Nutzbringend für die eigene Arbeit
Wer vor wenigen Jahren behauptet hätte, dass der weltweit größte Anbieter von Unterkünften kein einziges Hotel besitzt (Airbnb), wäre wohl für leicht verrückt erklärt worden. Doch neue, disruptive Geschäftsmodelle zielen nicht auf klassische Formen des Wettbewerbs ab, die Vorhandenes lediglich ein wenig besser oder billiger machen. Sie stellen die komplette Logik einer Branche auf den Kopf und greifen konsequent Kundenbedürfnisse auf, die lange unterhalb des Radars etablierter Anbieter blieben.
Im engeren technischen Sinn ist mit Digitalisierung die Umwandlung analoger Informationen (Sprache, Musik, Bilder) in den Computer-Zeichencode aus "0" und "1" gemeint. Daran knüpft die neuere, zunächst industrielle, dann auch gesellschaftspolitische Definition an: Alles, was digitalisiert werden kann, wird auch digitalisiert: Sprache, Texte, Musik, Filme, Geld, soziale Netzwerke, Warenhäuser, Fahrzeug- und Maschinensteuerung, Logistikketten und vieles mehr. Kurz: Kein gesellschaftlicher Bereich ist ausgespart.
Vom Input-Output-Prinzip der klassischen IT, wie sie uns seit über 30 Jahren vertraut ist, unterscheiden sich große Teile der neuen Digitaltechnologien fundamental: Herkömmliche Rechner und Programme verarbeiten lediglich die von Menschen eingegebenen Daten nach genau definierten Regeln und geben sie am Bildschirm oder Drucker wieder aus. Die neuen Technologien können dagegen menschliche Denk- und Kommunikationsleistungen sowie komplexe Handlungen teilweise oder ganz ersetzen. Diese Systeme sammeln und bewerten eigenständig Informationen, treffen Entscheidungen und setzen diese auch um. Dabei optimieren sie ihre Handlungsstrategien autonom, so dass auch ihre Entwickler nicht mehr vorhersagen können, wie sie genau agieren werden.»
Was Digitalisierung für soziale Dienste bedeutet
In der Sozialwirtschaft wird unter Digitalisierung oft noch die Nutzung von Office- oder Fachsoftware anstelle von Papier und Telefon verstanden. Doch das ist klassische IT nach dem oben benannten Input-Output-Prinzip. Bei weiterreichenden Innovationen gehen viele Verantwortliche davon aus, dass es sich um Phänomene des Industrie- oder Unterhaltungssektors handelt, von denen personenbezogene Dienstleistungen bestenfalls am Rande betroffen sind. Bezieht man die Unterschiede zwischen klassischer IT und neuen Digitaltechnologien auf den Bereich sozialer Dienste, so wird deutlich, dass es um völlig neue Qualitäten geht:
Klassische IT
- unterstützt bereits existierende Hilfeprozesse punktuell, etwa bei der Koordination von Terminen oder der Dokumentation von Hilfen;
- bewegt sich nur innerhalb vorhandener Geschäftsmodelle, passt sich also den bisherigen Hilfestrukturen an;
- arbeitet überwiegend mit den herkömmlichen Datentypen Text und Zahlen, die schon vor der IT genutzt wurden;
- kommt in der Regel nicht in direkten Kontakt mit Klient(inn)en, wird also von Fach- und Verwaltungskräften im "Backoffice" angewandt.
Die neuen Technologien
werden unter so verschiedenen Schlagworten wie Robotik, neuronale Netze oder Internet der Dinge verhandelt und
- verändern vorhandene oder gestalten neue Hilfeprozesse, indem etwa bislang menschliche Tätigkeiten wie haushaltsnahe Dienstleistungen, Diagnostik oder sogar bestimmte Formen der Beratung ganz oder teilweise von Maschinen übernommen werden;
- ermöglichen damit auch die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, etwa im betreuten Wohnen oder bei der Arbeitsassistenz;
- arbeiten vielfach mit neuen Datentypen wie Sensor-, Audio- oder Videoinformation, die sie aus ihrer menschlichen Umgebung gewinnen, etwa in Gestalt von Robotern, Sturzdetektoren oder Sensoren in Kleidung oder Uhr;
- werden primär im direkten Klientenkontakt eingesetzt, etwa in Gestalt von technischen Assistenzsystemen, Pflegerobotern oder natürlichsprachigen Dialogsystemen.1
Viele dieser Technologien sind hochattraktiv, weil sie gerade nicht mehr als Technik wahrgenommen werden. Ihre einfache Bedienbarkeit über Touchscreens, Gesten- oder Sprachsteuerung macht sie gleichermaßen für Menschen mit und ohne Einschränkungen geeignet. Die Klient(inn)en sind damit auch konsequent vom Makel der Hilfsbedürftigkeit befreit - es gilt vielmehr als schick, sie zu nutzen. In der Folge sind Geschäftsmodelle, die auf Basis dieser Technologien entwickelt werden, für Menschen mit und ohne Hilfebedarf im Sinne der Sozialgesetze geeignet und werden zunehmend in den Wettbewerb zu klassisch sozialwirtschaftlichen Geschäftsmodellen treten.
