Reform darf Flüchtlingsrechte nicht schwächen
Lange Zeit waren flüchtlingspolitische Fragen kein Thema für die europäische Ebene.1 Dies änderte sich erst 1985, als mit dem sogenannten Schengener Abkommen der schrittweise Abbau der Personengrenzkontrollen zwischen den Beneluxstaaten, Deutschland und Frankreich beschlossen wurde. Um zu vermeiden, dass Schutzsuchende ungehindert in andere Schengen-Mitgliedstaaten weiterwandern und dort (gegebenenfalls weitere) Asylanträge stellen, war im Abkommen eine Angleichung der Vorschriften zur Visaerteilung vorgesehen; mit den 1990 geschlossenen "Schengen II"- und Dublin-Übereinkommen wurden Regelungen für die Zuständigkeit für Asylanträge festgelegt. Der Grundstein für eine gemeinsame Einwanderungskontrollpolitik war gelegt.
Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam im Mai 1999 wurde die Asyl- und Einwanderungspolitik ganz offiziell zur EU-Sache (einem sogenannten "vergemeinschafteten Politikbereich"). Als verbindlicher Maßstab wurde dabei verankert, dass die europäische Flüchtlingspolitik in Einklang mit internationalen Vorgaben stehen muss - wie etwa der Genfer Flüchtlingskonvention. Damit waren die rechtlichen Voraussetzungen für ein gemeinsames europäisches Asylsystem (GEAS) geschaffen. Dieses nahm dann bis 2005 durch die Schaffung vier zentraler Instrumente Gestalt an:
- die "Anerkennungsrichtlinie", die Mindestnormen für die Anerkennung von Asylbewerber(inne)n sowie die Rechte von anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Geschützten festlegt;
- die "Aufnahmerichtlinie", die Standards zu sozialen Aufnahme-, Unterbringungs- und Versorgungsbedingungen definiert;
- die "Asylverfahrensrichtlinie", die das Ziel einer Standardisierung bei der Durchführung von Asylverfahren verfolgt sowie
- die "Dublin-II-Verordnung", die das Dubliner Übereinkommen ablöste und die Zuständigkeit für die Antragsprüfung festlegt. Flankiert werden die Dublin-Regelungen durch die Eurodac-Verordnung beziehungsweise das Euro-dac-System: Bei der Antragstellung werden die Fingerabdrücke aller Asylbewerber(innen) abgenommen und anschließend zusammen mit weiteren Daten in einer EU-weiten Datenbank für die Asylbehörden der Mitgliedstaaten verfügbar gemacht. Dadurch soll leichter bestimmt werden können, welcher Staat für das Asylverfahren zuständig ist.
Reformbedarf des europäischen Asylsystems
Trotz der Harmonisierung des gemeinsamen Asylrechts (GEAS I) blieben zentrale Herausforderungen ungelöst. Viele der Vorgaben und Mindeststandards waren zu vage und wurden von den Mitgliedstaaten zum Teil bewusst unterschritten. Problematisch blieben vor allem die großen Unterschiede zwischen den nationalen Schutzquoten, aber auch die mangelhaften Unterbringungs- und Verfahrensstandards in einigen Mitgliedstaaten wie zum Beispiel in Griechenland, Italien oder Zypern. Häufig wurde und wird dieser Zustand mit den Begriffen "Schutz-" oder "Asyllotterie" verbildlicht: 2015 lag etwa die Anerkennungsquote von syrischen Asylbewerber(inne)n in Ländern wie Deutschland, Frankreich und Bulgarien nahe 100 Prozent, in Italien und Rumänien jedoch nur bei unter 60 Prozent (EU-Durchschnitt: 97 Prozent). Bei Asylbewerber(inne)n aus Ländern wie Afghanistan, Eritrea oder Irak lagen die Anerkennungsquoten teils noch deutlich weiter auseinander.
