Endlich Klarheit beim ermäßigten Steuersatz
Bei der Umsatzbesteuerung von Dienstleistungen und Handelsbetrieben von Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) kam es bei Betriebsprüfungen mitunter zu erheblichem Diskussionsbedarf in Zusammenhang mit der Gewährung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes nach § 12 Abs. 2 Nr. 8a UStG (Umsatzsteuergesetz). Aufgrund der restriktiven Auffassung der Finanzverwaltung wurde die Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes bei sonstigen Leistungen oftmals verwehrt.1
Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) hat zu dieser Thematik mit Schreiben vom 25. April 2016 Stellung genommen und eine von der Praxis seit vielen Jahren vehement eingeforderte Anpassung des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses (UStAE) veranlasst.
Werkstätten konnten bislang den ermäßigten Umsatzsteuersatz nur auf den Verkauf von Waren, die in der Werkstatt selbst hergestellt wurden, sowie auf den Verkauf von zugekauften Waren anwenden, soweit diese be- oder verarbeitet wurden und dabei eine Wertschöpfungsquote von mehr als zehn Prozent eingehalten wurde. Die Ermäßigung galt dagegen nicht für sonstige Leistungen, die keine Werkstattleistungen sind, da ihnen das Kriterium der Herstellung oder Be-/Verarbeitung fehlt.2 Unter die sonstigen Leistungen fallen unter anderem die gesamten Dienstleistungsangebote wie zum Beispiel Gartenpflege oder Verpackungsarbeiten.
Nach § 136 Abs. 1 SGB IX dienen WfbM der Eingliederung von Menschen mit Behinderung in das Arbeitsleben und zur Teilhabe am Arbeitsleben. Darüber hinaus stellt §?5 der Werkstättenverordnung die Anforderung, dass Werkstätten über ein möglichst breites Angebot an Arbeitsplätzen verfügen müssen. Diese sollen in ihrer Ausstattung möglichst den Arbeitsplätzen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entsprechen. Der Begriff "Werkstatt" ist somit nicht ausschließlich auf produzierende Gewerbe beschränkt. Folglich können Werkstätten auch Arbeitsplätze im Bereich des Dienstleistungssektors anbieten, ohne dass sich hierbei der Charakter der Werkstatt an sich ändert.
Das BMF hat nun endlich das überholte steuerliche Bild einer WfbM an die tatsächlichen Verhältnisse des allgemeinen Arbeitsmarktes angepasst. Die Reduzierung von Menschen mit Behinderung auf das Handwerk - wohlgemerkt in einem Industriestaat, der sich selbst als Dienstleistungsgesellschaft rühmt und ein Bundesteilhabegesetz anstrebt - war zu Recht von der Praxis heftig kritisiert worden.
Begünstigte Leistungen
Das BMF stellte nunmehr klar, dass der ermäßigte Umsatzsteuersatz außer auf klassische Werkleistungen auch auf die Umsätze von Handelsbetrieben, die nach §?142 SGB?IX als zusätzlicher Arbeitsbereich anerkannt sind, anzuwenden ist. Die Entscheidung über die Anerkennung trifft auf Antrag die Bundesagentur für Arbeit im Einvernehmen mit dem überörtlichen Träger der Sozialhilfe. Dies soll ebenso für andere sonstige Leistungen (zum Beispiel Verpackungsleistungen) einer WfbM gelten, sofern sie in die Anerkennung nach §?142 SGB IX einbezogen sind.3 Insoweit liegt ein privilegierter Zweckbetrieb vor.4
Somit scheidet die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes lediglich in Fällen aus, bei denen sonstige Leistungen erbracht werden, die nicht von der Anerkennung nach §142 SGB IX gedeckt sind. Die Werkstätten sind somit angehalten, eine Bestandsaufnahme ihrer Leistungen durchzuführen und, sofern notwendig, Anerkennungen zu erwirken.5
Des Weiteren führt das BMF in seinem Schreiben Beispiele für sonstige Leistungen auf (Verpackungs-/Montagearbeiten, Handelsumsätze, Dienstleistungen wie Garten- und Außenanlagenpflege sowie Märkte und Gastronomiebetriebe). Künftig können auch andere Dienstleistungen durch die Werkstätten angeboten werden, zum Beispiel Logistikdienstleistungen.
