterschiedlich beeinträchtigt werden, je nach Grad der Verwundbarkeit und Überlastung, wirkt sich materielle Armut nicht einheitlich, sondern differenziert und heterogen aus. Wenn Elternfunktionen und Familienklima immer stärker zum "Negativen" (einem nicht mehr aktiv zu bewältigenden Verhalten) tendieren, dann häufen sich die einschränkenden Folgen für Kinder und minimieren deren Chancen.
Um es zu fokussieren: Wenn Überforderungen zunehmen und eskalieren, dann reagieren manche Eltern mit Erschöpfung, Apathie und Resignation. Sie können kaum noch fürsorgliche Beziehungen entwickeln und sind nur bedingt in der Lage, Verantwortung zu übernehmen. Distanz und Teilnahmslosigkeit gegenüber Kindern sind die Folgen, aber oft auch aggressive Auseinandersetzungen in der Familie. Unberechenbare Erziehungsstile und häufiger Kontrollverlust sind Alltag. Die Folgen dieser elterlichen
- Zum einen sind Vernachlässigungen und Beeinträchtigungen der körperlichen, gesundheitlichen, psychischen, kognitiven, schulischen, sozialen und emotionalen Entwicklung der Kinder zu erkennen.
- Zum anderen lassen sich Auffälligkeiten im Verhalten wie Ängste, Depression, Rückzug, Selbstwertprobleme, Aggressivität, Unruhe, Konzentrationsstörungen, Dauerinfektionen, chronische Erkrankungen, Mangelerkrankungen und frühe Suchterkrankungen beobachten.
Diese Familien wurden schon lange allein gelassen, obwohl sie einen hohen Unterstützungsbedarf haben. Ihnen fehlen Netzwerke, sie hatten und haben kaum Unterstützung bei der Bewältigung von Krisen, sie verfügen über kein Brückenkapital, das Beziehungen über ihre eigene soziale Lage hinaus organisiert, Beziehungen, die wichtig sind, um Unterstützung und Förderung zu erhalten. In diesen Familien verfestigen und tradieren sich schließlich fatale Muster, wie man sich in Armut und Benachteiligung einrichten kann.
Zunächst nicht an den Kindern sparen
Zweifellos versuchen arme Eltern überwiegend, notwendige Einsparungen so zu gestalten, dass sie zunächst nicht die Kinder betreffen. Vorliegende Studien bestätigen eindeutig: Bei den Kindern wird selten gespart. Doch dies lässt sich nicht immer konsequent durchhalten. Je erschöpfter die Eltern sind, desto schwieriger wird dies und desto eher wird auch bei den Kindern gespart - allerdings ohne es diesen nachvollziehbar und aktiv zu vermitteln. Je mehr Beeinträchtigungen das Kind in der Unterstützungs-, Ermöglichungs- und Vermittlungsfunktion seiner Eltern erfährt, desto schwieriger wird der Zugang für das Kind zu kulturellen und sozialen Ressourcen und Teilhabechancen.
In diesen Zusammenhängen spielt die Dauerhaftigkeit von Armut eine wesentliche Rolle. Je länger die Familie von Armut betroffen ist, desto größer sind die psychischen wie auch physischen Belastungen der betroffenen Personen und vor allem auch der Kinder. Je länger Kinder dabei einer Erschöpfungssituation ausgesetzt sind, desto rasanter fährt der Fahrstuhl nach unten und umso geringer wird die Möglichkeit, individuell die eigentlichen Potenziale herauszubilden und Zukunftschancen zu bewahren. Das kann zum Sich-Einrichten führen, zum Wachsen einer Kultur der Armut, in der Verhaltensweisen des Arrangements mit einer prekären Lebenslage an die nächste Generation weitergegeben werden.
Somit steht die Frage im Raum, welche politischen Rahmungen erforderlich sind, um die Bewältigungsstrategien der Familien, die immer nur das Beste für ihre Kinder wollen, zu unterstützen und zu fördern.
