Verantwortung für das Schicksal künftiger Generationen
Die Generationenethik, also das systematische, methodisch fundierte Nachdenken über die zwischen den Generationen geltenden moralischen Beziehungen, ist in vielerlei Hinsicht eine sehr junge Bereichsethik. Zwar war seit der griechischen Antike die Idee der Gerechtigkeit ein Gegenstand intensiver philosophischer Debatten, systematische Konzepte und Theorien zur Gerechtigkeit zwischen nicht überlappenden Generationen wurden allerdings erst in den letzten Jahrzehnten formuliert. Diese Zeitverzögerung erklärt sich aus dem unterschiedlichen menschlichen Aktionsradius damals und heute.
Versetzen wir uns um einige Hunderttausend Jahre zurück, als die ersten Vertreter der Gattung Homo, also die ersten Menschen, in Ostafrika jagten, stritten und sich liebten. Damals unterschied sie bei all diesen Tätigkeiten kaum etwas von ihren nächsten Verwandten, den Schimpansen. Wie wurde es möglich, dass die Nachfahren der einen Gruppe eines Tages über den Mond spazieren, Atome spalten, das Klima erwärmen und Roboter bauen würden, während die anderen blieben, was sie waren? Der Weg dorthin führte über die Beherrschung des Feuers, die kognitive, die landwirtschaftliche und schließlich die wissenschaftliche Revolution. Aber die allergrößte Zeitspanne ihrer Existenz war die Menschheit sowohl zahlenmäßig zu gering als auch technologisch zu rückständig, um einen wirklich bedeutenden Fußabdruck auf der Erde zu hinterlassen.
Nachbarschaftsethik wird zu Generationenethik
Diese Machtlosigkeit früherer Generationen erklärt, warum selbst die bedeutendsten Ethiker früherer Epochen der Verantwortung für kommende Generationen kaum Interesse widmeten. Platon kannte kein Plutonium. Es bestand keine Notwendigkeit für ihn oder andere Ethiker seiner Epoche, künftige Generationen in ihre Überlegungen einzubeziehen. Moralische Fragen des richtigen oder falschen Verhaltens bezogen sich de facto auf den Umgang mit Nachbarn, mit anderen Ständen, mit dem anderen Geschlecht. Diese Begrenztheiten rechtfertigen es, von einer "Nachbarschaftsethik" zu sprechen und diese klar von der "Generationenethik" abzugrenzen. Die "Nachbarschaftsethik" kannte weder den Begriff der intergenerationellen Verantwortung noch der intergenerationellen Gerechtigkeit. Erst seit dem 20. Jahrhundert hat die Menschheit dank moderner Technik das Potenzial, durch ihr Handeln das Schicksal von künftigen Generationen und der Natur im globalen Maßstab bis in die ferne Zukunft irreversibel negativ zu beeinflussen. Der Philosoph Hans Jonas arbeitete in seinem epochemachenden Buch "Das Prinzip Verantwortung" deutlich heraus, was in allen Zeitaltern bis zum 20. Jahrhundert galt, dass nämlich "[…] aller Größe seiner schrankenlosen Erfindsamkeit ungeachtet der Mensch, gemessen an den Elementen, immer noch klein ist: eben dies macht seine Ausfälle in sie so verwegen und erlaubt es jenen, seinen Vorwitz zu dulden. Alle Freiheiten, die er sich mit den Bewohnern des Landes, des Meeres und der Luft herausnimmt, lassen doch die umgreifende Natur dieser Bereiche unverändert und ihre zeugenden Kräfte unvermindert. Ihnen tut er nicht wirklich weh, wenn er sein kleines Königreich aus ihrem großen herausschneidet. Sie dauern, während seine Unternehmen ihren kurzlebigen Lauf nehmen. So sehr er auch die Erde Jahr um Jahr mit seinem Pfluge plagt - sie ist alterslos und unermüdbar; ihrer ausdauernden Geduld kann und muß er trauen und ihrem Zyklus muß er sich anpassen."1
Man mag Jonas vorwerfen, dass sein Naturbild zu sehr von einer stabilen, unverwüstlichen Natur ausgeht. Denkt man an die fünf geologischen Phasen globalen Artensterbens sowie an den Wechsel von Eis- und Warmzeiten, so muss man die Natur als deutlich dynamischer, ja katastrophenanfälliger einstufen.
Der Natur mit großer Schläue begegnen
Jonas’ entscheidender, unstrittiger Punkt ist jedoch, dass der Mensch vor Anbruch der Neuzeit relativ wenig Einfluss auf die globale, überregionale Natur hatte. Der Mensch brachte das ihn umgebende Ökosystem nicht aus dem Gleichgewicht, eine Ethik der Verantwortung gegenüber der Natur war überflüssig. Vielmehr war der Mensch gut beraten, der Natur mit möglichst großer Schläue und Effizienz zu begegnen, um ausreichend an ihren scheinbar unerschöpflichen Ressourcen teilzuhaben. Was früher schicksalhaft hinzunehmen war, rückte mehr und mehr in den Umkreis der Beeinflussbarkeit. Die Zeitskalen von Mensch und Natur sind im 20. Jahrhundert auseinandergefallen. Wie Abb. 1 links illustriert, hat die Menschheit heute die Möglichkeit, durch ihre Eingriffe die Zukunft auf Jahrtausende hinaus zu prägen. Ihr eigener Horizont (durchschnittliche Amtszeit einer Regierung; durchschnittliche Lebensdauer) bleibt aber weit kürzeren Zeitspannen verhaftet.
