Rechtlicher Anspruch und bestehende Praxis klaffen auseinander
Im Koalitionsvertrag ist die Gründung eines Nationalen Bildungsrates vereinbart worden. Die Gespräche zwischen Regierung und Bundesländern über das Konzept und die Zusammensetzung des Rates dauern an. Parallel artikulieren zivilgesellschaftliche Akteure sowohl aus dem Bildungs- als auch aus dem Sozialbereich ihre Forderungen: Inklusive Bildung und damit Bildungsgerechtigkeit müssen thematischer Mittelpunkt und Ziel der Arbeit des neuen Nationalen Bildungsrates sein.
Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2009 hat Deutschland sich mit Artikel 24 verpflichtet, das Recht auf inklusive Bildung zu realisieren. 2015 wurde die Umsetzung zum ersten Mal geprüft. Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat dabei grundlegende Probleme festgestellt und Empfehlungen für den weiteren Prozess ausgesprochen.1 Im nächsten Jahr jährt sich die Pflicht zur Realisierung eines inklusiven Bildungssystems zum zehnten Mal. Eine weitere Staatenprüfung steht ab März 2019 an.
Ohne Zweifel handelt es sich um eines der größten bildungspolitischen Reformvorhaben der kommenden Jahrzehnte. Die Monitoring-Stelle UN-BRK setzt sich vor allem dafür ein, dass die allgemeinbildende Schule inklusiv wird und strukturelle Ausgrenzung und Benachteiligungen überwunden werden.2
Was sich bisher in Deutschland getan hat
40 Prozent aller Schüler(innen) mit sonderpädagogischem Förderbedarf würden inzwischen eine allgemeinbildende Schule besuchen, heißt es im aktuellen Bildungsbericht.3 Gemeinsamer Unterricht nehme dabei in allen Schularten zu, bleibe insbesondere an Gymnasien aber eine Ausnahme. Jedoch würde die Mehrheit der Schüler(innen) mit Förderbedarf nur in vier Ländern in allgemeinen Schulen unterrichtet. Das Angebot eigenständiger Förderschulstandorte habe sich in vielen Ländern und Kreisen kaum verändert.4 Die bisherigen Bemühungen, das bestehende reguläre Schulsystem entsprechend zu reformieren, variieren je nach Bundesland und Schulart demnach bisweilen sehr stark. Teils wird sogar eine Abkehr vom Anspruch einer inklusiven Regelschule versucht.
Damit wird deutlich, dass drei zentrale Punkte der UN-Empfehlungen nicht verwirklicht wurden5: Inklusion als ein fundamentales Recht aller Lernenden zu verstehen, eine grundlegende Reform der Schulstruktur und die Aufhebung eines segregierenden Schulsystems einzuleiten sowie Inklusion als ein unmittelbar anwendbares Recht umzusetzen. Allenfalls kann bisher von Integration gesprochen werden und die Segregation der Kinder und Jugendlichen hat sich teilweise sogar verschärft durch steigende Quoten der sogenannten "I-Kinder".
Auf der anderen Seite sind einzelne Schulen mittlerweile Vorreiter geworden. Sie setzen den inklusiven Gedanken "Alle Kinder sind willkommen, die Schule passt sich an die Schüler(innen) an, nicht umgekehrt" trotz derzeitig ungünstiger Rahmenbedingungen um. Diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass der gesamte Prozess bisher wenig planvoll, kooperativ und nicht Schritt für Schritt erfolgt ist. Rufe nach einem Neustart für Inklusion werden laut.6
Nationaler Bildungsrat als Meilenstein
Im aktuellen Koalitionsvertrag wurde vereinbart, einen Nationalen Bildungsrat nach dem Vorbild des Wissenschaftsrates einzurichten. Es heißt: "Der Nationale Bildungsrat soll auf Grundlage der empirischen Bildungs- und Wissenschaftsforschung Vorschläge für mehr Transparenz, Qualität und Vergleichbarkeit im Bildungswesen vorlegen und dazu beitragen, sich über die zukünftigen Ziele und Entwicklungen im Bildungswesen zu verständigen und die Zusammenarbeit der beteiligten politischen Ebenen bei der Gestaltung der Bildungsangebote über die ganze Bildungsbiographie hinweg zu fördern."7
In Bezug auf eine der größten Herausforderungen für das Bildungswesen heißt es weiter nur verhalten: "In der Bildungsforschung (soll) die inklusive Bildung entlang der gesamten Bildungsbiographie zu einem Schwerpunkt gemacht werden." Unklar ist zudem, welche Rolle der Ausbau inklusiver Bildung in der geplanten Investitionsoffensive für Schulen spielt.
