Die Chance nicht vertun
Freiwillige nehmen das Heft in die Hand: Sie sortieren Kleidung, nehmen Menschen in den Arm, kümmern sich um Unterbringung und Erstversorgung, organisieren Kochkurse, übersetzen oder unterstützen Flüchtlinge als Begleiter(innen) bei Behördengängen oder als Pat(inn)en im Alltag und feiern gemeinsam Willkommensfeste. Die Menschen engagieren sich in ganz unterschiedlichen Formen für Flüchtlinge - ob bei Bürgerinitiativen, Willkommensbündnissen, Vereinen, Flüchtlingsräten, Netzwerken oder direkt bei der Caritas. Oft bringen sich Flüchtlinge auch selbst als Ehrenamtliche ein.
Selten ist so eindrücklich zu erleben, was bürgerschaftliches Engagement für die Gesellschaft leistet: Es schafft Begegnung und Beteiligung. Es hilft spontan und findet dort kreative und wirksame Lösungen, wo sie gerade am nötigsten sind. Damit wird bürgerschaftliches Engagement zum großen Integrationsmotor, neben dem Bildungssystem und dem Arbeitsmarkt. Das Interesse, in der Flüchtlingshilfe aktiv zu werden, ist hoch: "Die überwiegende Mehrheit der Organisationen gibt an, dass sich in den letzten Jahren durchschnittlich 70 Prozent mehr Ehrenamtliche engagieren", so die Studie "Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit (EFA) in Deutschland".1
Das Engagement in der Flüchtlingshilfe zeichnet sich durch Freiwilligkeit, Unentgeltlichkeit und gemeinschaftliches Handeln aus. Die meisten Engagierten melden sich, ohne dass sie von Dritten mobilisiert worden sind: Sie möchten sich beteiligen und Gesellschaft mitgestalten2 und erwarten dafür keine Gegenleistung. Das ist auch das beste Fundament, um fremdenfeindlichen Tönen, Misstrauensstimmungen und offenen Anfeindungen gegenüber Migrant(inn)en zu begegnen.
"Ehrenamtliche in der Flüchtlingsarbeit leben vor, wovon Politiker seit einigen Jahren gerne reden, nämlich den Wandel hin zu einer Willkommensgesellschaft in Deutschland", so der Verfasser der Studie, Serhat Karakayali, in einem "Spiegel"-Artikel.3
Unzureichende Strukturen gefährden den Erfolg
Diese aufkeimende Vision einer neuen Mitmach- und Willkommensgesellschaft könnte leider schon wieder scheitern, und das am banalen Engagementalltag, der geprägt ist von Strukturen, die statt für eine Hauptrolle für ein Nischendasein ausgestattet worden sind. Sowohl die gemeinnützigen Organisationen wie auch die Stadtverwaltungen freuen sich über die ehrenamtliche Unterstützung, sind aber häufig von der Masse der Anfragen und den sich nahezu täglich ändernden Rahmenbedingungen überfordert. Neben der motivierenden "Wir-schaffen-das-Stimmung" schleicht sich Erschöpfung ein beziehungsweise werden von außen die Strukturen des Engagements schon kurz "vor dem Zusammenbruch" gesehen.4
Die aktuelle Lage und Stimmung vor Ort lässt sich gut an der Arbeit der rund 600 Freiwilligenagenturen und den von der Caritas getragenen Freiwilligenzentren in Deutschland ablesen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, als Anlauf-, Informations- und Vernetzungsstellen das Engagement vor Ort zu stärken. Sie kooperieren mit gemeinwohlorientierten Trägern und beraten interessierte Bürger(innen), die sich verstärkt mit dem Wunsch nach einem Engagement in der Flüchtlingshilfe melden. Auch benötigen Ämter und Behörden, Vereine, Schulen und andere Einrichtungen sowie Unternehmen und freie Initiativen aktuelle Informationen, welche Hilfe wann und wo benötigt wird. Vor allem "Brückenbauer" braucht es, die die unterschiedlichen Logiken in Verwaltung, Unternehmen und Initiativen zusammenführen und Austausch, Vernetzung oder gemeinsame Projektentwicklung anbieten.