Eine Bertelsmann-Studie, "Familienpolitik neu denken", fordert langfristig ein völlig anderes Konzept der Existenzsicherung, das unabhängig von der Familienform Kinder im Fokus hat.2 Insgesamt werden familien- und kinderpolitische Konzepte gefordert, die der Heterogenität von Familien und Kindern gerecht werden. Andererseits muss gerade für Kinder ein "anregungsreiches Entwicklungsumfeld" aufgebaut werden, das ein gelingendes Aufwachsen unterstützt und sich an Bedarfen und Lebenswelten der Kinder orientiert. Diese Umwelt muss die Folgen familiärer Erschöpfung nicht nur kompensieren, sondern auch jene "Teufelskreise" durchbrechen, die wir angesichts einer verfestigten sozialen Ungleichheit beobachten.
Kinderrechte müssen in die Verfassung
Vieles kann und muss von der Bundespolitik neu und anders geregelt werden: So müssen Kinderrechte in die Verfassung, es bedarf wirklicher Mindestlöhne, eine Kindergrundsicherung ist zu entwickeln, die sich auf das verfassungsrechtliche Existenzminimum stützt. Es gibt viele Ideen, wie Familien höhere Leistungen erhalten könnten. Das Modell der Kindergrundsicherung halte ich für das charmanteste und weitestentwickelte, und zwar aus drei Gründen3: Es orientiert sich am Bedarf der Kinder und wird nicht von Regelsätzen der Erwachsenen abgeleitet; Kinder werden darin zu Rechtssubjekten einer Grundversorgung; Bildung und Teilhabe der Kinder kommen in den Blick und sollen nachhaltig ermöglicht werden.
Neben bundespolitischen Maßnahmen in der Familien-, Steuer- und Sozialpolitik rücken aber auch Kommunen in den Fokus. Gerade diese haben große Möglichkeiten, Lebenslagen zu gestalten, um Folgen familiärer Erschöpfung abzumildern. In Kommunen können Prozesse ausgelöst werden, die das Kind und dessen Bedarfe in den Mittelpunkt stellen und Teilhabechancen verbessern.
Bedeutsam ist der Ausbau einer kinderbezogenen sozialen Infrastruktur, die an den Bedarfen der Kinder ansetzt und ihnen Teilhabe ermöglicht. So können kommunale Investitionen dort angesiedelt werden, wo sich Benachteiligung konzentriert: in Schulen, Kitas oder auf Spielplätzen. Sozialräumliche Maßnahmen im Quartier können die Teilhabemöglichkeiten der Kinder verbessern.
Eine bedeutsame Form der Unterstützung bei familiärer Erschöpfung sind aufsuchende Hilfen und Präventionsnetze, wie es sie in einigen Kommunen schon länger gibt. So helfen ehrenamtliche Familien- oder Sozialpat(inn)en bei der Organisation des Haushaltes und in alltäglichen Angelegenheiten. Andere Kommunen wiederum haben Wahrnehmungs- und Präventionsketten (s. auch S. 14?ff. in diesem Heft) eingerichtet, die Familien manchmal vom Beginn der Schwangerschaft bis hin zum Schulaustritt der Kinder begleiten.
Investitionen in Infrastrukturen bedeuten aber auch, lebensweltnahe Kindertageseinrichtungen zu entwickeln. Diese können zugleich eine Aufwertung zu Eltern-Kind-Zentren erfahren, in denen unter anderem auch Ämtersprechstunden stattfinden können und die sich den Ressourcen und Problemen des Viertels öffnen. Kindereinrichtungen sind vor allem Orte der Bildung und nicht der Versorgung. Vorliegende Ideen und Konzepte solcher Kindergärten sind ein Modell, das einen Orts- und Lebenslagenbezug herstellt; dies ist vor allem für Kinder aus erschöpften Familien bedeutsam.
Anmerkungen
1. www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2016/september/kinderarmut-in-deutschland-waechst-weiter-mit-folgen-fuers-ganze-leben
2. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Familienpolitik neu denken - faire Bildungschancen für alle Kinder schaffen. Tagungsband zur interdisziplinären Nachwuchswissenschaftlertagung der Bertelsmann Stiftung am 14. und 15. November 2012, Gütersloh, 2013.
3. www.kinderarmut-hat-folgen.de
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