Erste Beispiele dafür sind Haushaltsdienste wie Essensversorgung und Reinigung. Die Globalisierung und Industrialisierung solcher Services machen es künftig möglich, sie deutlich attraktiver anzubieten, als dies klassische Sozialträger vermögen. Im Gesundheitssektor ist bereits zu beobachten, dass neben dem staatlich regulierten und finanzierten System eine Parallelwelt aus Smartwatch-Sensoren, Gesundheits-Apps und Webstores entsteht. Und warum sollte man lange Anträge stellen, wenn man mit dem Assistenzroboter von Aldi für den Preis eines Fernsehers der Oma eine Freude bereiten kann?
In welchem Zeitraum und Umfang sich solche Angebote durchsetzen werden, ist schwer prognostizierbar. Eine andere Entwicklung ist dagegen heute schon massiv zu beobachten: Die "Verplattformung" der Kunden-Lieferanten-Beziehungen.2 So wie es heute selbstverständlich ist, vor einer Flugbuchung in Portalen nach dem besten Angebot zu suchen, wird es dies auch bei sozialen Dienstleistungen werden. Hier gilt ebenso das Gesetz der Globalisierung: Das Unternehmen "care.com" hat nach eigenen Angaben bereits knapp 22 Millionen Mitglieder in 19 Ländern. Sein deutscher Ableger "betreut.de" führt mit vier Klicks zu einer Betreuungsperson - Sternchen-Bewertung inklusive. Deutlich auch hier: Senioren- und Kinderbetreuung steht mit bunten Bildern neben Gartenpflege und Haustierservice, alles, was der Mensch eben so braucht - ohne Rücksicht auf Sozialgesetzbücher und MDK-Gutachter(innen).
Was lernen wir daraus? Die Sozialwirtschaft kann sich nicht darauf verlassen, dass die Grundstrukturen der Wohlfahrtslandschaft so bleiben, wie sie heute sind. Andere Branchen lehren uns, dass komplexe Veränderungsprozesse in etablierten Organisationen Zeit kosten. Wer also rechtzeitig fertig werden will, muss frühzeitig beginnen. Diese Weitsicht ist Aufgabe von Führung. Die Entwicklung digitaler Strategien gehört in die To-do-Liste der Geschäftsführung.
Möglichst klare Ziele in kleinen Schritten umsetzen
"Man darf natürlich nicht das Chaos automatisieren. Einfach ein IT-Tool auf die bestehende Organisation aufsetzen - das funktioniert nicht und wird teuer." Dieser Erkenntnis von Markus Horneber, Vorstand des diakonischen Gesundheits- und Sozialdienstleisters agaplesion, ist zuzustimmen.3 Doch wie bei allen strategischen Prozessen stellt sich auch hier die Frage, ob es sinnvoller ist, von unten (Bottom-up) oder von oben her (Top-down) zu beginnen. Sicherlich ist es gut, dieses Thema in der (hoffentlich vorhandenen) Unternehmensstrategie zu verankern. Hier muss die Führungsebene die Frage beantworten, wohin der Weg gehen soll und auf welche Weise man vorzugehen gedenkt. Die Gefahr, dabei Papiertiger zu züchten, ist freilich groß. Empfehlenswert erscheint deshalb eine top-down-getriebene Bottom-up-Strategie, also die Verbindung möglichst klarer Visionen und Ziele mit einem Start in kleinen Schritten, um Erfahrungen zu sammeln und Mitarbeitende, Klient(inn)en und Angehörige an neue Formen sozialer Dienstleistungen heranzuführen.
