Was können Städte gegen zunehmende Armut tun?
Seit den späten 1990er Jahren polarisieren sich in Deutschland die Einkommen. Die Zahl der reichen und der armen Haushalte nimmt zu, die der Haushalte mit mittlerem Einkommen geht, wenn auch langsam, zurück. Es kommt hinzu, dass Deutschland von allen Ländern der Eurozone inzwischen die größte Ungleichheit der Vermögen aufweist. Beides macht sich vor allem in den Städten bemerkbar. Dort verstärkt die Einkommenspolarisierung die soziale Segregation, das heißt die nach Einkommen und weiteren sozialen Merkmalen ungleiche Verteilung der Bevölkerung auf die Wohngebiete der Stadt.
Obwohl die Tendenz zur Einkommenspolarisierung in allen Stadtregionen durchschlägt, variiert sie in Abhängigkeit von der jeweiligen Beschäftigungsstruktur. Sie macht sich, unter sonst gleichen Bedingungen, insbesondere dort bemerkbar, wo die Dienstleistungsbeschäftigung "zu- und die Beschäftigung in der Industrie abnimmt".1 Dies liegt vor allem am geringeren gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Belegschaften im Dienstleistungsbereich, den größeren Unterschieden in der Produktivität innerhalb dieses Sektors und der stärkeren Verbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse.
Wer kann sich noch eine Wohnung leisten?
Städte unterscheiden sich aber auch in ihrer Attraktivität für Investoren in den Wohnungsmarkt. Vor allem die wieder wachsenden Großstädte ziehen Anleger aus dem In- und Ausland an, die ihr Vermögen durch den Kauf von Häusern und Grundstücken weiter vermehren wollen. Für sie sind nach der Finanzmarktkrise Immobilien als profitable Alternative noch interessanter geworden. Die Kehrseite zeigt sich in der Verdrängung oder gar Wohnungsnot von Haushalten, die sich die steigenden Marktmieten nicht mehr leisten können.
Warum stellt die Polarisierung der Einkommen ein Problem für die Städte dar? Weil mit den Einkommen auch die Lebensverhältnisse auseinanderdriften. Urbanität als Lebensweise setzt voraus, dass grundlegende Interessen aller Stadtbürgerinnen und Stadtbürger zur Geltung gebracht werden, dass alle Zugang zu erschwinglicher und verlässlicher Infrastruktur haben und gemeinsam öffentliche Räume nutzen können, in denen sie sich als Fremde begegnen, ohne sich bedroht fühlen zu müssen. Diese urbane Qualität gerät in Gefahr, wenn Ungleichheit zu sozialer Spaltung wird, sich die Reichen in geschützten Vierteln abkoppeln von den Geschicken der Stadt, die Mittelklassen aus Angst vor sozialem Abstieg für sozial homogene Schulen und Nachbarschaften kämpfen und die armen Haushalte in Quartiere abgedrängt werden, die sie zusätzlich benachteiligen. Aufgabe kommunaler Politik ist es deshalb, zu einem sozialen Ausgleich beizutragen. Gerade dies wird durch die Einkommenspolarisierung aber wiederum erschwert.
Eingeschränkte Handlungsmöglichkeit der Kommunen
Die Kommunen sind in ihren Möglichkeiten erheblich eingeschränkt, der zunehmenden Armut und Einkommensungleichheit entgegenzuwirken. Auf deren Ursachen haben sie wenig oder keinen Einfluss. Zudem sind sie finanziell weitgehend von Bundes- und Landesmitteln abhängig, die notorisch knapp gehalten werden. Und aufgrund der Aufgabenverteilung innerhalb der föderalen Struktur fehlen ihnen Kompetenzen in Handlungsfeldern, die für die Beseitung der sozialen Ungleichheit in den Städten besonders wichtig sind. Dies gilt vor allem für den Schulbereich.
Viele Kommunen haben in den letzten Jahrzehnten aber auch Ressourcen preisgegeben, die ihnen genuin zur Verfügung standen. Dazu gehört der Verkauf von öffentlichen Wohnungsbeständen oder die (Teil-)Privatisierung kommunaler Versorgungseinrichtungen. Was immer dabei die Motive gewesen sein mögen - sie haben zu den sozialen Folgen der Einkommenspolarisierung beigetragen.
Was also können die Kommunen gegen Einkommenspolarisierung und zunehmende Armut tun? Wenig, wenn sie von Bund und Ländern wie bisher bei dieser Aufgabe weitgehend alleingelassen werden. In einer konzertierten Aktion aber gäbe es auf kommunaler Ebene eine Reihe von Ansatzpunkten.