Wenn vieles in Bewegung ist und sich Strukturen und Netzwerke erst noch sortieren müssen, sind aber vor allem die Reaktionen auf die aktuellen Anforderungen und Antworten auf die einfachsten Fragen wichtig. Also: Wer macht was, wo sind freie Einsatzstellen beziehungsweise wo ist weiterer Bedarf für freiwilliges Engagement? So ist es nicht weiter überraschend, dass einer Umfrage unter 87 Freiwilligenagenturen und Freiwilligenzentren zufolge der Mangel an Koordination (74 Prozent), fehlende Ressourcen (69 Prozent) und fehlendes Informationsmanagement (48 Prozent) die großen Herausforderungen vor Ort sind.5
Es fehlen Ansprechpartner und Ressourcen
Es erscheint paradox: Das bürgerschaftliche Engagement steht auf tönernen Füßen - nicht weil es zu wenige Engagierte gibt, sondern weil es an Ressourcen für professionelle Strukturen und Freiwilligenmanagement fehlt, um überhaupt das Potenzial der Engagierten zu heben und diejenigen, die bereits aktiv sind, gut begleiten und unterstützen zu können. Um die Ehrenamtlichen ausreichend auf ihre Tätigkeit vorzubereiten und zu sensibilisieren, zum Beispiel beim Umgang mit traumatisierten Geflüchteten, braucht es Zeit, die oft nicht zur Verfügung steht. Außerdem gilt auch hier, wie in allen Engagementbereichen, mit den interessierten Freiwilligen Motivation und Zeitreserven vor dem Start der Tätigkeit zu klären. So sind natürlich Begleitangebote wie Patenschaften und Ämtergänge zeitlich aufwendiger als eine kurzfristige Unterstützung bei einer Informationsveranstaltung. Und natürlich möchten alle Interessent(inn)en möglichst schnell aktiv werden - aber wenn es nicht genügend Einsatzstellen gibt, dann müssen die potenziellen Ehrenamtlichen informiert werden, warum es zu Wartezeiten kommt und wie diese überbrückt werden können.
Die Herausforderung, mit wenig Zeit und wenig personellen Ressourcen auf aktuelle Bedarfe zu reagieren und gleichzeitig auch Koordinierungssysteme zu schaffen, spüren alle Stellen: die Verwaltungen, die Träger der Unterkünfte, die Initiativen, die gemeinnützigen Organisationen und die Freiwilligenagenturen. So geben 60 Prozent der Freiwilligenagenturen an, dass sie im Moment die anderen Arbeitsbereiche vernachlässigen, obwohl zwei Drittel von ihnen keine finanzielle Unterstützung für die Flüchtlingshilfe erhalten.6
Im Moment gibt es noch eine gute Grundlage, die Flüchtlingshilfe sektorenübergreifend sowie zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen zu gestalten. Das ist ein großes Potenzial. Es wird noch viel gemeinsam improvisiert, und die Hauptamtlichen engagieren sich quasi ehrenamtlich und die Ehrenamtlichen quasi hauptamtlich, um die notwendigen Strukturen aufrechtzuerhalten. Bemerkenswert ist auch, dass es aus der Sicht der Freiwilligenagenturen kaum Konkurrenzwahrnehmungen gibt. So beurteilen rund zwei
Drittel der befragten Agenturen die Zusammenarbeit mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren und der Verwaltung als gut bis sehr gut.7
Diese Vorleistungen auf allen Ebenen sind, wie auch die gelebte Kooperationskultur in gemeinsamen Vernetzungsstrukturen, beeindruckend. Sie sind aber nicht dauerhaft leistbar. Aller Anstrengung zum Trotz können auch nicht jahrelang vernachlässigte Strukturen so schnell und improvisatorisch wiederbelebt werden. Das zeigt das Beispiel der fehlenden Ansprechpartner(innen) und Beteiligungsmöglichkeiten bei gemeinnützigen Organisationen: Die Freiwilligen möchten, besonders in der Flüchtlingshilfe, die Gesellschaft und damit auch die Organisationen mitgestalten. Allerdings sahen bereits vor fünf Jahren die Freiwilligen eher Einschränkungen als Chancen beim Mitbestimmen.8 So gaben im Jahr 2009 nur noch 68 Prozent (2004 waren es noch 76 Prozent) an, dass sie ausreichende Möglichkeiten zu Mitbestimmung und Mitentscheidung haben. Außerdem hatten vor fünf Jahren bereits nur 61 Prozent der Engagierten überhaupt einen Ansprechpartner in ihrer Organisation.9
