Leistungswandlung – arbeitsrechtliches Tabu oder Chance?
Mitarbeiter, die viele Jahre gute Arbeit geleistet haben, melden sich häufiger krank, machen mehr Fehler, verhalten sich gegenüber Patienten, Klienten und Bewohnern nicht angemessen, erfassen neue Entwicklungen nicht mehr, ihr Arbeitstempo verringert sich, sie erfüllen ihre Aufgaben nur noch teilweise. Gleichzeitig bleiben andere für eine Arbeitsleistung wichtige und vom Dienstgeber nutzbare Kompetenzen erhalten oder nehmen zu (Leistungswandlung).
Ob diese Änderungen im Leistungsverhalten konkrete äußere, eventuell behebbare Ursachen haben oder (auch) auf einer veränderten Grundeinstellung zum Leben und zu den beruflichen Aufgaben beruhen, ist oft schwer zu erkennen.
Tabuisierte Praxis in caritativen Einrichtungen
Arbeitgeber konnten auf Fehl- oder Minderleistungen kurzerhand - ohne Prüfung der individuellen Situation - mit der Kündigung des Arbeitnehmers reagieren, wenn dieser sich nach einer Abmahnung erneut fehlverhielt.1
Caritative Dienstgeber haben aber nicht selten bewusst aus unterschiedlicher Motivation Fehl- und Minderleistungen von Mitarbeitern - über Jahre hinweg hingenommen:
- Ethische Bedenken konnten Dienstgeber davon abhalten, gegen einen Mitarbeiter vorzugehen, der sich viele Jahre bewährt hatte, sich in einer schwierigen Lebenssituation befand, eventuell wegen psychischer Labilität hoch gefährdet war und bei Verlust des Arbeitsplatzes kaum noch eine Chance auf einen neuen Arbeitsplatz gehabt hätte.
- Das finanzielle Risiko einer Kündigung wegen Schlecht- oder Minderleistung war unkalkulierbar. Typischerweise wurden in Kündigungsschutzverfahren auf Vorschlag der Arbeitsgerichte Vergleiche abgeschlossen, in denen die Zustimmung des Arbeitnehmers zur Aufhebung des Arbeitsverhältnisses durch die Zahlung einer wegen der meist langjährigen Betriebszugehörigkeit hohen Abfindung vom Arbeitgeber erkauft werden musste.
Neuere Entwicklungen
Verschiedene Umstände, Urteile des Bundesarbeitsgerichts sowie Regelungen des kirchlichen und des staatlichen Arbeitsgerichts haben dazu geführt, dass Einrichtungen in zunehmender Zahl Verfahren entwickelt haben und anwenden, die das Ziel haben, im Falle der Leistungswandlung eine faire Problemlösung für alle Beteiligten zu erreichen, für den betroffenen Mitarbeiter, für die eventuell betroffenen Arbeitskollegen, die Mitarbeitervertretung und für den Dienstgeber, der für die fachliche Qualität der Dienstleistungen der Einrichtung die Letztverantwortung trägt.
Arbeitnehmer muss tun, was er soll, so gut, wie er kann
Ob und gegebenenfalls inwieweit ein Mitarbeiter seine Arbeitspflicht nur schlecht oder teilweise erfüllt, hängt davon ab, zu welcher Leistung er nach seinem Dienstvertrag verpflichtet ist. Die gesetzlichen Regelungen, die AVR und der AVR-Dienstvertrag enthalten dazu aber keine Regelungen. Daraus leitet das Bundesarbeitsgericht ab:2
"Ist die Arbeitsleistung im Vertrag, wie meistens, der Menge und der Qualität nach nicht oder nicht näher beschrieben, so richtet sich der Inhalt des Leistungsversprechens zum einen nach dem vom Arbeitgeber durch Ausübung des Direktionsrechts festzulegenden Arbeitsinhalt und zum anderen nach dem persönlichen, subjektiven Leistungsvermögen des Arbeitnehmers. Der Arbeitnehmer muss tun, was er soll, und zwar so gut, wie er kann. Die Leistungspflicht ist nicht starr, sondern dynamisch und orientiert sich an der Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers. Ein objektiver Maßstab ist nicht anzusetzen."
