Bei uns soll keiner einsam sterben
Studien, Umfragen und Medienberichte dokumentieren eine weit verbreitete Akzeptanz der aktiven Sterbehilfe in der Bevölkerung. Auffallend ist die vergleichsweise hohe Suizidrate älterer Menschen gegenüber anderen Altersgruppen. Viele Menschen haben Angst vor unerträglichen Schmerzen, vor Kontroll- und Bedeutungsverlust, davor, von Apparaten abhängig zu sein und anderen zur Last zu fallen. Diese Ängste lassen den Tod nicht als echte Alternative, wohl aber als kleineres Übel erscheinen, das im assistierten Suizid gewählt wird.
Diese Entwicklung nimmt der Deutsche Caritasverband (DCV) mit Sorge zur Kenntnis. Nach Überzeugung der Caritas darf es nicht dazu kommen, dass sich jemand rechtfertigen muss, trotz großer Beeinträchtigungen weiterleben zu wollen. Deshalb unterstreicht der DCV die Bedeutung der am Hospizgedanken ausgerichteten Sterbebegleitung und richtete eigens dafür vom 1. Oktober 2014 bis 30. September 2016 eine zweijährige Projektstelle zum Thema "Bei uns soll keiner einsam sterben" ein. Das Projekt verfolgte zwei Ziele: zum einen die Begleitung der Gesetzgebungsverfahren zum Hospiz- und Palliativgesetz (HPG) und zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung. Zum anderen die Suche nach Wegen, wie eine hospizlich-palliative Kultur in den Diensten und Einrichtungen der Caritas weiter befördert werden kann. Gegenüber Politik und Öffentlichkeit wurde zusätzlich zu den gemeinsamen Stellungnahmen zum HPG von DCV und Diakonie Deutschland (DD) eine gemeinsame Erklärung von Caritas und Diakonie zur Verbesserung der Palliativversorgung in Pflegeheimen und Krankenhäusern auf den Weg gebracht.1 Gesetzliche Regelungen zum assistierten Suizid und der gewerblichen Suizidbeihilfe wurden durch eine gemeinsame Stellungnahme von Katholischem Büro und EKD in Kooperation mit dem DCV2 bewertet.
Das Hospiz- und Palliativgesetz trat am 8. Dezember 2015 in Kraft, das Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung am 10. Dezember 2015. Mit der zeitlich nahen Abfolge beider Gesetze verbindet die Politik die Hoffnung, dass nach Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung der Wunsch nach assistiertem Suizid erst gar nicht aufkommt.
Beim HPG wurden einige Forderungen der Caritas erfüllt: so zum Beispiel die einer verbesserten Finanzierung der stationären Hospize und der ambulanten Hospizdienste, deren Begleitungen nun auch im Krankenhaus angerechnet werden können. Ebenso können Sozialstationen ihre Leistungen bei der Sterbebegleitung besser bei den Krankenkassen abrechnen und Palliativstationen im Krankenhaus erhalten künftig mehr Geld. Das Know-how multiprofessioneller Palliativdienste im Krankenhaus kann auf allen Stationen genutzt werden. Die spezialisierte ambulante Palliativversorgung wurde durch ein Schiedsverfahren weiterentwickelt. Es soll helfen, dass sterbende Menschen zu Hause bleiben können und während ihrer letzten Tage nicht ins Krankenhaus müssen.
Andere Maßnahmen wie die "Gesundheitliche Versorgungsplanung" für die letzte Lebensphase in stationären Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe bleiben unzureichend, weil es dadurch nicht mehr Pflegepersonal gibt.3 Nun steht die Umsetzung des HPG in den Einrichtungen und Diensten an.
Fachbereichsübergreifende Werkstatt-Tagung
Das zweite Projektziel hatte im Blick, wie eine hospizlich-palliative Kultur in den Diensten und Einrichtungen der Caritas weiterentwickelt werden kann. Deshalb veranstaltete die Caritas in Kooperation mit den Fachverbänden Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP), Katholischer Krankenhausverband Deutschlands (KKVD) und dem Verband Katholischer Altenhilfe in Deutschland (VKAD) am 27. April 2016 in Frankfurt eine fachbereichsübergreifende Werkstatt-Tagung mit dem Titel "Bei uns soll keiner einsam sterben. Wie wir die Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen in den Diensten und Einrichtungen der Caritas weiter verbessern können".
Die Teilnahme von mehr als 100 Trägervertreter(inne)n und Mitarbeitenden aus den Bereichen stationäre Altenhilfe, ambulante häusliche Pflege/Sozialstationen, Behindertenhilfe, Krankenhaus, Krankenhausseelsorge und Hospiz zeigte die Bedeutung und Aktualität des Themas. Nach der Eröffnung und Einführung durch Prälat Peter Neher, Präsident des DCV, wurden unter anderem die Ergebnisse einer anonymen Online-Befragung vorgestellt. Diese enthielt 18 Fragen mit Blick auf die Einrichtung beziehungsweise den Dienst, in dem die Mitarbeitenden tätig sind, und zu teilweise sehr persönlichen Einschätzungen zum Thema Sterben und Tod. Die Ergebnisse sollten ein Stimmungsbild zeigen und als Grundlage für die Weiterentwicklung der Sterbebegleitung dienen.