Die geänderte Auffassung des BMF ist in allen offenen Fällen anzuwenden. Somit können die noch offenen Streitfälle im Zusammenhang mit laufenden Betriebsprüfungen beziehungsweise Einspruchsverfahren gütlich geklärt werden.
Prüfung der Erzielung zusätzlicher Einnahmen
Vorgesehen ist allerdings weiterhin die Prüfung, ob der Zweckbetrieb in erster Linie der Erzielung von zusätzlichen Einnahmen dient. Das vom BMF hierfür vorgesehene Prüfungsschema ist sehr komplex und beinhaltet eine Vielzahl von (auslegungsbedürftigen) Prüfungsschritten. Die praktischen Erfahrungen haben gezeigt, dass zumindest eine überschlägige Prüfung empfehlenswert ist.
Laut den Ausführungen in Abschnitt 12.9 Abs. 13 UStAE macht eine Prüfung der Anwendbarkeit des ermäßigten Umsatzsteuersatzes nur Sinn, wenn der jährliche Gesamtumsatz des Zweckbetriebes 35.000 Euro übersteigt. Wird diese Grenze unterschritten, ist der ermäßigte Umsatzsteuersatz in jedem Falle zu gewähren. Hierbei ist hinsichtlich der Ermittlung des Gesamtumsatzes zu beachten, dass Umsätze mit Unternehmern, die zum vollen Vorsteuerabzug berechtigt sind, unberücksichtigt bleiben. Maßgebend sind somit die Umsätze, die mit Privatpersonen getätigt werden oder mit Unternehmen, die steuerfreie Ausgangsumsätze ausführen (zum Beispiel Krankenhäuser).
Liegt der Gesamtumsatz über 35.000 Euro, so dient der Zweckbetrieb grundsätzlich in erster Linie der Erzielung von zusätzlichen Einnahmen, wenn
- die Menschen mit Behinderung nicht Arbeitnehmer der Einrichtung sind, sondern zum Beispiel von Zeitarbeitsfirmen entliehen werden, oder
- die Werkstatt von anderen Unternehmen zur Erbringung von Leistungen lediglich zwischengeschaltet wird oder in großem Umfang von nicht steuerbegünstigten Subunternehmern bedient wird.
Trifft all dies nicht zu, dann erfolgt die Prüfung anhand des Gesamtumsatzes der Einrichtung im Sinne der Kleinunternehmerregelung nach § 19 Abs. 1 bis 3 UStG.
Weiteres Kriterium: Gesamtumsatz pro Mitarbeiter
Beträgt der Gesamtumsatz weniger als 17.500 Euro je Beschäftigten, ist der ermäßigte Umsatzsteuersatz zu gewähren.6 Als Beschäftigter in diesem Sinne gilt jede(r) Mitarbeiter(in) mit Behinderung.
Wird die Umsatzgrenze von 17.500 Euro je Beschäftigten überschritten, ist in einem nächsten Schritt die Prüfung unter anderem folgender Anhaltspunkte vorzunehmen:7
- Fehlen von medizinisch, psychologisch, pädagogisch oder anderweitig spezifiziert geschultem Personal;
- Erbringung von Leistungen fast ausschließlich gegenüber nicht vorsteuerabzugsberechtigten Leistungsempfängern;
- Beschäftigung der Menschen mit Behinderung nicht im eigentlichen Erwerbsbereich, sondern überwiegend in Hilfsfunktionen.
Anhand von Praxiserfahrungen lässt sich festhalten, dass die obigen Anhaltspunkte in der Regel bei Werkstätten nicht zutreffen, so dass nach unserem Dafürhalten spätestens im Rahmen dieses Prüfungsschrittes der ermäßigte Umsatzsteuersatz dem Grunde nach zu gewähren ist.
Wird eine entgegengesetzte Auffassung vertreten, so ist in einem letzten Schritt zu prüfen, ob der aus der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes resultierende Steuervorteil unschädlich ist.8 Ist der Steuervorteil geringer als die zusätzlichen Aufwendungen für die Beschäftigung der Menschen mit Behinderung (abzüglich der Lohnzuschüsse Dritter), so ist der ermäßigte Steuersatz zu gewähren. Übersteigt der Steuervorteil die zusätzlichen Lohnaufwendungen, ist hingegen der Regelsteuersatz anzuwenden.