Für den Dienstgeber ergibt sich aus dieser Rechtsprechung das Problem, dass er nicht von allen Mitarbeitern die gleiche Leistung nach Qualität und Quantität verlangen kann; denn die Leistungspflicht eines jeden Mitarbeiters hängt von seinem subjektiven Leistungsvermögen ab, das nicht stabil, sondern dynamisch ist und sich je nach seiner aktuellen Situation, seinem Alter usw. verändern kann.
Das Bundesarbeitsgericht hat für die Prüfung, ob ein Mitarbeiter unter angemessener Ausschöpfung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit in qualitativer beziehungsweise quantitativer Hinsicht gearbeitet hat und arbeitet, Dienstgebern ein mehrstufiges Verfahren vorgegeben.
Der Mitarbeiter will, kann aber nicht
Feststellung einer qualitativen Minderleistung
Die Prüfung, ob der Mitarbeiter eine qualitative Minderleistung erbringt, ist vom Dienstgeber in mehreren Stufen vorzunehmen:
- Der Dienstgeber ermittelt zunächst die Zahl der Fehler, die Art und Schwere und die Folgen der fehlerhaften Arbeitsleistungen des Mitarbeiters.
- Der Dienstgeber stellt fest, ob die Fehlerquote des Mitarbeiters langfristig der durchschnittlichen Fehlerquote aller vergleichbaren und mit vergleichbaren Arbeiten beschäftigten Arbeitnehmer entspricht oder ob sie diese erheblich überschreitet.
Insbesondere bei sich ständig wiederholenden Tätigkeiten entspricht es der menschlichen Natur, dass über einen längeren Zeitraum hinweg eine nahezu fehlerlose Arbeitsweise kaum möglich und deshalb vom Mitarbeiter nicht zu verlangen und auch nicht zu erwarten ist (arbeitsplatzspezifische Fehlerquote).
Beispiele: falsche Buchung, eine falsche Medikation oder eine Fehleinschätzung bei sich ständig wiederholenden Arbeitsvorgängen.
- Ist die Fehlerquote des Mitarbeiters nicht erheblich höher als die Quote vergleichbarer Mitarbeiter oder kann der Dienstgeber deren Fehlerquote nicht nachweisen, ist davon auszugehen, dass der Mitarbeiter seine vertraglich geschuldete Leistung erbringt.
- Selbst eine mehrfache und wiederholte Überschreitung der durchschnittlichen Fehlerquote vergleichbarer Mitarbeiter lässt nicht zwingend auf einen Verstoß gegen die Arbeitspflicht schließen.
Beispiel: Das Bundesarbeitsgericht hat die Kündigung einer Mitarbeiterin für unwirksam erklärt, der bei 1000 Arbeitsvorgängen zwischen vier und fünf Fehler unterliefen, während vergleichbare Mitarbeiter nur ein bis zwei Fehler machten.3
- Wird die Fehlerquote längerfristig deutlich überschritten, kann dies allerdings ein Anhaltspunkt dafür sein, dass der Mitarbeiter vorwerfbar seine vertraglichen Pflichten verletzt. In diesem Falle können arbeitsrechtliche Maßnahmen wie Verweis, Abmahnung und äußerstenfalls Kündigung zulässig sein.
Falls der Mitarbeiter allerdings darlegt, dass er seine subjektive Leistungsfähigkeit ausschöpft, sind arbeitsrechtliche Sanktionen nicht zulässig.
Beispiele: Der Mitarbeiter kann sich auf alters-, krankheitsbedingte oder familiäre Belastungen oder dienstliche Überforderung berufen.
- Im Einzelfall kann dem Dienstgeber, auch wenn ein schuldhaftes Fehlverhalten nicht nachweisbar ist, ein weiteres Hinnehmen des Fehlverhaltens nicht zumutbar sein.
Beispiele: Fehlleistungen haben Patienten, Klienten, Bewohner, Besucher, Arbeitskollegen erheblich gefährdet, belästigt, belastet oder geschädigt und dadurch auch die Einrichtung finanziell und in ihrem Ansehen beeinträchtigt.
