Freie Träger bieten der Wohnungsnot die Stirn
"Die Situation ist alarmierend" (Stuttgarter Zeitung vom 20. Juni 2014), oder "Die Mieten werden weiter steigen" (Stuttgarter Zeitung vom 16. Mai 2014) - solche oder ähnliche Überschriften können Bürger(innen) der Stadt Stuttgart fast täglich den Tageszeitungen entnehmen. Sie spiegeln eine Situation wider, wie sie bundesweit vor allem in den Ballungszentren herrscht. Wohnungsnot ist ein zentrales Thema in Politik und Gesellschaft. Betroffen sind mittlerweile fast alle Bevölkerungsschichten.
Die Auswirkungen von Wohnungsnot sind verheerend. Speziell für arme und wohnungslose Menschen verschärft sich das Problem. Hauptakteur auf der Anbieterseite von Hilfen für arme und wohnungslose Menschen in Stuttgart bildet ein Zusammenschluss der freien Träger. Die "AG freie Träger der Wohnungsnotfallhilfe" (im Folgenden AG genannt) als Gremium vereint bis auf wenige Ausnahmen alle Hilfeanbieter in diesem Segment. Insgesamt neun Träger mit unterschiedlicher Größe und inhaltlicher Ausrichtung gehören der AG an. Dabei reicht die Spanne von großen Trägern wie Diakonie und Caritas bis hin zu kleinen Trägern, die mit wenigen Plätzen Spezialangebote in den Hilfen nach § 67 SBG XII abdecken.
Ein Blick auf die Zahlen: Zum Stichtag 1. Oktober 2014 waren in Stuttgart 1617 Menschen aufgrund ordnungsrechtlicher Maßnahmen zumeist in Hotels, Notunterkünften und Fürsorgeunterkünften untergebracht. In den Wohnangeboten der Hilfen nach § 67 befanden sich zum gleichen Stichtag weitere 1640 Menschen. Werden die stationären Hilfsangebote mit einer Platzzahl von 335 Plätzen abgezogen, so verbleiben knapp 3000 Menschen, deren Zielperspektive eine preiswerte eigene Wohnung mit unbefristetem Mietvertrag ist. 1900 dieser Menschen leben in Angeboten, die von der "AG freie Träger" vorgehalten werden.1 Parallel dazu erleben die Fachberatungsstellen seit 2011 eine Nachfragesteigerung um etwa 20 Prozent.2
Die Koppelung von steigender Nachfrage nach den Angeboten und die faktisch nicht mehr zur Verfügung stehenden Wohnungsangebote sind die Ursache für eine dramatische Situation.
In Stuttgart leben mit Hauptwohnsitz 593.133 Menschen, mit Nebenwohnsitz sind es 6.878.3 Im Durchschnitt stieg die Einwohnerzahl mit gleichbleibender Tendenz in den letzten Jahren um circa 6000 pro Jahr an. Der Gesamtwohnungsbestand weist 301.550 Einheiten inklusive 16.045 Einheiten Sozialmietwohnungen auf. Das entspricht einer Quote von knapp über fünf Prozent.4
Preiswerter Wohnraum in Stuttgart ist Mangelware
Wohnraum und vor allem preiswerter sozialer Mietwohnraum ist in Stuttgart ein äußerst knappes Gut. Das hat vielfältige Gründe: Einmal stehen durch die Talkessellage und die vorhandene Bebauung preisgünstige neue Baugrundstücke nicht unbegrenzt zur Verfügung. Bund, Land und Stadt reduzieren zudem die Förderungen des sozialen Mietwohnungsbaus. Parallel dazu fallen immer mehr Wohneinheiten aus der Mietpreisbindung. Das Thema Wohnungsbau und vor allem sozialer Mietwohnungsbau wurde in den vergangenen Jahren stark vernachlässigt. Mahnungen auch von Caritas-Seite zu vermehrtem Wohnungsbau wurden nicht ernst genommen. Hinzu kommt, dass in Stuttgart, auch von der Politik gestützt, gilt: Innenentwicklung vor Außenentwicklung. Konkret bedeutet dies eine Nachverdichtung und keine Ausweitung neuer Baugebiete.