Offen ist demnach, ob und wie der Nationale Bildungsrat diese Thematik schwerpunktmäßig bearbeiten soll. Die bisherigen Vorstellungen der Bildungsministerin Anja Karliczek zum Nationalen Bildungsrat verharren sehr stark auf dem Forschungszweck und den Aufgaben des Rates, Vorschläge für mehr Transparenz, Qualität und Vergleichbarkeit im Bildungswesen zu machen.8
In zwei Kleinen Anfragen an die Bundesregierung hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bereits ausführlich, aber erfolglos nach der Schwerpunktsetzung und der Ausgestaltung des Rates gefragt.9
Zivilgesellschaftliche Akteure bringen sich ein
Die Autoren Daubner und Jungkamp10 betonen den grundsätzlichen Mehrwert, den ein Nationaler Bildungsrat angesichts derzeitiger Herausforderungen und für die Erreichung mittel- und langfristiger Ziele habe. Vor allem seien durch einen Bildungsrat Zeit und Raum für die Befassung mit der gesamten Bildungsbiografie gegeben; unterschiedliche Akteure des Bildungssystems, damit auch die Kinder- und Jugendhilfe sowie Expert(inn)en aus der Praxis könnten gemeinsam beraten und Perspektiven entwickeln; eine Öffnung der Diskurse über Bildungsfragen hin zu kooperativen Weiterentwicklung des Bildungssystems sei möglich und es würde mehr Öffentlichkeit erreicht werden. In diesem Sinn ist an ein beratendes Gremium gedacht, das mit konkreten Empfehlungen konstruktiv zu Weiterentwicklungen beitragen kann. Eine Analogie zur Aufstellung des Wissenschaftsrats sei möglich, habe gleichzeitig aber auch deutliche Grenzen. Die Autoren fordern, dass zunächst Ziele und Handlungsfelder festgelegt werden sollen, bevor weiter über die Zusammensetzung und Mandatierung des Rates debattiert wird.
In einer weitreichenden Petition sprechen sich Bildungsexpert(inn)en für einen "Bildungsrat für Bildungsgerechtigkeit!" aus.11 Laut Initiator(inn)en reiche es nicht aus, einen Nationalen Bildungsrat für mehr Vereinheitlichung und formale Vergleichbarkeit im Bildungssystem einzusetzen. Fachleute aus ganz unterschiedlichen Bereichen müssten zusammenwirken, um ein umfassendes Konzept für Bildungsgerechtigkeit zu entwickeln. Sozialpolitik und Stadtplanung seien genauso gefordert wie Bildungspolitik und Schulentwicklung.
Forderungen aus der katholischen Jugendsozialarbeit
IN VIA Deutschland e.V., themenverantwortlich für "Bildung" in der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS), setzt sich dafür ein, dass die weitere Debatte zum Nationalen Bildungsrat folgenden Passus im Koalitionsvertrag ernst nimmt: Er solle sich über die zukünftigen Ziele und Entwicklungen im Bildungswesen verständigen und die Zusammenarbeit der beteiligten politischen Ebenen bei der Gestaltung der Bildungsangebote fördern.