In diesem Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, dass das Umsatzsteuerprivileg nach § 12 Abs. 2 Nr. 8a UStG auf Art. 98 Abs. 2 MwStSystRL (Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie) beruht. Auch nach Nr.?15 des Anhangs III zu Art. 98 Abs. 2 kann die Erbringung von Dienstleistungen und anderen Nichtproduktionsleistungen steuerlich begünstigt werden.
Nach dem EU-Recht ist die Frage, ob ein Zweckbetrieb im Sinne von § 68 Nr. 3a oder 3c AO (Abgabenordnung) vorliegt, unbeachtlich. Abgestellt wird lediglich darauf, ob es sich um eine anerkannte gemeinnützige Einrichtung handelt und der Träger der Einrichtung Leistungen für wohltätige Zwecke im Bereich der sozialen Sicherheit erbringt. Insofern könnte die Argumentation hinsichtlich des ermäßigten Steuersatzes auch auf europäische Vorschriften gestützt werden.9
Bei der Prüfung der umsatzsteuerlichen Leistungen nach der nationalen Vorschrift ist festzustellen, dass die Finanzverwaltung das eben dargestellte Prüfschema (zunächst) gar nicht anwendet, sondern den Fokus auf die gemeinnützigkeitsrechtlichen Voraussetzungen der Werkstätten beziehungsweise der Integrationsprojekte legt (Stichwort: steuerliche Anerkennungsquote in Höhe von 40 Prozent). Sollte die Finanzverwaltung feststellen, dass möglicherweise die Voraussetzungen für einen Zweckbetrieb nach § 68 Nr. 3c AO nicht erfüllt sind oder auch ein Teil der Werkstatt nicht als Arbeitsbereich im Sinne von §?142 SGB IX anerkannt ist, so unterliegen sämtliche Leistungen, sofern nicht per se der ermäßigte Umsatzsteuersatz zur Anwendung kommt (beispielsweise bei Essenslieferungen), dem regulären Steuersatz, da insoweit ein steuerpflichtiger wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb im Sinne des § 64 AO vorliegt.
Daher ist im Hinblick auf die Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes sowohl bei Integrationsprojekten als auch bei WfbM zu empfehlen, die gemeinnützigkeitsrechtlichen Voraussetzungen des § 68 Nr. 3a und 3c AO in regelmäßigen Abständen zu überprüfen.
Zeitgemäßer Blick auf WfbM
Es ist sehr zu begrüßen, dass das BMF das steuerliche Werkstattbild an die tatsächlichen Gegebenheiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt angepasst hat. Somit kann nicht nur aus sozialrechtlicher, sondern auch aus steuerlicher Sicht eine Beschäftigung von Menschen mit Behinderung zu realitätsgerechten Bedingungen erfolgen.
Einzig die Frage, ob der Zweckbetrieb in erster Linie der Erzielung zusätzlicher Einnahmen dient und es somit gegebenenfalls doch zur Anwendung des regulären Umsatzsteuersatzes kommen könnte, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Hier wäre es wünschenswert gewesen, wenn das BMF im Hinblick auf das Prüfschema eine Klarstellung vorgenommen oder es ganz gestrichen hätte, da auch nach europäischem Recht die Leistungen von WfbM (und auch der Integrationsprojekte) dem ermäßigten Umsatzsteuersatz unterliegen.
Anmerkungen
1. Vgl. neue caritas Heft 15/2015, S. 24 ff.
2. Siehe Abschnitt 12.9 Abs. 12 Satz 4 UStAE alte Fassung.
3. Vgl. Abschnitt 12.9 Abs. 12 Satz 1 UStAE neue Fassung.
4. Gleiches gilt für Handelsbetriebe, die als Integrationsprojekte im Sinne von Textziffer 6 zu § 68 Nr. 3 AO AEAO zu qualifizieren sind.
5. Die Überprüfung einer Wertschöpfungsquote bei der Be-/Verarbeitung von Produkten muss somit nicht mehr durchgeführt werden.
6. Vgl. Abschnitt 12.9 Abs.?13 Satz 5, 1. Halbsatz UStAE.
7. Vgl. Abschnitt 12.9 Abs. 13 Satz 4 UStAE.
8. Vgl. Abschnitt 12.9 Abs. 13 Satz 5 bis 7 UStAE.
9. Siehe ausführlich: Schauhoff, S.; Kirchhain, Ch. in: Deutsches Steuerrecht (DStR, 2015), S. 2107 ff. m.w.N.
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