Maultaschen für alle
Inklusive Erwachsenenbildung voranbringen und damit die UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen - das sind die erklärten Ziele des Projektes "Aufbruch - Inklusion braucht alle". Seit Ende 2014 arbeiten die Bildungs- und Begegnungsstätte "Treffpunkt" des Caritasverbandes für Stuttgart und die Volkshochschule Stuttgart (VHS) hier intensiv zusammen. Gefördert wird das auf drei Jahre angelegte Projekt von der Aktion Mensch.
31 inklusive Angebote gibt es im Wintersemester 2016/17. Diese decken die gesamte Themenvielfalt der Volkshochschule ab. Vom Sprachkurs bis zum Kreativangebot wie Arbeiten mit Speckstein, von EDV-Grundlagen bis zur Persönlichkeitsentwicklung - für jeden ist etwas dabei. Seit Projektbeginn ist die Zahl der Kurse von sieben auf 31 gestiegen. Insgesamt 418 Teilnehmer(innen) gab es bisher, davon 196 mit einer Behinderung.
Was können die Beweggründe für die Teilnahme an einem inklusiven Kurs sein? "Ich suche Kontakt zu Menschen ohne Handicap, das ist mir wichtig", erzählt Sebastian Bremer, der wie auch die übrigen Teilnehmer(innen) in Wirklichkeit anders heißt. Der 26-Jährige mit Downsyndrom ist ein regelmäßiger Besucher der VHS-Kurse. Seine vielfältigen Interessen wie Kochen und Tanzen kann er dort ausbauen und dabei Gleichgesinnte treffen. Der Unterschied zum regulären VHS-Angebot: "Die Kurse sind individueller betreut und bieten für alle ein entschleunigtes Lernen", so das Fazit von Ingrid Münning-Gaedke, Mitglied der Geschäftsleitung der VHS. "Im Vordergrund stehen nicht Unterschiede oder Einschränkungen, sondern die gemeinsamen Interessen - sei es beim kreativen Tun oder Erlernen einer Sprache", ergänzt Sabine Braith, die die Begegnungsstätte "Treffpunkt" leitet.
Die gemeinsamen Interessen sind schnell gefunden: Ein junges Paar aus Südamerika will die Geheimnisse des Plätzchenbackens erlernen - genauso wie der blinde Martin Walter, der in einer Wohngruppe lebt. Das Smartphone sei ihr manchmal ein Rätsel, bekennt die geistig behinderte Ramona Lieske - da geht es der rüstigen Rentnerin neben ihr nicht anders. Maultaschen liebt jeder Schwabe - und dies unabhängig von einer Einschränkung. So erlebt sich Sebastian Bremer beim Kochkurs in bester Gesellschaft, und schnell findet sich ein Tandempartner zum Teigausrollen und -befüllen.
Wille zur Barrierefreiheit
Möglich wurde die positive Entwicklung des Projektes durch die intensive Zusammenarbeit und Offenheit der Kooperationspartner. Der VHS Stuttgart war die Umsetzung barrierefreier Angebote von Anfang an ein wichtiges Anliegen und sie war bereit, Strukturen zu schaffen, die die Umsetzung ermöglichten. So ist Katrin Wahner als Inklusionsbeauftragte Ansprechpartnerin für alle Interessierten von außen, aber auch VHS-intern für die planenden Mitarbeiter(innen) und die Kursleitungen. "Wir als VHS haben einiges dazugelernt: Bei der Anmeldung erfolgt die Bezahlung des Kurses eigentlich über einen Bankeinzug. Uns war jedoch nicht klar, dass viele Menschen mit Behinderung, wenn sie in einer Einrichtung leben, kein eigenes Girokonto haben", erzählt Wahner. Die VHS zeigte sich flexibel und fand individuelle Lösungen.
Die Projektmitarbeiter(innen) des "Treffpunkts" begleiten die VHS bei diesem Prozess und bringen ihr Know-how ein. Sie schulen und beraten die Kursleiter(innen) zu Themen wie Inklusion, Leichte Sprache und Methodenwahl. Die Kursleitungen haben in Austauschtreffen die Möglichkeit, von ihren Erfahrungen zu berichten. Die Projektmitarbeiter(innen) regen dabei immer wieder an, auch Ängste und Probleme anzusprechen, um gemeinsam Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Auch hier zeigen sich deutliche Entwicklungen: "Inzwischen erleben wir, dass die Kursleitenden sich und uns ganz andere Fragen stellen", resümiert Sabine Braith. "Zu Beginn standen Befürchtungen über den Kursverlauf im Vordergrund. Nun sind es konkrete Überlegungen zur Zusammenarbeit mit einem Assistenten."
Auch die Leitung der Kurse selbst geschieht zum Teil in inklusiven Tandems. So bieten beispielsweise eine blinde Frau und eine Projektmitarbeiterin gemeinsam einen Kurs zum Thema "Meine Talente und Stärken" an.
