Was das Leben lebenswert macht
Das Konzept der Lebensqualität hat in den vergangenen Jahren nicht nur in der Forschung und der Sozialpolitik, sondern auch im Bereich der Rehabilitationssoziologie zunehmend an Bedeutung gewonnen.2 Dort dient der Ansatz der Bewertung der Dienstleistungsqualität.3 Die vorhandenen Modelle zur Lebensqualität konzentrieren sich entweder auf Menschen mit oder auf Menschen ohne intellektuelle Beeinträchtigung.4 Eine vergleichende Studie zwischen den beiden Personengruppen existiert nicht beziehungsweise greift nur spezielle Aspekte oder Bevölkerungsteile heraus. Sind die subjektiv relevanten Kriterien der Lebensqualität für Menschen mit und ohne intellektuelle Beeinträchtigung gleich? Zur Beantwortung dieser Frage wurde angenommen, dass Menschen mit und ohne intellektuelle Beeinträchtigung grundsätzlich gleich sind und daher auch die relevanten Faktoren der Lebensqualität gleich sein sollten. Die drei folgenden Hypothesen wurden aufgestellt:
Hypothese 1:
Menschen mit und ohne intellektuelle Beeinträchtigung haben Interessen, die über die schlichte Darstellung der Lebensbereiche Wohnen, Arbeit, Freizeit, soziale Beziehungen und Gesundheit hinausgehen (zum Beispiel Anerkennung, Erfolg oder die Erreichung persönlicher Ziele).
Hypothese 2:
Menschen mit und ohne intellektuelle Beeinträchtigung haben grundsätzlich die gleichen Lebensbereiche und definieren Lebensqualität aus abstrakter Sicht vergleichbar (ähnliche Definition von Lebensqualität).
Hypothese 3:
Menschen mit und ohne intellektuelle Beeinträchtigung haben bestimmte Lebensbereiche und Interessenfelder, anhand derer sie ihre individuelle Zufriedenheit festmachen.
Die Hypothesen sollten möglichst unvoreingenommen geprüft werden. Dazu wurde in mehreren Schritten aus Antworten freier Interviews und einem daraus erstellten Leitfaden ein Fragebogen entwickelt. Insgesamt wurden in den verschiedenen Schritten mehr als 140 Menschen mit und ohne intellektuelle Beeinträchtigung befragt. Bei den Interviewpartner(inne)n wurden weitere unabhängige Variablen wie Alter, Geschlecht, Schulbildung, Berufstätigkeit, Leben in einer Familie oder Leben als Single erfasst.
Das Ergebnis: Insgesamt besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Personengruppen und deren Definition von Lebensqualität. Die angenommenen Hypothesen erscheinen folglich als plausibel.
In verschiedenen weiteren Analysen wurden mögliche Einflussfaktoren analysiert. Die Daten weisen darauf hin, dass Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung andere Lebensumstände haben als Menschen ohne intellektuelle Beeinträchtigung. Sie leben häufiger als Single und nicht in einer Familie. Zudem haben sie eine geringere Schulbildung. Diese Daten stimmen mit Daten aus anderen Studien überein.5
Die Auswertungen deuten darauf hin, dass Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung ihre Lebenswirklichkeit anders erleben als Menschen ohne intellektuelle Beeinträchtigung. Zum Beispiel ist der Aspekt des Wohneigentums Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung zumeist völlig fremd, während dies für Menschen ohne intellektuelle Beeinträchtigung zum Teil sehr wichtig ist (Altersvorsorge, Abgrenzung eines eigenen Bereiches). Ob dies daran liegt, dass diese Personengruppen unterschiedlich wahrnehmen und bewerten, oder dass sie unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung haben beziehungsweise Barrieren erfahren, ist zu erforschen.
Die Möglichkeiten ausschöpfen
Für die Praxis der Begleitung von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung legen die Ergebnisse nahe, verstärkt die vorhandenen Ressourcen und Optionen zu nutzen, damit deren Leben sich mehr dem alltäglichen Leben angleichen kann. Dies ist für die Realisierung einer inklusiven Gesellschaft unabdingbar.
Darüber hinaus ist zu prüfen, ob die Unterstützungsbedarfe und die Möglichkeiten zur Teilhabe von den Einrichtungen gut abgedeckt sind beziehungsweise ob es andere Modelle der Begleitung geben kann, zum Beispiel für nächtliche Discobesuche oder andere aufwendige Aktivitäten. Weiter ist es wichtig, dass Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung die verschiedenen Angebote überhaupt kennenlernen (wie Oper, Theater, Kino oder Vereine).
Die Erkenntnisse und daraus gezogenen Schlüsse sollten dann gemeinsam mit den Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung gezogen werden. Erst mit ihrer Beteiligung werden die jeweiligen Maßstäbe erkennbar. Zugleich ergibt sich daraus die Möglichkeit für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung, die Kundenrolle zu lernen und auszufüllen.
Anmerkungen
1. Der vorliegende Artikel ist eine kurze Zusammenfassung der Dissertation des Autors zu dem Thema: Tüllmann, T.: Vergleich von subjektiven Faktoren zur Bestimmung der "Lebenszufriedenheit" bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung und Menschen ohne intellektuelle Beeinträchtigung - eine quantitative und qualitative Studie. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag, 2016. Der Autor ersetzt den Begriff der geistigen Behinderung mit dem Begriff "intellektuelle Beeinträchtigung".
2. OECD: How’s Life? Measuring Well-Being. Paris: OECD Publishing, 2013; Eurostat: Quality of life. 2015 edition. http://ec.europa.eu/eurostat; Schäfers, M.: Lebensqualität aus Nutzersicht - Wie Menschen mit geistiger Behinderung ihre Lebenssituation beurteilen. Gesundheitsförderung - Rehabilitation - Teilhabe. Wiesbaden: Verlag VS Research, 2008.
3. Schalock, R. L.: Quality of Life - Creating Value through Innovation. In: Ich sehe was, was Du nicht siehst und das ist …? Dokumentation zur Fachtagung vom 26. Oktober 2012, Gelsenkirchen. Sozialwerk St. Georg, S. 22-35.
4. Glatzer, W.; Zapf, W.: Lebensqualität in der Bundesrepublik. Frankfurt: Campus Verlag, 1984;
Seifert, M.; Fornefeld, B.; Koenig, P.: Zielperspektive Lebensqualität. Bielefeld: Bethel Verlag, 2001.
5. Wacker, E.; Wetzler, R.; Metzler, H.; Hornung, C.: Leben im Heim. Baden-Baden: Nomos Verlag, 1998.
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