Entsprechend den Empfehlungen des UN-Prüfungsausschusses zur Umsetzung der UN-BRK muss vordringlich an einer Strategie gearbeitet und müssen ein Aktions- sowie Zeitplan und Zielvorgaben entwickelt werden, um in allen Bundesländern den Zugang zu einem qualitativ hochwertigen, inklusiven Bildungssystem herzustellen. Die Kernherausforderung "Bildungsgerechtigkeit" würde damit in den Mittelpunkt bildungspolitischer Entwicklungen gerückt. Diese mittel- und langfristige Aufgabe kann im operativen Geschäft der Bildungspolitiker(innen) nur schwer angegangen werden. Ein multiprofessionell zusammengesetzter Nationaler Bildungsrat wäre prädestiniert für derartige Aufgaben. Nach dem Vorbild des Wissenschaftsrates solle der Bildungsrat laut Bildungsministerin aus einer Bildungskommission (Wissenschaft, Bildungsexpert(inn)en) und einer Verwaltungskommission (Politik: Bund, Länder, Kommunen) bestehen. Wie von den Autoren Daubner und Jungkamp vorgeschlagen, sollten zumindest in der Bildungskommission auch "Betroffene (Lehrkräfte, Schüler(innen), Eltern)" vertreten sein. IN VIA Deutschland fordert vielmehr: Eine multiprofessionelle, inklusiv ausgerichtete Kommission ist unbedingt zu realisieren. Hierbei sind sowohl der Bildungs- als auch der Sozialbereich einzubeziehen. Freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe mit ihren vielfältigen Angeboten der Jugendsozialarbeit (schulbezogene Jugendsozialarbeit, Gestaltung von Ganztagsangeboten an Schulen, Ausbildungsbegleitung) sind ein Teil des Bildungssystems. Inklusives Denken und Handeln sind ihr originärer Auftrag. Diese Erfahrungen und die sozialpädagogische Perspektive sind notwendig, damit inklusive Bildung erfolgreich verwirklicht werden kann. Mit dem Projekt "Schule für alle" setzt sich IN VIA Deutschland e.V. entsprechend für die Realisierung eines inklusiven Bildungssystems ein (siehe Infokasten links oben).
Anmerkungen
1. Vereinte Nationen/Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention: Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands https://bit.ly/2tWl3cO, 2015; Bundesministerium für Arbeit und Soziales/Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention: Allgemeine Bemerkung Nr. 4 (2016) zum Recht auf inklusive Bildung. https://bit.ly/2MQXEQQ
2. Deutsches Institut für Menschenrechte/Monitoring-Stelle UN-BRK (Hrsg.): Inklusive Bildung ist ein Menschenrecht. Warum es die inklusive Schule für alle geben muss. https://bit.ly/2KSJ4rD; 2017.
3. Bundesministerium für Bildung und Forschung: Bildung in Deutschland 2018. 2018, S. 7, 14, 104/105. Link: www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichteseit-2006/bildungsbericht-2018/pdf-bildungsbericht-2018/bildungsbericht-2018.pdf
4. Ebd.
5. Schumann, B.: Deutschland braucht einen Neustart für Inklusion. 2017. https://bit.ly/2tZV6sw
6. Ebd.
7. Bundesregierung: Koalitionsvertrag - Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. 2018, S. 28. https://bit.ly/2NvKWbx
8. Karliczek, A.: Wie ich mir den Nationalen Bildungsrat vorstelle. https://bit.ly/2KQd3Af; 2018.
9. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Kleine Anfrage "Inklusive Bildung im Schulalter" und "Nationaler Bildungsrat". Drucksachen 19/2067 bzw. 19/2081, 2018; Bundesregierung: Antwort "Inklusive Bildung im Schulalter" und "Nationaler Bildungsrat". Drucksachen 19/2685 beziehungsweise 19/2357, 2018.
10. Daubner, L.; Jungkamp, B.: Der Nationale Bildungsrat - Ziele, Kompetenzen und Ausgestaltung: Ein Debattenbeitrag auf Grundlage eines Fachgesprächs des Netzwerk Bildung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 23. Mai 2018 in Berlin.
11. Brügelmann, H. (V.i.S.d.P.): Petition "Bildungsrat für Bildungsgerechtigkeit!". http://bildungsrat-fuer-bildungsgerechtigkeit.de; 2018.
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