Eine Umfrage erreichte große Resonanz
Mehr als erwartet, nämlich 660 Caritas-Mitarbeitende aus den verschiedenen
Einrichtungen und Diensten der Caritas, hatten die Fragen beantwortet. Die Rückmeldungen verteilten sich wie folgt auf die vier Arbeitsbereiche: stationäre Pflegeeinrichtung (43 Prozent), ambulante Pflege/Sozialstation (24 Prozent), Einrichtung der Behindertenhilfe (18 Prozent) und Krankenhaus (15 Prozent).
Die Umfrage zeigte, dass die meisten der Befragten sich bereits Gedanken gemacht haben, wie sie sterben wollen (88 Prozent) und auch schon mit jemandem darüber gesprochen haben (75 Prozent). Bestätigt wurde, dass die meisten zu Hause sterben wollen (70 Prozent), 41 Prozent wollen in der vertrauten Umgebung, zu der auch die stationäre Pflegeeinrichtung gehört, sterben und nur sieben Prozent im Krankenhaus. Dennoch sterben heute nach wie vor die meisten Menschen im Krankenhaus und in Pflegeheimen (75 Prozent).
68 Prozent der Befragten glauben, dass es Menschen gibt, die am Ende ihres Lebens bei ihnen sind. Ebenfalls bestätigt wurde, dass die größte Sorge der Befragten am Lebensende darin besteht, die Selbstbestimmung zu verlieren (71 Prozent), unerträgliche Schmerzen zu haben (69 Prozent), von Apparaten abhängig zu sein (52 Prozent), jemandem zur Last zu fallen (44 Prozent) sowie einsam zu sein (35 Prozent).
Es läuft aber bereits auch schon einiges "richtig gut" bei der Begleitung Sterbender: Angegeben wurden unter anderem die individuelle Begleitung, der kollegiale Austausch und die Unterstützung im Team sowie die Gewährleistung von Schmerzfreiheit durch entsprechende Kooperation mit den Haus- und Palliativärzt(inn)en. Dort, wo es Konzepte zur Sterbebegleitung gibt (73 Prozent), werden diese
auch umgesetzt (86 Prozent). Die meisten Konzepte gibt es in stationären Pflegeeinrichtungen (91 Prozent). Fort- und Weiterbildungen werden für Mitarbeitende angeboten. Das ist auch notwendig, denn nur 44 Prozent der Mitarbeitenden im Bereich der Behindertenhilfe fühlen sich durch ihre Ausbildung für die Begleitung Sterbender gut vorbereitet. Im Gesamtdurchschnitt sind es 59 Prozent, womit es auch dort noch "Luft nach oben" gibt.
Die Zusammenarbeit mit den ambulanten Hospizdiensten ist in allen Bereichen sehr unterschiedlich. Die religionssensible, interkulturelle Sterbebegleitung ist noch wenig im Blick (elf Prozent), am ehesten im Krankenhaus (33 Prozent). Auch die Sozialstationen scheinen hier weit zu sein, da sie biografieorientiert arbeiten und Gast in der Häuslichkeit des Sterbenden sind. Das jedenfalls war ein Ergebnis der "AG ambulante häusliche Pflege" auf der Werkstatt-Tagung, auch wenn die Umfrage ein anderes Bild für die Sozialstationen ergab (sechs Prozent).
Strukturen für ethische Entscheidungsfindungen sind im Krankenhaus am besten (81 Prozent). Krankenhaus-Mitarbeitende haben weniger Angst vor unerträglichen Schmerzen (57 Prozent) und davor, von lebenserhaltenden Apparaten abhängig zu sein (39 Prozent), als Mitarbeitende aus den anderen Arbeitsfeldern (79 Prozent beziehungsweise 50 Prozent). Mehr Zeit und ein höherer Personalschlüssel stellen nach wie vor geforderte Verbesserungsbedarfe in Bezug auf die Begleitung sterbender Menschen dar.
In fachspezifischen Arbeitsgruppen wurden auf der Werkstatt-Tagung Fragen nach Gewährleistung von Schmerzfreiheit, ethischen Entscheidungsfindungen in kritischen Situationen, Religionssensibilität, Einbeziehung von Angehörigen/ambulanten Hospizdiensten sowie die Qualifizierung und Begleitung der Mitarbeitenden diskutiert.