Regelmäßig besuchen die "Treffpunkt"-Mitarbeiter(innen) die inklusiven Kurse, um einen Eindruck vom Ablauf, von der Zusammensetzung der Teilnehmer(innen) und der Stimmung zu bekommen. "Uns fällt auf, dass die Kurse meist in einer sehr angenehmen Atmosphäre stattfinden, die Teilnehmer unterstützen sich gegenseitig und die Kursleitungen sind sehr engagiert", fasst Sabine Braith die Eindrücke zusammen. "Nur in zwei Fällen - und damit im Vergleich zu den Anmeldungen verschwindend gering - habe ich bislang eine ablehnende Haltung erlebt, wenn ich einem Teilnehmer ohne Behinderung bei der Anmeldung erklärt habe, dass es sich um einen inklusiven Kurs handelt", erzählt die VHS-Inklusionsbeauftragte Katrin Wahner.
Ein weiterer wichtiger Faktor für das Gelingen der inklusiven Angebote sind die Assistenzen. Für viele der Teilnehmer(innen) ist ein Besuch des Kurses nur mit Unterstützung möglich - sei es auf dem Weg zur Volkshochschule oder auch während des Kurses. Hier haben die Projektmitarbeitenden des Caritasverbandes einen Pool aufgebaut. Sie vermitteln die Assistenzen oder übernehmen sie selbst. Seit Beginn des Projektes gab es 24 Assistenzanfragen, die bedient werden konnten - Tendenz steigend. "Bei einer Assistenz ist viel Fingerspitzengefühl erforderlich. Uns ist es deshalb wichtig, Assistenten zu finden, die bereits Erfahrung im Umgang mit Menschen mit Behinderung haben", betont Sabine Braith. Nicht immer kann jedoch eine passende Assistenz gefunden werden, was manchmal auch bedeutet, dass ein(e) Interessierte(r) nicht teilnehmen kann. An seine Grenzen stößt das Projekt auch, wenn es um die Begleitung von Menschen mit sehr hohem Unterstützungsbedarf geht. "Bislang hatten wir zwei Teilnehmer, die über eine Bliss-Tafel1 kommunizieren. Dazu braucht es geschulte Kräfte: Bringt der Teilnehmer diese nicht selber mit oder können wir niemand Passendes finden, können wir eine Teilnahme nicht zusagen", erläutert Braith. In diesen beiden Fällen fand sich glücklicherweise jemand. Da das Projekt Ende 2017 ausläuft, sehen alle Beteiligten im Bereich Assistenz einen hohen Handlungsbedarf, um den langfristigen Erfolg der inklusiven Angebote zu sichern. Geplant ist deshalb, einen ehrenamtlichen Assistenzpool aufzubauen. Dabei sollen die künftigen Assistent(inn)en umfangreich geschult werden.
Werbung auch in Leichter Sprache
Die inklusiven Kurse werden auf vielfältige Weise beworben: Sie stehen im üblichen Programmheft der VHS und sind dort mit einem Symbol gekennzeichnet. In Leichter Sprache finden sie sich in einer gesonderten Broschüre der VHS und im Programmheft des "Treffpunkts". Halbjährlich gibt es Informationsveranstaltungen, die gerade in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung auf großes Interesse stoßen: Im Anschluss melden sich viele Bewohner(innen) oder Werkstattmitarbeiter(innen) zu den Kursen an. Wenig erfolgreich war eine Informationsveranstaltung in der VHS, die für alle offen war. Nur ein Interessierter fand sich ein.
Die Hürden überwinden
Für Menschen mit Behinderung kann der Besuch eines inklusiven Kurses eine Hürde sein. Zum Teil haben sie schwierige Erfahrungen gemacht, wenn es darum geht, an üblichen Angeboten teilzunehmen. "Uns war es in der Vorbereitung zu ,Aufbruch‘ wichtig, Menschen mit Behinderung konkret zu fragen, was sie brauchen, um an inklusiven Angeboten teilzunehmen. Dabei haben wir durchaus viele Ängste und Bedenken wahrgenommen", sagt "Treffpunkt"-Leiterin Sabine Braith. Ein Ergebnis dieser Erkenntnisse sind Schulungen, die sich an Menschen mit Behinderung wenden. In diesen Schulungen können sich die Teilnehmer(innen) überlegen, was sie in ihrer Freizeit gerne machen möchten und was sie brauchen, um dies in die Tat umzusetzen. Sie erhalten Informationen zu inklusiven Angeboten. Auch das praktische Tun kommt dabei nicht zu kurz: Gemeinsame Exkursionen, die Teilnahme an einem Kurs bei der VHS oder eine Führung durch die VHS gehören dazu.
Konkrete Beratung von Menschen mit Behinderung gab es zur Erstellung eines Rückmeldebogens in Leichter Sprache. "Eine Gruppe von Menschen mit Behinderung, die regelmäßig die Angebote des ,Treffpunkts‘ besucht, gab wertvolle Hinweise, so dass die VHS nun einen Bogen hat, der auch von Menschen mit Lernschwierigkeiten gut ausgefüllt werden kann", so Sabine Braith.
Was für die VHS eine wichtige Erfahrung war, erzählt Katrin Wahner: "Mich persönlich hat am meisten die Aussage eines Teilnehmers einer inklusiven Führung durch die VHS beeindruckt. Er dachte nämlich immer, dass in dieses Gebäude nur ganz besondere und wichtige Menschen gehen. Und er freute sich sehr, nun selber dabei zu sein. So konkret erlebbar kann Teilhabe sein."
Anmerkung
1. Eine unterstützte Kommunikationsform für Menschen mit Sprachbehinderung.
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