Der Bewohnerwille steht im Vordergrund
Die Versorgungplanung nach § 132 g SGB V lehnt sich an das internationale Konzept des "Advance Care Planning (ACP)" an, das - angepasst an die Gegebenheiten in Deutschland - "Behandlung im Voraus planen (BVP)" genannt wird. Seit dem Jahr 2015 setzt der Caritasverband der Erzdiözese München und Freising das Konzept innerhalb eines Pilotprojektes um. In zwei Einrichtungen der Altenhilfe und zwei Einrichtungen der Behindertenhilfe wurden erste Erfahrungen gesammelt, in die hier ein Einblick gegeben wird.1
Die Ziele des Projektes waren es,
- die Wünsche der Bewohner(inn)en im Hinblick auf ihre medizinische Behandlung auch dann zu berücksichtigen, wenn sie die Behandlungsentscheidungen nicht (mehr) selbst treffen können;
- die Unterstützung des gesetzlichen Vertreters/der Vertreterin (Vorsorgebevollmächtigte(r) oder Betreuer(in)) bei der häufig belastenden Aufgabe, den Willen der Betroffenen zu ermitteln und umzusetzen;
- die Handlungssicherheit für die versorgenden Einrichtungen und die dort arbeitenden Menschen zu verbessern.
Mit den Bewohnern wird ausführlich gesprochen
Um diese Ziele zu erreichen, setzte das Pilotprojekt nach dem Konzept von BVP auf der individuellen und der systemischen Ebene an. Auf der individuellen Ebene werden den Bewohner(inne)n professionell begleitete Gespräche angeboten, in denen ihre Wünsche gehört und dokumentiert werden. Geschulte, nichtärztliche Gesprächsbegleiter(innen) unterhalten sich mit den Bewohner(inne)n, die das Angebot annehmen möchten, über deren Einstellungen zum Leben, über schwere Erkrankung und das Sterben. Darauf aufbauend können bestimmte medizinische Szenarien wie der akute Notfall, die Situation der Krankenhausbehandlung bei unbekannter Dauer der Einwilligungsunfähigkeit oder die Behandlung bei dauerhaftem Verlust der Einwilligungsfähigkeit besprochen werden. Nicht zuletzt werden Hinweise der Bewohner(innen) zum Beispiel für ihre Pflege oder Wünsche an ihre (spirituelle) Begleitung bei einer schweren Krise oder in der letzten Lebensphase erfasst. Festgehalten wird dies, sofern gewünscht, in einer Patientenverfügung.
Der Gesprächsprozess umfasst somit mehr Themen und bietet mehr Handlungsoptionen als die meisten standardisierten Patientenverfügungen. Sollte noch kein(e) Vertreter(in) benannt sein, wird über die Bedeutung der Legitimation einer Vertrauensperson informiert. Im gesamten Gespräch sind die Bedürfnisse und Wünsche der Bewohnerin oder des Bewohners handlungsleitend. Insbesondere sind die unterschiedlichen Aufmerksamkeitsspannen, kognitiven Fähigkeiten und emotionalen Gegebenheiten achtsam zu berücksichtigen. Es werden mindestens zwei Gespräche geführt, um dem/der Bewohner(in) Zeit zu geben, über seine/ihre Wünsche nachzudenken und gegebenenfalls noch zusätzliche Informationen einzuholen. Nach Möglichkeit nimmt der/die zukünftige gesetzliche Vertreter(in) an einem der Gespräche teil. So erfährt er/sie die jeweiligen Bedürfnisse direkt vom Patienten selbst. Der/Die Vertreter(in) wird damit emotional gestärkt und kann spätere Entscheidungen besser informiert treffen. Die behandelnden Ärzt(inn)e(n) werden nach dem Vieraugenprinzip möglichst in den Gesprächsprozess einbezogen. Sie unterstützen insbesondere bei der Klärung offener medizinischer Fragen oder der Einwilligungsfähigkeit.