Die Warnung von Horneber sollte jedoch immer im Ohr behalten werden: Grundlage für einen Einstieg in die neue Welt sind zum einen ein hoher Reifegrad der eigenen IT-Architektur und des IT-Managements, zum anderen eine prozessbewusste Organisation. Indikatoren für eine hohe IT-Reife sind etwa eine strategisch denkende IT-Leitung, konsolidierte Software-Landschaften, kundenorientierte IT-Serviceprozesse und eine performante und hochverfügbare Systemlandschaft. Kurz: Mitarbeitende sollten IT nicht als Hemmschuh, sondern als nutzbringend für die eigene Arbeit erleben.
Eine hohe Prozessreife ist daran zu erkennen, dass fachliche und administrative Prozesse organisationsweit einheitlich definiert sind und gelebt werden. Dabei sind sie medienbruchfrei in Fach- oder betriebswirtschaftlicher Software abgebildet. Werden solche Prozesse zunächst intern, etwa in der Klientendokumentation oder Personaleinsatzplanung, konsequent digitalisiert, entsteht eine prozessbewusste Organisation, die moderne Werkzeuge geschickt zu nutzen weiß.
Dieses Wissen kann genutzt werden, um in weiteren Schritten digitale Elemente in vorhandene Prozesse mit Klient(inn)enbezug zu integrieren. Ansatzpunkte sind etwa eine Online-Terminvereinbarung in der Beratungsstelle oder eine partizipative Dokumentation per Smartphone für junge Klient(inn)en. Hier sollte jedoch vorab der Bedarf mit allen Beteiligten - also auch Angehörigen oder Klient(inn)en - genau eruiert werden. Und es nutzt nichts - siehe Horneber -, wenn die Prozesskette schon hinter der Website wieder abbricht, wenn also die Verwaltungs- oder gar Fachkraft die Termine anschließend manuell in den Wandkalender einpflegen muss. Es gilt vielmehr, die Prozesse zu Ende zu denken.
Werden schließlich neue Hilfeformen oder Angebote geplant, sollten die digitalen Potenziale von Anfang an mitgedacht werden. Auch hierfür erweist sich eine Prozessmodellierung aus Kundensicht als hilfreiches Werkzeug. Wichtig ist es dabei natürlich, dass die beteiligten Fach- und Führungskräfte eine gewisse digitale Fantasie mitbringen oder sich während des Prozesses aneignen. Input von außen, etwa durch studentische Projekte, Workshops mit Ehrenamtlichen oder professionelle Beratung, können hier von Nutzen sein.
Nutzen muss erfahrbar sein
Die Digitalisierung wird keine Ecke der caritativen Tätigkeiten auslassen. Klar ist aber auch: Angesichts vieler anderer Baustellen im Sozialsektor - neuer Gesetze, neuer Organisationsformen, neuer Klientengruppen - ist es weder sinnvoll noch machbar, überall gleichzeitig zu beginnen. Vielmehr gilt es zunächst, mit vertretbarem Aufwand und begrenzten Zielhorizonten erste Leuchttürme zu bauen, an denen der Nutzen der Digitalisierung praktisch erfahrbar wird. Die möglichen Handlungsfelder reichen dabei von der Binnenorganisation, der Klienten- und Angehörigenkommunikation über die Personalakquise sowie Gewinnung und Koordination von Ehrenamtlichen bis hin zum Spendenmarketing.
Gerade kleine Einrichtungen oder Ortsverbände werden jedoch damit oft überfordert sein. Hier ist es Aufgabe der Diözean- und Landesverbände, Verantwortung zu übernehmen. Es gilt, fundiertes Know-how aufzubauen, um den Trägern Informationen zu liefern und konkrete Unterstützung anbieten zu können.
Anmerkungen
1. Schöttler, R.: Unveröffentlichtes Manuskript eines Vortrages auf der Mitgliederversammlung Fachverband Informationstechnologie in Sozialwirtschaft und Sozialverwaltung (FINSOZ) 2016.
2. Eisenreich, T.: Digitale Geschäftsmodelle: Konzepte entwickeln, Prozesse planen. In: Sozialwirtschaft Nr. 1/2016, S. 16-17.
3. Horneber, M.: Nicht das Chaos automatisieren. In: Diakonie Unternehmen Nr. 2/2015, S. 11-12.
Bei Schulden qualifiziert beraten
Sozialwahl 2017 steht vor der Tür
Flexibel und unbürokratisch
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}