Feststellung einer quantitativen Minderleistung
Die Feststellung einer quantitativen Minderleistung im Wege des Vergleichs mit anderen vergleichbaren Mitarbeitern ist nur bei objektiv messbaren und vergleichbaren Arbeitsvorgängen möglich. Die Prüfung erfolgt in mehreren Stufen:
- Der Dienstgeber stellt fest, dass die messbaren objektiven Arbeitsergebnisse eines Mitarbeiters die durchschnittlichen Leistungen aller vergleichbaren Mitarbeiter beziehungsweise seine früheren Leistungen erheblich unterschreiten.
- Der Mitarbeiter kann darlegen, dass die Feststellungen des Dienstgebers nicht zutreffen beziehungsweise dass seine individuellen Leistungsdefizite beispielsweise auf Einschränkungen wegen seines Alters, seiner Krankheiten oder auf betrieblichen Gründen (zum Beispiel schlechte Arbeitsplatzausstattung, unklare Arbeitsanweisungen usw.) beruhen oder nur vorübergehend sind.
- Je stärker die Arbeitsleistung zurückbleibt, umso eher ist von einer vorwerfbaren Leistungsverweigerung auszugehen, die zur Kündigung berechtigen kann.
- Unterschreitet der Mitarbeiter die durchschnittliche "Normalleistung" aller vergleichbaren Mitarbeiter dauerhaft um mehr als ein Drittel, ist das Gleichgewicht von Leistung und Gegenleistung im Dienstverhältnis so stark gestört, dass dem Dienstgeber ein Festhalten am (unveränderten) Vertrag auch dann nicht mehr zumutbar sein kann, wenn dem Mitarbeiter kein Schuldvorwurf gemacht werden kann.4
Betriebliches Eingliederungsmanagement
Ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) ist vom Dienstgeber durchzuführen,
- wenn der Mitarbeiter binnen eines Jahres länger als sechs Wochen oder wiederholt arbeitsunfähig ist (§ 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX),
- wenn "ernsthafte Schwierigkeiten im Beschäftigungsverhältnis eines Mitarbeiters auftreten" (§ 28 a Abs. 3 MAVO).
Die Verpflichtung besteht entgegen dem Wortlaut der Regelungen bei allen Mitarbeitern und auch in Einrichtungen ohne Mitarbeitervertretung.5
Der Fortbestand eines Dienstverhältnisses kann gefährdet sein, wenn zum Beispiel folgende Tatsachen vorliegen, die bei Fortbestand oder Wiederholung eine Kündigung rechtfertigen können:
- häufige und/oder längerdauernde Fehlzeiten,
- quantitativ oder qualitativ verminderte Arbeitsleistungen,
- fortdauernde verminderte Belastbarkeit,
- Fehlverhalten gegenüber Kollegen, Patienten, Klienten usw.
Das BEM soll durch Einbeziehung der Personen/Stellen, denen die betrieblichen Verhältnisse beziehungsweise die Hilfsmöglichkeiten vertraut sind, und durch Beteiligung der Mitarbeitervertretung als Vertreterin der Interessen des Mitarbeiters das aktuelle Leistungspotenzial klären, alle Möglichkeiten einer Weiterbeschäftigung nutzen und eine Entlassung des Mitarbeiters möglichst vermeiden.
Unterlässt der Dienstgeber pflichtwidrig die Durchführung eines BEM, macht diese Unterlassung eine Kündigung zwar nicht unwirksam. Jedoch muss er dann im Streitfall nachweisen, dass ein BEM keine für den Mitarbeiter günstigere Möglichkeit aufgezeigt hätte. Dieser Nachweis ist so schwierig, dass er in aller Regel nicht erbracht werden kann.6
Anmerkungen
1. Informativ: Urteil des Arbeitsgerichts Siegburg vom 25. August 2017 - 3 Ca 1305/17, www.nrwe.de
2. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 17. Januar 2008 - 2 AZR 536/06, Rn 17.
3. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 17. Januar 2008 - 2 AZR 536/06.
4. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 11. Dezember 2003 - 2 AZR 667/02, Rn 41 ff.
5. Rechtsprechungsnachweise in: PK-Arbeitsrecht der Caritas, Staatliches Arbeitsrecht, Schutz schwerbehinderter Menschen, Ergänzungslieferung 3/2017, Rn 39.
6. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13. Mai 2015 - 2 AZR 565/14, Rn 28.
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