Abhilfe schaffen sollte eine Novellierung/Komplettierung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS II), die bis Mitte 2015 umgesetzt wurde. Die Dublin-III-Verordnung - der umstrittenste Teil der Novelle, der nahezu fünf Jahre verhandelt worden war - trat bereits am 1. Januar 2014 in Kraft. Die hohen Zugangszahlen im Sommer/Herbst 2015 aufgrund des Krieges in Syrien und die katastrophale Behandlung der Asylsuchenden in Ungarn führten jedoch kurz darauf dazu, dass das "Dublin?III"-System wieder infrage gestellt wurde. Nicht zuletzt Bundeskanzlerin Angela Merkel merkte in einer Rede vor dem Europäischen Parlament am 7. Oktober 2015 an, dass das Dublin-System so nicht funktioniere. Daher hat die EU-Kommission am 4. Mai 2016 einen Entwurf für eine Reform der "Dublin III"-Verordnung vorgelegt ("Dublin IV"). Dieser Entwurf muss gemäß des regulären Gesetzgebungsverfahrens vom Europäischen Parlament und vom Europäischen Rat beschlossen werden. Er wird daher noch erhebliche Änderungen erfahren. Die EU-Kommission hat außerdem im Juli 2016 Vorschläge unterbreitet, um die anderen drei Bestandteile des GEAS (Anerkennungsrichtlinie, Aufnahmerichtlinie und Asylverfahrensrichtlinie) mit dem Ziel einer nahezu vollständigen Harmonisierung zu reformieren.
Wie funktioniert "Dublin" und was soll geändert werden?
Die Dublin-Verordnung bestimmt, welcher EU-Mitgliedstaat für die Durchführung des Verfahrens von Asylsuchenden zuständig ist. Als Grundregel gilt dabei, dass das Land zuständig ist, in dem der oder die Geflüchtete zum ersten Mal EU-Boden betreten hat. Reist ein(e) Geflüchtete(r) also etwa über Italien in die EU ein und stellt seinen/ihren Asylantrag in Deutschland, kann er oder sie nach Italien zurückgeschickt werden - auch zwangsweise. Diese Regel soll zwei Dinge verhindern: zum einen die Situation, dass sich kein EU-Land für eine(n) Asylbewerber(in) zuständig fühlt und diese(r) deswegen zwischen den Mitgliedstaaten hin- und hergeschickt wird (Vermeidung sogenannter "refugees in orbit"), zum anderen, dass Asylbewerber(innen) sich das EU-Land für ihr Asylverfahren frei aussuchen (sogenanntes "Asylshopping").
Durch die Dublin-Regeln sind zumeist die Länder an den EU-Außengrenzen zuständig, etwa Griechenland, Italien, Kroatien oder Ungarn. Dies führt dazu, dass diese Staaten überlastet sind und/oder Asylsuchende dort einer so schlechten Behandlung unterliegen, dass sie in andere EU-Staaten weiterfliehen. Bereits 2011 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) daher Rücküberstellungen nach Griechenland wegen der dortigen systemischen Mängel des Asylverfahrens und bei den Aufnahmebedingungen untersagt. Es besteht weiterhin Konsens, dass Griechenland die systemischen Mängel des Verfahrens bis jetzt nicht beheben konnte.
Mit der Dublin-Reform möchte die Kommission nun eine faire Verantwortungsteilung unter den Mitgliedstaaten herstellen und "sekundäre Wanderungsbewegungen" innerhalb der Europäischen Union unterbinden. Dabei ist zum einen zu prüfen, ob der Vorschlag der Kommission diese Ziele praktisch verwirklichen kann und zum andern, ob dies den menschenrechtlichen Standards der EU genügt.
Die EU soll nur noch nachrangiger Schutzraum sein
Der Kommissionsentwurf sieht einen grundsätzlichen Wechsel des Europäischen Schutzsystems vor. Danach sollen die Staaten der Europäischen Union in Zukunft für Asylsuchende, die in der EU ankommen und einen Schutzantrag stellen, nur noch nachrangig zuständig sein. Es wird ein verpflichtendes Zulässigkeitsverfahren durchgeführt, in dem festgestellt werden soll, ob ein(e) Asylsuchende(r) nicht in einen "sicheren Drittstaat" oder den "ersten Asylstaat" abgeschoben werden kann, also in Staaten außerhalb der EU. Es ist vorgesehen, dass gegen den Ausgang dieser Vorprüfung ein Rechtsmittel eingelegt werden kann. Das bedeutet, dass jeder Mitgliedstaat, der seine Zuständigkeit im Dublin-Verfahren prüfen will, zunächst diese Zulässigkeitsprüfung durchführen muss. Vorgebliches Ziel der Reform des Dublin-Systems ist jedoch, dieses besser auf hohe Zugangszahlen einzurichten. Wie derzeit am Beispiel Griechenlands bei der Umsetzung des EU-Türkei-Deals zu sehen ist, dauern solche Vorprüfungsverfahren aber auch mitunter Monate. Für diese Phase wird dem Mitgliedstaat jedoch durch den Kommissionsentwurf keine solidarische Unterstützung angeboten. Dabei ist davon auszugehen, dass die Ersteintrittsländer, die vor allem von dieser Prüfungspflicht betroffen sein werden, Griechenland, Italien und Malta sind. Die Caritas befürchtet daher, dass es durch das Vorprüfungsverfahren zu einer erheblichen Belastung von Mitgliedstaaten kommt, die jetzt bereits überlastet sind.