Ein weiterer Grund sind Wanderungsbewegungen in unserer Gesellschaft, die so nicht vorhersehbar waren. Wir erleben vor allem eine Bewegung vom Land in die Städte und eine Bewegung hin zu den Arbeitsplätzen, die im Ballungsraum "Mittlerer Neckar" in großer Zahl vorhanden sind. Darüber hinaus werden ehemalige gemeinnützige Wohnbaugesellschaften in Akteure am freien Markt umgewandelt.
Das für Träger überlebensnotwendige Segment des sozialen Mietwohnungsbaus hat dabei noch dramatischere Entwicklungen als der allgemeine Wohnungsmarkt erlebt: Von 34.000 Einheiten im Jahr 1987 schrumpfte der Bestand um fast die Hälfte auf 17.559 Einheiten im Jahr 2007. Laut Prognose werden im Jahr 2017 nur noch 14.000 Einheiten übrig sein.
Von den ursprünglich 34.000 Einheiten von 1987 sind heute noch 16.045 Einheiten im Bestand (Stand 31. Dezember 2013). Jährlich fallen weiterhin bis zu 450 Einheiten aus der verfügbaren Masse. Die Gründe sind das Auslaufen sowie die vorzeitige Ablöse der Sozialbindung, verstärkt durch ein niedriges Zinsniveau.
Doch gerade das Segment der Sozialmietwohnungen ist das tragende Element für die Träger in ihren Bemühungen einer Wiedereingliederung ihrer Klient(inn)en. Eine Teilnahme am normalen Markt bleibt mangels Kaufkraft für die Zielgruppe verschlossen. Dies trifft durch steigende Mieten für einen immer größer werdenden Teil der Wohnungssuchenden zu - und nicht nur für die Klientel aus dem Hilfesystem. Hier konkurriert eine Vielzahl von Betroffenen um die wenigen zur Verfügung stehenden preiswerten Wohnungen. Allein in der Notfallkartei der Stadt Stuttgart waren, mit steigender Tendenz, 3623 Personen registriert. Demgegenüber standen, mit fallender Tendenz, 406 Wohnungsvergaben im ersten Halbjahr 2014.6
Fehlender Wohnraum am Markt führt unweigerlich zu einem Stau der Hilfeangebote nach § 67. Notwendige vorzuhaltende Leistungen können für neue Wohnungsnotfälle nicht mehr erbracht werden. Die Wartelisten werden länger. Die Frustration bei den wohnungssuchenden Menschen steigt und bringt das häufig noch fragile System der Wiedereingliederung ins Wanken.
Die Wohnungsnotfallhilfe steuert dagegen
Im Jahr 2012 wurde die Situation für die "AG freie Träger der Wohnungslosenhilfe" unerträglich. Alle bisherigen Vorstöße blieben wirkungslos. Der Handlungsdruck stieg stetig an. Durch Fleiß, Hartnäckigkeit und glückliche politische Umstände ist dennoch eine Erfolgsgeschichte entstanden, die durchaus zur Nachahmung empfohlen wird.
Die Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart 2012 bot die Chance, diesem Thema einen entsprechenden Platz im Wahlkampf einzuräumen. Alle Kandidat(inn)en erhielten die von der AG gemeinsam verfassten "Wohnungspolitischen Forderungen". Parallel gingen diese Forderungen an den Gemeinderat, die Presse und die Verwaltung der Stadt Stuttgart. Die fünf Hauptforderungen waren:
- sozial gebundenen Wohnraum zu erhalten;
- den kommunalen Wohnbauträger SWSG an den Zielen einer sozialen Wohnraumversorgung aller Bürger(innen) neu auszurichten;
- Wohnungsverlust entgegenzuwirken;
- die Mietobergrenzen neu zu definieren;
- bei Sanktionen im Bereich der Mietkostenübernahme SGB XII und SGB II auf Kürzungen zu verzichten.