Das Fazit: viel guter Wille - und Bedarf zum Austausch
Als Fazit der Werkstatt-Tagung kann festgehalten werden: Es gibt viel guten Willen und es war gut, die verschiedenen Bereiche an einen Tisch zu holen. Es braucht - so die Rückmeldung vieler Teilnehmer(innen) - solche fachbereichsübergreifende Austauschmöglichkeiten. Fragen zur Qualifikation der Mitarbeitenden, mit dem Ziel, eine Hospiz- und Palliativkultur in den Diensten und Einrichtungen zu implementieren, zur Schmerzbehandlung - gerade bei eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit in der Behinderten- und Altenhilfe - und zu Strukturen für ethische Entscheidungsfindungen müssen weiter im Blick bleiben. Ebenso braucht es die Haltung einer respektvollen Neugier auf die religiösen und kulturellen Hintergründe sterbender Menschen als zukünftig große gesellschaftspolitische Herausforderung. Weiter sollten Überlegungen zur guten Zusammenarbeit mit ambulanten Hospizdiensten sowie zur regionalen Netzwerkbildung und Überwindung der Fraktionierung der verschiedenen Hilfesysteme fortgeführt werden, um eine "Polonaise der Helfenden"4 zu vermeiden. Das größte Problem bleibt der Personal- und damit verbunden der Zeitmangel. Die gesamte Dokumentation der Werkstatt-Tagung einschließlich der Ergebnisse der Online-Befragung steht unter www.caritas.de/sterbebegleitung als Download zur Verfügung.
Information nimmt Ängste
Hingewiesen sei an dieser Stelle auf eine hausinterne Veranstaltung des DCV in Zusammenarbeit mit der Arbeitsstelle Theologie und Ethik am 21. April 2016 zum Thema "Wie möchte ich sterben? Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung aus juristischer und ethischer Perspektive". Im Vorfeld wurde ebenfalls ein anonymer Fragebogen mit zehn Fragen für die Mitarbeitenden und Pensionär(inn)e(n) im DCV entwickelt. Ziel der Umfrage war es, zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben anzuregen und ein Stimmungsbild zu bekommen. Auch wenn sich 91 Prozent der Befragten bereits Gedanken über den eigenen Tod gemacht haben und die Begriffe "Hospiz- und Palliativversorgung" bekannt sind (95 Prozent), waren sich 66 Prozent der Antwortenden nicht im Klaren, welche Form der Vorsorge am besten geeignet ist, auch beim Sterben so weit wie möglich nach den eigenen Vorstellungen versorgt zu werden. Dies zeigt, wie sinnvoll diese hausinterne Veranstaltung war. Informationen über Vorsorgevollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung können helfen, Ängste abzubauen. Deshalb sei hier die Empfehlung ausgesprochen, eine solche Infoveranstaltung in den Diensten und Einrichtungen der Caritas anzubieten.
Es bleibt Aufgabe der Caritas, die Sorgen und Ängste der Menschen im Blick auf ihr Lebensende weiter ernst zu nehmen und diesen zusammen mit den Einrichtungsfachverbänden und allen Mitarbeitenden auch im ambulanten Bereich durch die Beförderung einer hospizlich-palliativen Kultur entgegenzuwirken. Die Mitarbeitenden sollen bestärkt werden, als Menschen mit Haltung und Fachwissen präsent zu sein.
Zu hoffen ist, dass eine hospizlich-palliative Haltung in unsere Gesellschaft hineinwirkt. Dann darf diese hospizlich-palliative Kultur jedoch nicht erst am Sterbebett beginnen. Es braucht schon jetzt eine gelebte Kultur der Offenheit und Ehrlichkeit, in der es möglich ist, zu sagen, wovor ich zum Beispiel Angst habe oder mich sorge, eine Kultur des erfahrbaren respektvollen Umgangs, der Wertschätzung, der Empathie und Mitmenschlichkeit und der menschlichen Zuwendung als wesentlichen Inhalt von Begleitung und Behandlung. Dafür sind gesetzliche Rahmenbedingungen äußerst wichtig. Doch gesetzlich verordnen lässt sich diese Haltung nicht. Sie fängt mit dem liebevollen Umgang mit mir selbst an: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Eigentlich ganz einfach - und doch so schwer.5
Anmerkungen
1. Deutscher Caritasverband und Diakonie Deutschland: Gemeinsame Stellungnahme zum Gesetzentwurf zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung und Gemeinsame Erklärung von Caritas und Diakonie zur Palliativversorgung. Download unter www.caritas.de/palliativversorgung; siehe zur gemeinsamen Stellungnahme auch neue caritas Heft 18/2015, S. 31-34.
2. Download unter www.ekd.de/download/2015-09-11_Stellungnahme_Suizidhilfe_ endg.pdf
3. Eine Zusammenfassung der Verbesserungen für sterbende Menschen durch das HPG gibt es auf www.caritas.de/magazin/schwerpunkt/sterben-und-tod/verbesserte-begleitung-sterbender-mensch
4. Zitat im Fishbowl von Bernd Oliver Maier, Chefarzt Palliativmedizin und interdisziplinäre Onkologie, Med. Klinik III, St. Josefs-Hospital, Wiesbaden
5. Hingewiesen sei hier auf die Fortbildungsangebote des KKVD für Krankenhausseelsorger(innen) zu "Heilende Begegnungen und erfüllende Beziehungen. Vom liebevollen Umgang mit mir und Anderen … nicht nur im Klinikalltag" (www.kkvd.de), s.a. S. 41.
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