In einer begleitenden wissenschaftlichen Studie in der Altenhilfe wurden die Gesprächsprozesse von 55 Bewohner(inne)n (mittleres Alter 85 Jahre) ausgewertet und 18 Bewohner(innen) zusätzlich befragt. Die Untersuchung zeigt, wie zeitaufwendig derartige Gesprächsprozesse sind: Bei über 50 Prozent der Bewohner(innen) wurden nicht nur zwei, sondern drei oder mehr Gespräche geführt, die im Mittel insgesamt etwa zwei Stunden dauerten und innerhalb eines Zeitraums von 23 Tagen stattfanden. Nicht berücksichtigt wurde bei dieser Erfassung die Zeit, die für die Kommunikation des Gesprächsbegleiters mit dem behandelnden Arzt/der Ärztin sowie mit den versorgenden Teams und für die Dokumentation benötigt wurde.
Medizinische Entscheidungen im Vordergrund
Inhaltlich wiesen die Befragten der Klärung medizinischer Entscheidungssituationen die höchste Priorität zu (83 Prozent). Die Gesprächsführung wurde im Hinblick auf die Dauer und den Inhalt ebenso überwiegend als passend bewertet (83 Prozent), wie die Zeit zum Nachdenken zwischen den einzelnen Gesprächen (83 Prozent). Nur eine Person beschrieb den Gesprächsprozess als "belastend", 44 Prozent als "weder belastend noch entlastend" und 28 Prozent als "entlastend". Von den Bewohner(inne)n wird das Angebot sehr geschätzt: Alle Befragten hielten das Anbot für wichtig und die überwiegende Mehrzahl (89 Prozent) würde es weiterempfehlen.
In vielen Fällen verfügen die Bewohner(innen) auch mit Unterstützung nicht (mehr) über die Einwilligungsfähigkeit, die rechtliche Voraussetzung für das Verfassen einer Patientenverfügung ist. Diesen Menschen wird durch die Einbeziehung des Vertreters die Vorsorge ermöglicht. Die Indikationen für bestimmte Notfallmaßnahmen können überprüft und der (mutmaßliche) Wille des Bewohners in Ruhe und unter Einbeziehung aller relevanten Personen ermittelt werden. Das Ergebnis kann zum Beispiel in einem Notfallbogen erfasst werden. Gerade in der Eingliederungshilfe werden die Vorsorgegespräche als Zeichen großer Wertschätzung erlebt und tragen zur Stärkung der Selbstwirksamkeit bei. Angehörige nutzen die Gespräche, um vorhandenes Wissen über die Präfenzen des Patienten für den Fall zu sichern, dass sie vor dem Bewohner/der Bewohnerin versterben oder aus sonstigen Gründen nicht erreichbar sind.
Gesprächsbegleiter: gute kommunikative Fähigkeiten
Systemisch soll durch die institutionelle und regionale Implementierung des Konzepts die Umsetzung des Bewohnerwillens in der gesamten Versorgungskette gefördert werden. Für die Einrichtungen ist die Identifikation geeigneter Mitarbeitender und deren Freistellung dabei die größte Herausforderung. Emotionale Stabilität, gute kommunikative Kompetenzen und ein hohes Maß an Fähigkeit zur Selbstreflexion des Gesprächsbegleiters sind unerlässliche Voraussetzungen für fachlich hochwertige, bewohnerzentrierte und nicht direktive Gesprächsprozesse.
Regional wird das Projekt derzeit mit anderen Einrichtungen, ambulanten Hospizdiensten, SAPV-Teams, Notärzt(inn)e(n) und der Stadt München vernetzt. Die Erkenntnisse aus dem Projekt weisen darauf hin, dass eine tragfähige Planung im Sinne des § 132 g SGB V nach dem Konzept BVP gewünscht und umsetzbar ist. Grundvoraussetzung ist eine sorgfältige Vorgehensweise insbesondere bei der Auswahl und Schulung der Gesprächsbegleiter(innen) und eine sachorientierte Zusammenarbeit aller an der Versorgungskette Beteiligten bei der Umsetzung und Weiterentwicklung des Konzeptes.
Anmerkung
1. Der ausführliche Projektbericht ist unter https://www.caritas-nah-am-naechsten.de/cms-media/media-2667520.pdf abrufbar.
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