Vor dem Hintergrund mangelnder personeller Ressourcen kann davon ausgegangen werden, dass eher noch weniger Organisationen in der Flüchtlingshilfe einen Ansprechpartner zur Verfügung stellen können. Das könnte zukünftig zu Spannungen in den Organisationen führen, die vor allem die Freiwilligen frustriert und schlimmstenfalls zur Beendigung des Engagements führen kann. Aus der Engagementforschung ist bekannt, dass Ehrenamtliche ihr Engagement vor allem dann aufgeben, wenn es zu zeitintensiv oder zu anstrengend wird.10
Von der Improvisation zur politischen Strategie
Im Moment kann nur für Verständnis bei den Engagierten geworben werden. Es braucht die reale Aussicht auf Verbesserung durch neue Wege und Mittel der Freiwilligenkoordination. Es reicht nicht aus, weiterhin eine inzwischen fast schon ritualisierte Anerkennungskultur zu bedienen, die "Danke" zu den Ehrenamtlichen sagt und sie mit jährlich unterschiedlichen Preisen überhäuft. Engagierte, die gestalten wollen, wollen mehr, als an einem Abend im Rampenlicht zu stehen. Sie wollen Freiräume und Strukturen, die sie unkompliziert in den aktuellen Anforderungen unterstützen. Ansätze wie der Hamburger Fonds "Flüchtlinge & Ehrenamt"11 oder der Fonds "Willkommenskultur"12 in Sachsen-Anhalt, die relativ unbürokratisch Ressourcen zur Verfügung stellen, sind neben allerlei weiteren Maßnahmen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene gute Beispiele, dass zumindest für den Engagementalltag schnell Mittel zur vorläufigen Entlastung zur Verfügung gestellt werden können.
Allerdings fehlt es noch an gemeinsamen politischen Strategien, die das bürgerschaftliche Engagement als unabhängige gestalterische Kraft ernst nehmen und bereit sind, flächendeckend in seine notwendigen Strukturen zu investieren. Es kann und sollte groß gedacht werden: Warum nicht den Bürger(inne)n eine Milliarde Euro (ihrer Steuergelder) zur Verfügung stellen für ihr Engagement? Zum Vergleich: Für die Energiewende sind Investitionen bis zu 550 Milliarden Euro bis zur Mitte des Jahrhunderts erforderlich.13
Der politische Wille scheint da zu sein: "Ziel der Bundesregierung ist es, diejenigen zu unterstützen, die sich vor Ort für ein solidarisches Miteinander aller und die Integration der Flüchtlinge einsetzen."14 Nun braucht es kreative und mutige flächendeckende Programme für eine Integrationswende, die Bürger(innen) zu Alltagshelden und Zukunftsdenker(innen) macht und sie zum Mitmachen, Mitdenken und Mitgestalten in guten Engagementstrukturen einlädt. Dann hätte auch das bürgerschaftliche Engagement die Kraft und das Potenzial, Deutschland nicht nur improvisierend, sondern nachhaltig zu verändern: zu einer solidarischen Willkommens- und Bleibegesellschaft, in der sich alle beteiligen können.
Anmerkungen
1. Karakayali, S.; Kleist, O.: Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit (EFA) in Deutschland. Berlin, 2015. Unter: www.bim.hu-berlin.de (Suchbegriff "EFA").
2. Ebd.
3. Reimann, A.: Engagement für Flüchtlinge: Deutschlands stille Helfer, unter: www.spiegel.de, Artikel vom17. April 2015.
4. Deggerich, M.; Neumann, C.; Popp, M.: Vor dem Zusammenbruch. Der Spiegel, Ausgabe 45/2015 vom 31.Oktober (www.spiegel.de, Suchwort "Ehrenamt").
5. Bagfa-Analyse zu Freiwilligenagenturen in der Flüchtlingshilfe 2015: www.bagfa.de
6. Ebd.
7. Ebd.
8. Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009. Zusammenfassung. München, 2010.
9. Ebd.
10. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Motive des bürgerschaftlichen Engagements, 2014, unter: www.bmfsfj.de, Pfad: "Service", Publikationen", Suchwort "bürgerschaftliches Engagement".
11. www.buergerstiftung-hamburg.de/fonds_ fluechtlinge_ehrenamt/
12.www.lagfa-lsa.de, Pfad: "Engagiert für Demokratie", "Netzwerkstelle Willkommenskultur".
13. Die Bundesregierung (1): Was bringt, kostet die Energiewende? Unter: www.bundesregierung.de/Content/DE/StatischeSeiten/Breg/Energiekonzept/0-Buehne/kosten-nutzen-energiewende.html
14. Die Bundesregierung (2): Ehrenamtliche leisten Außerordentliches, unter: www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2015/11/2015-11-11-ehrenamt.html
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