Fünf Ansatzpunkte gegen Einkommenspolarisierung
1. Städte auch als Orte der Produktion stärken
Die Tatsache, dass die Einkommenspolarisierung besonders stark in den Stadtregionen ausfällt, in denen die industrielle Beschäftigung zurückgeht und die Dienstleistungsbeschäftigung wächst, spricht dafür, die kommunale Wirtschaftsförderung nicht allein an der Beschäftigung, sondern zugleich an den Auswirkungen auf die Verteilung der Einkommen auszurichten. Das würde bedeuten, das Augenmerk wieder stärker auf die Beschäftigungspotenziale industrieller Produktion zu lenken. Dass solche Potenziale europaweit und insbesondere auch in Deutschland existieren, hat eine Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung nachgewiesen.2
Aber nicht nur Industriepolitik im engeren Sinn ist gefragt. Kommunalpolitischer Unterstützung (beispielsweise durch Flächennutzungsordnungen und Mieterschutz) bedürfen ebenfalls die kleinbetrieblichen Produktionsstrukturen ("urban manufacturing", "ethnische Ökonomie"), die Beschäftigungsmöglichkeiten auch für geringer qualifizierte, am Arbeitsmarkt gefährdete Arbeitskräfte schaffen. Sie sind in ihrem Bestand durch den Aufwertungsdruck an den Immobilienmärkten besonders bedroht.
2. Die kommunale Verantwortung für Daseinsvorsorge und öffentliche Güter (wieder) übernehmen
Ein bedeutender Schritt in Richtung sozialer Ausgleich in den Städten bestand im späten 19. Jahrhundert in der Kommunalisierung lebenswichtiger Versorgungseinrichtungen (Wasser, Energie, Abwasserentsorgung, öffentlicher Nahverkehr). Sie eröffnete den Kommunen Möglichkeiten der "Daseinsvorsorge" über die Kontrolle von Preisen, Qualität und Zugänglichkeit von Leistungen, schuf aber auch einen öffentlichen Arbeitsmarkt, mit dem die Kommunen Einfluss auf Beschäftigung, Arbeitsbedingungen und Einkommen nehmen konnten.
Gerade diese für die Ausgangsfrage wichtige Einflussmöglichkeit haben viele Kommunen mit der Privatisierung oder Teilprivatisierung von Versorgungseinrichtungen seit den 1980er Jahren aufgegeben, sei es, um durch die Erlöse den Haushalt zu entschulden, sei es im Glauben an die Effizienz von Privatunternehmen. In beiderlei Hinsicht erfüllten sich die Erwartungen nicht.3 Deshalb die Bestrebungen vieler Städte, ihre früheren Entscheidungen durch eine "Rekommunalisierung" von Versorgungseinrichtungen zu korrigieren. Dabei spielen neben wirtschaftlichen Motiven übergreifende Gesichtspunkte der Daseinsvorsorge ebenfalls wieder eine Rolle. Diese gilt es durch Formen der Bürgerbeteiligung zu stärken.
3. Umsteuern in der Wohnungspolitik
Wie im Bereich der öffentlichen Versorgungsleistungen haben auch hier viele Städte in den letzten Jahrzehnten durch den Verkauf von öffentlichen Wohnungsbeständen Terrain aufgegeben. Das PestelInstitut berechnete für 2010 einen Bedarf an Sozialwohnungen von 5,65 Millionen, bei einem aktuellen Bestand von 1,5 Millionen.4 In Zeiten extrem niedriger Zinsen und hoher Nachfrage nach Wohnraum haben es Kommunen schwer, private Bauherren zu finden, die bereit sind, Wohnungen mit Mietpreisbindung anzubieten, selbst wenn sie subventioniert werden. Diese Praxis ist ohnehin fragwürdig wegen der zeitlichen Begrenzung der Bindungen. Auch die Anhebung der kommunalen Mietzuschüsse, um die Wohnungsnot zu lindern, würde die kommunalen Haushalte belasten, ohne eine längerfristige Lösung darzustellen. Die Erwartung, dass durch den Bau von Wohnungen für Käufer im mittleren und oberen Preissegment "automatisch" ausreichend Wohnraum für einkommensschwache Haushalte frei würde, wurde immer wieder enttäuscht.
Es liegt somit in der kommunalen Verantwortung, wieder einen vor dem Immobilienmarkt geschützten (öffentlich oder genossenschaftlich organisierten) Wohnungsbestand zu schaffen. Dazu bedürfte es aber einer erheblichen finanziellen Unterstützung durch Bund und Länder.