Asylsuchende ohne Mitspracherecht
Unterstützung sollen die Erstaufnahmestaaten durch den "Fairness-Mechanismus" erhalten. Dieser Mechanismus, der zu einer Umverteilung von Asylsuchenden aus den Erstaufnahmestaaten der EU führen soll, soll erst dann greifen, wenn diese Staaten mehr als 150 Prozent einer Quote erfüllt haben. Welcher Mitgliedstaat nach dieser Quote wie viele Asylsuchende aufnehmen muss, berechnet sich vor allem nach dessen Wirtschaftskraft. Die Verteilung erfolgt dann automatisch nach der berechneten Quote, ohne dass dabei Interessen und Wünsche der Asylsuchenden berücksichtigt werden. Dies ist insofern problematisch, als dass diese Verteilentscheidung nicht nur für das Asylverfahren gilt, sondern auch noch nach Anerkennung fortbesteht. Wie bislang schon muss ein anerkannter Flüchtling dann möglicherweise für viele Jahre in dem Mitgliedstaat seines Asylverfahrens verbleiben - ein Problem, wenn es in dem Staat nahezu keine Arbeitsmöglichkeiten gibt, weil die Wirtschaft am Boden liegt. Erst nach fünf Jahren kann er dann auf Grundlage der Daueraufenthaltsrichtlinie unter schwierigen Umständen in ein anderes Land wechseln. Allerdings muss er dazu eine Beschäftigungsmöglichkeit nachweisen (in Deutschland erfolgt zudem wegen des sogenannten Vorrangprinzips zunächst eine Prüfung, mit der ausgeschlossen werden muss, dass für den jeweiligen Arbeitsplatz ein(e) Deutsche(r) oder aufenthaltsrechtlich bessergestellte(r) Ausländer(in) zur Verfügung steht).
Einschränkung humanitärer Spielräume
Eine weitere Verschärfung der Dublin-Verordnung soll humanitäre Spielräume einschränken. Mittels der bislang bestehenden Selbsteintrittsklausel kann ein Mitgliedstaat, der nach dem Dublin-System nicht zuständig war, dennoch die Zuständigkeit für eine(n) bei ihm aufhältige(n) Schutzsuchende(n) übernehmen. Dies nutzte Deutschland bislang in solchen (wenigen) Fällen, in denen sich die Lage in einem Mitgliedstaat für bestimmte Gruppen als besonders problematisch darstellte. Zum Beispiel macht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seit 2014 im Fall einer Zuständigkeit von Bulgarien von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch, wenn es sich bei den Schutzsuchenden um vulnerable Personen handelt (zum Beispiel Familien mit Kleinkindern). Denn die Bedingungen in Bulgarien sind unangemessen für diese besonders schutzbedürftigen Personengruppen und ihre spezifischen Bedarfe. Der Kommissionsentwurf sieht nun vor, dass die Ausübung des Selbsteintrittsrechts auf familiäre Konstellationen beschränkt werden soll. Dadurch würden gruppen- oder länderbezogene Lösungen aus humanitären Gründen ausscheiden.
Weniger Schutz für unbegleitete Minderjährige
Auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sollen nach dem Kommissionsvorschlag in ihren Rechten beschränkt werden. Wenn ein Minderjähriger ohne Eltern in die EU einreist, hat er nach dem geltenden Dublin-System das Recht, in dem EU-Staat zu bleiben, in dem er sich aufhält. Er darf prinzipiell nicht abgeschoben werden. In dem neuen Entwurf ist nun vorgesehen, dass derjenige Mitgliedstaat für den oder die unbegleitete(n) Minderjährige(n) zuständig ist, in dem der "erste" Asylantrag gestellt worden ist. Das bedeutet, dass der oder die Minderjährige, der oder die sich in Deutschland aufhält, nun wieder abgeschoben werden kann, wenn vormals zum Beispiel in Italien einen Asylantrag gestellt wurde. Dies stellt einen erheblichen Rückschritt im Minderjährigenschutz dar, der sicher vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg überprüft werden müsste. Denn der EuGH hatte in Bezug auf die derzeit geltende "Dublin III"-Verordnung zu dieser Frage entschieden, dass zum Schutz von Minderjährigen diese grundsätzlich nicht in andere Mitgliedstaaten überstellt werden sollten.