Die Reaktionen und Ergebnisse auf diesen Brief waren erfreulich und überraschend. So hatte der noch amtierende Oberbürgermeister (CDU)umgehend reagiert und einen ersten Termin mit dem Finanzbürgermeister zugesagt. Teile der Forderungen wurden bei öffentlichen Diskussionen im Wahlkampf übernommen und 50 freie Wohnungen als Soforthilfe für die Träger der Wohnungsnotfallhilfen aus dem städtischen Bestand über das Sozialamt vergeben. Ein runder Tisch mit Finanzbürgermeister, Verwaltung, kommunalem Wohnbauunternehmen und Trägervertreter(inne)n der Wohnungsnotfallhilfen (dreimal jährlich) wurde eingerichtet. Regelgespräche mit der Geschäftsleitung des kommunalen Wohnbauunternehmens SWSG und Vertreter(inne)n der Wohnungsnotfallhilfen finden zweimal pro Jahr statt, um Belange der Träger aufzugreifen. Zwischen Stadt, kommunalem Wohnbauunternehmen und den Trägern wurde vereinbart, jährlich aus den Wohnungskontingenten 20 Wohnungen für die Hilfen nach § 67 zur Verfügung zu stellen.
Der neue (grüne) Oberbürgermeister machte das Thema zur Chefsache und legte ein Konzept "Wohnen in Stuttgart" auf. Darin ist unter anderem der jährliche Bau von 300 Sozialmietwohnungen enthalten. Die Mietobergrenze für besondere Bedarfsgruppen wird auf 440 Euro Kaltmiete erhöht, im Einzelfall liegt sie auch darüber.
All dies wird die dramatische Situation in Stuttgart nicht auf die Schnelle lösen. Aber es sind erste Ansätze und Schritte in die richtige Richtung. Für fehlenden Wohnraum gibt es keine Patentlösungen und vor allem keine schnellen Entwicklungen. Die Knappheit am Wohnungsmarkt wird sich noch Jahre halten, wenn nicht sogar verschärfen.
Trotz des bisher Erreichten gibt es aber durchaus noch kritische Anmerkungen. So ist der geplante Bau von jährlich 300 Sozialmietwohnungen (66 Einheiten wurden im Jahr 2013 fertiggestellt) löblich, wird aber nicht ausreichen, um den Abwärtstrend (minus 400 Einheiten jährlich) zu stoppen. Er wird nur verlangsamt. Darüber hinaus ist die Frage, ob es überhaupt gelingt, alle ins Auge gefassten Grundstücke für den Wohnungsbau zu aktivieren, um die Vorgabezahlen zu erreichen, und auch, ob es klappt, das große Segment der privaten Vermieter mit ins Boot zu holen. Ein weiteres Manko: Die Erfolge für die Dienste in den Hilfen nach § 67 erschweren es an anderer Stelle, besondere Bedarfsgruppen wie suchtkranke oder psychisch kranke Menschen, Flüchtlinge oder unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu versorgen. Es gibt ja keinen Mehrbestand an Wohnungen; der Mangel wird mit anderen Schwerpunkten verteilt.
Es bleibt noch ein langer Weg zu einer sozial ausgewogenen Wohnungspolitik, die eine Wohnraumversorgung aller Bevölkerungsteile einer Stadtgesellschaft sicherstellt. Andere Kommunen sind hier bereits deutlich weiter. Es wird aber klar: Gemeinsame Anstrengungen lohnen sich.
Anmerkungen
1. Quelle: Sozialamt der Stadt Stuttgart, Stand 31. Oktober 2014
2. Jährliche Fallzahlenerhebung durch die Träger der Fachberatungsstellen.
3. Statistisches Amt der Stadt Stuttgart, Stand 31. Oktober 2014.
4. Amt für Liegenschaften und Wohnen, Stuttgart (Hrsg.): Wohnungswesen - Halbjahresbericht 2014.
5. Stadt Stuttgart (Hrsg.): Bericht zur Wohnsituation in Stuttgart 2006/2007. Stuttgart, Themenheft 2/2008 (siehe www.stuttgart.de, Suchbegriff "Wohnsituation"). Die Zahlen haben bis heute ihre Gültigkeit.
6. Amt für Liegenschaften und Wohnen, Stuttgart (Hrsg.), a.a.O.
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