4. Gezielt Schulen in den ärmeren Quartieren fördern
Kindergärten und Schulen kommt eine zentrale Bedeutung für die Zukunftsaussichten von Kindern aus einkommensschwachen Haushalten zu. Gerade bei den Grundschulen wird bislang jedoch die Qualität der schulischen Bildung stark von der sozialen Zusammensetzung des Einzugsgebiets beeinflusst. Dabei verstärkt die Schulwahl von Eltern aus den Mittelklassen die sozialräumliche Segregation. Sie verlassen oder vermeiden auf der Suche nach "guten" Schulen Quartiere mit hohen Anteilen von Migranten oder einkommensschwachen Haushalten. Oder aber sie schicken, wenn sie im Quartier bleiben, ihre Kinder bevorzugt in Schulen außerhalb und verstärken somit die soziale Selektion in den Schulen des Quartiers.
Hier käme es darauf an, die Qualität der Schulen in den ärmeren Quartieren gezielt zu fördern - gewissermaßen in der Art einer "positiven Diskriminierung". Diese wäre bereits als Kompensation für ungleiche Bildungschancen aufgrund sozialer Herkunft gerechtfertigt. Zugleich bildete es einen Anreiz auch für Eltern aus den Mittelklassen, in solche Quartierte zu ziehen oder dort zu bleiben und somit soziale Mischung zu stärken. Um Verdrängungseffekte zu vermeiden, wären dabei flankierende Maßnahmen der öffentlichen Wohnungsversorgung notwendig. Eine solche Politik setzte eine enge Kooperation zwischen allen in den Schulbereich direkt wie indirekt involvierten Behörden auf den verschiedenen Ebenen voraus sowie den politischen Willen, in dieser gerade für die städtischen Mittelklassen so wichtigen Angelegenheit "Farbe zu bekennen".
5. Die "kollektive Wirksamkeit" in benachteiligenden Quartieren stärken
US-amerikanische Studien, die in europäischen Städten wiederholt wurden, zeigten, dass die Stärkung und Vernetzung zivilgesellschaftlicher Organisationen und Initiativen in benachteiligenden Quartieren dazu beitragen, negative Nachbarschaftseffekte (etwa Gewalttätigkeit) abzuschwächen und das Niveau von Gesundheit und Wohlbefinden im Quartier zu heben. Der amerikanische Kriminologe und Stadtforscher Robert J. Sampson5 spricht hier von "kollektiver Wirksamkeit". Auch das 1999 aufgelegte und von Bund, Ländern und Gemeinden gemeinsam finanzierte Programm "Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf - Die soziale Stadt" bestätigte, dass trotz der bescheidenen (und zwischenzeitlich vom Bund aufgekündigten) Mittel, die nicht investiven Maßnahmen gewidmet waren, erkennbare Erfolge bei der Stabilisierung von Quartieren und der Partizipation ihrer Bewohner erzielt werden können. Solche quartiersbezogenen Initiativen gilt es deshalb finanziell und organisatorisch zu stärken. Sie können sozialstaatliche Leistungen nicht ersetzen und sollen dies auch nicht. Aber sie sind als begleitende Maßnahmen unverzichtbar und können die Bewohner der Quartiere dabei unterstützen, in spezifischer Weise ein Stück Kontrolle über die Lebensbedingungen in ihrer Nachbarschaft zurückzugewinnen.
Anmerkungen
1. Goebel, Jan; Gornig, Martin; Häußermann, Hartmut: Bestimmt die wirtschaftliche Dynamik der Städte die Intensität der Einkommenspolarisierung? Resultate für deutsche Stadtregionen. In: Leviathan, 40. Jg. 2012, H. 3, S. 371-398.
2. Geppert, Kurt; Gornig, Martin; Drescher-Bonny, Ina; Wilke, Peter; Ring, Peter: Neue Wachstumschancen für Berlin. Wirtschaftskraft, Branchenprofil und industriepolitische Strategien im Metropolenvergleich. Berlin, 2009.
3. Wollmann, Hellmut: Öffentliche Dienstleistungen zwischen munizipalem und privatem Sektor: "Comeback" der Kommunen? In: Kronauer, Martin; Siebel, Walter (Hrsg.): Polarisierte Städte. Soziale Ungleichheit als Herausforderung für die Stadtpolitik. Frankfurt am Main/New York, 2013, S. 242-271.
4. Wurtzbacher, Jens: Soziale Stadtentwicklungspolitik und Gemeinwesenarbeit. In: Benz, Benjamin; Rieger, Günter; Schönig, Werner; Többe-Schukulla, Monika (Hrsg.): Politik Sozialer Arbeit. Band 2: Akteure, Handlungsfelder und Methoden. Weinheim/Basel, 2014, S. 280.
5. Sampson, Robert J.: Great American City. Chicago and the Enduring Neighborhood Effect. Chicago, 2012, S. 149 ff.
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