Die Überfischung einzelner Seen, die Entwaldung einzelner Landstriche und der Verlust von Artenvielfalt sind beileibe keine neuen Phänomene. Aber zu früheren Epochen waren sie räumlich begrenzt; erst in der Neuzeit treten sie global und sehr beschleunigt auf. Die Herausforderungen wuchsen mit dem Lebens- und Wirkungsradius des Menschen. Nur die Ethik wuchs lange nicht mit. Das Neuland, das die Menschheit mit der Hochtechnologie betreten hat, war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts für die ethische Theorie noch ein "Niemandsland".2 Die Ethik befand sich quasi noch im Newton’schen Zeitalter, während die Technik schon im Zeitalter der Quantenmechanik und des Atoms angekommen war. Es zeichnet sich ab, dass Geologen bald offiziell das Holozän für beendet erklären werden.3 Der Name des neuen Zeitalters "Anthropozän" trägt die Konnotation, dass die Menschheit mächtiger ist, als man zu Beginn der Umweltbewegung annahm. Dieser neue Denkrahmen berücksichtigt, dass die Menschheit als Ganzes zu einer quasi-geologischen Kraft geworden ist - für die Generationenethik stellt sich somit die neue Herausforderung, für den Umgang mit Umwelt und Technik neue moralische Maßstäbe zu entwickeln, die "urenkeltauglich" sind.
Generationengerechtigkeit ist nicht nur Gerechtigkeit zwischen heute und morgen, sondern auch zwischen Jung und Alt. Eine Maßzahl für letztere Form der Gerechtigkeit ist der sogenannte "Senioren-Bias-Indikator für Sozialausgaben" (EBiSS). Er misst, ob staatliche Ausgaben eher für die Belange der älteren oder der jüngeren Generation ausgegeben werden.4 Der um die demografische Struktur bereinigte Indikator ermöglicht, Länder unabhängig von ihrer Alterung zu vergleichen. Es zeigt sich, dass zum Beispiel Polen 8,6-mal so viel für Senioren ausgibt wie für Nicht-Senioren, Island aber nur 1,8-mal so viel. Der deutsche Staat gibt rund viermal so viel für Senioren aus wie für Nichtsenioren.
Der EBiSS ist ein guter Indikator, wie weit junge Menschen sich noch politisch durchsetzen können, wenn es um die Verteilung knapper staatlicher Ressourcen geht. Je ungünstiger dieser Wert, desto eher ist es berechtigt, von einer "Gerontokratie" zu sprechen.
In der Fachdiskussion ist unstrittig, dass sich Fragen der Generationengerechtigkeit (intergenerationelle Gerechtigkeit) nie zwischen Zeitgenossen des gleichen Alters stellen. Im Bereich der intragenerationellen Gerechtigkeit, also innerhalb einer (wie auch immer definierten) Generation, lässt sich die Gerechtigkeitsfrage weiter ausdifferenzieren, wie Abb. 2, S. 27 zeigt. Sie kann bezogen werden auf Geschlecht, Einkommen, Familienstand, Beruf, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund und viele andere Gruppen, die sich unterscheiden - aber ähnlich alt sind.
Davon abzugrenzen ist der Bereich der Generationengerechtigkeit (linke Spalte in Abb. 2). Probleme der Generationengerechtigkeit können in unterschiedlichen räumlichen Kontexten abgehandelt werden, zum Beispiel "global" beim Thema Klimawandel oder "national" beim Thema Staatsverschuldung.
Konkretes, generationengerechtes Handeln
Ein Gebot der Generationengerechtigkeit ist es, das Naturkapital ungeschmälert zu erhalten. Erneuerbare Energieressourcen dürfen nur in dem Maß genutzt werden, wie sie sich erneuern. Nicht erneuerbare Energieressourcen müssen so sparsam wie möglich genutzt werden, damit nachrückende Generationen Gelegenheit bekommen, Substitute dafür zu schaffen. Die Vielfalt an Arten und Ökosystemen darf nicht reduziert werden. Luft, Wasser und Boden dürfen nur in dem Maße mit schädlichen Stoffen belastet werden, wie sie abgebaut werden können.
In der Arbeitswelt ist das Senioritätsprinzip abzuschaffen, etwa beim Entgelt, bei Urlaub und bei Abfindungen. Die Einstiegslöhne sollten stärker steigen als die Löhne älterer Arbeitnehmer. Bei betriebsbedingten Kündigungen sollte nach sozialen Kriterien (zum Beispiel Familienangehörige) differenziert werden. Es darf nicht sein, dass ein alleinstehender 50-Jähriger allein aufgrund seines Alters einen stärkeren Kündigungsschutz genießt als eine alleinerziehende 25-Jährige.
Generationengerechtigkeit in der Politik heißt, altersbezogene Ausgaben (Pensionen, Pflege, Gesundheit) nicht schneller wachsen zu lassen als jugendbezogene Ausgaben (Bildung, Familienförderung), sofern man die Alterung der Gesellschaft herausrechnet.
Anmerkungen
1. Jonas, H.: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M., 1979, S. 19.
2. Ebd., S. 7.
3. www.spiegel.de/wissenschaft/natur/anthropozaen-geologen-wollen-neues-erdzeitalter-ausrufen-a-1109950.html
4. Vgl. Bertelsmann Stiftung: Intergenerational Justice in Aging Societies. A Cross-national Comparison of 29 OECD Countries. Gütersloh, 2013, S. 26.
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