Weiterwanderungen werden sanktioniert
Weiterhin sollen Weiterwanderungen von einem Mitgliedstaat zum nächsten sanktioniert werden. Das soll in der Form geschehen, dass Schutzsuchende nur in dem Staat Leistungen erhalten können, der erstmals für sie zuständig geworden war. Ein konkretes Beispiel: Wandert ein Asylsuchender von Italien nach Deutschland weiter, weil sich beispielsweise hier ein volljähriger Bruder befindet, führt das zum Ausschluss von sämtlichen Sozialleistungen. Ihm soll dann nur noch in medizinischen Notlagen Hilfe zustehen. Darüber hinaus kann er, falls er zu spät in den zuständigen Mitgliedstaat zurückreist, sich im Rahmen seines Asylverfahrens nicht mehr darauf berufen, dass er in seinem Heimatland Verfolgung ausgesetzt war. In dieser Konstellation besteht die Gefahr, dass der Flüchtling entgegen dem völkerrechtlichen Zurückweisungsverbot in seinen Verfolgerstaat abgeschoben wird.
Entlastung der Ersteinreiseländer fraglich
Insgesamt sollen die Vorschläge dazu führen, dass in der Regel die Ersteinreiseländer zuständig sind und so das Asylverfahren beschleunigt wird. Als Anreiz für die Ersteinreisestaaten soll der Fairness-Mechanismus ins Spiel kommen. Bislang war ein wesentliches Problem, dass die Ersteinreiseländer wie Griechenland Asylsuchende häufig nicht registriert haben und so ihre Zuständigkeit nicht nachweisbar war. Warum sollten sie nun eine umfassende Registrierung von Asylsuchenden vornehmen? Die Kommission glaubt, es sei attraktiv für die Ersteinreiseländer, sämtliche Asylsuchende zu registrieren, da sie ab einer Zahl von 150 Prozent ihrer Quote durch den Umverteilungsmechanismus entlastet würden. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass - bevor der "Fairness-Mechanismus" greift - die Erstaufnahmestaaten die aufwendigen Vorprüfungsverfahren selber durchführen müssen. Ob sie, vor diese Wahl gestellt, trotz schon bestehender Überlastung dazu übergehen werden, lückenlos zu registrieren, um so zunächst für mehr Verfahren zuständig zu sein, erscheint bereits jetzt fraglich.
Die Reformvorschläge erweisen sich nach erster Prüfung aus Sicht der Caritas als insgesamt sehr problematisch. Die EU entzieht sich ihrer Verantwortung für die Aufnahme von Verfolgten, in dem sie eine Vorprüfung einführt, die es erlaubt, Antragsteller ohne inhaltliche Prüfung in Anrainerstaaten zurückzuschicken. Dies ist ein schlechtes Signal an Staaten wie Jordanien, Libanon und die Türkei, die bereits jetzt mit der Aufnahme von Flüchtlingen völlig überlastet sind.
Darüber hinaus ist nicht erkennbar, dass die Vorschläge in der Praxis zu einer Entlastung der Ersteinreise-Staaten innerhalb der EU führen werden. Es ist jedoch auch zu kritisieren, dass durch die Reform die Flüchtlingsrechte in Europa geschwächt werden. Der Deutsche Caritasverband versucht auf nationaler, wie auch auf europäischer Ebene zu verhindern, dass der Schutz für Verfolgte eingeschränkt wird, und zu erreichen, dass die EU sich ihrer Verantwortung stellt.
Anmerkung
1. Die Ausführungen in diesem und dem nachfolgenden Abschnitt ("Reformbedarf des europäischen Asylsystems") stützen sich, teils wörtlich, auf den Beitrag "Flucht und Asyl als europäisiertes Politikfeld: Errungenschaften und Harmonisierungsziele" der Bundeszentrale für politische Bildung vom 29. Mai 2015, www.bpb.de, Suche: Harmonisierungsziele.
„Dublin ist ein Schönwettersystem“
Irregulär in Deutschland – warum?
Endlich Klarheit beim ermäßigten Steuersatz
Mindestlohngesetz wirft noch immer viele Fragen auf
Für mehr grüne: Caritas_ökologisch verträgliches Biogas
Berührungsängste abbauen
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}