Tafeln allein überwinden die Armut nicht
Der Caritasverband für den Kreis Soest ist Träger der Tafeln in Werl, Lippstadt, Geseke und Rüthen.1 Etwa 700 Menschen pro Woche besuchen die Tafeln in diesen vier Kommunen. Sie erhalten dort Lebensmittel aus den umliegenden Geschäften. In Werl können sie darüber hinaus täglich ein kostengünstiges Mittagessen einnehmen. Mehr als 80 ehrenamtlich tätige Frauen und Männer bedienen und bewirten die Gäste.
Die folgenden Leitsätze bestimmen das Handeln der Caritas in den Tafeln. Sie wurden einstimmig auf der Delegiertenversammlung 2010 des Caritasverbandes für den Kreis Soest verabschiedet:
"1. Die Caritas ist sich bewusst, dass die Tafeln zur Armutslinderung beitragen können. Aber sie sind nicht armutsüberwindend. Sie sind Ausdruck zivilgesellschaftlichen Engagements und kein Ersatz für sozialstaatliches Handeln.
Die Caritas verpflichtet sich, darauf zu achten, dass die örtlichen Sozialbehörden die Hilfen der Tafeln nicht als Ersatz für gesetzlich festgelegte Sozialleistungen anbieten. Wir werden Verstöße gegen diesen Grundsatz öffentlich machen.
2. Die Menschen, die die Angebote der Tafeln in Anspruch nehmen, tun dies nicht selten verschämt. Sie haben in ihrem Leben häufig erfahren, dass sie gesellschaftlich ausgegrenzt und in ihrer persönlichen Würde verletzt werden. Die Tafeln stehen in der Gefahr, zu einem gesellschaftlich sichtbaren Ort des Ausgegrenztseins zu werden.
Die Caritas verpflichtet sich, bei der Organisation der Tafeln und bei der Strukturierung der Warenausgabe (keine Warteschlangen, keine vorgepackten Tüten) darauf hinzuwirken, dass die persönliche Würde der Tafelgäste beachtet wird. Darüber hinaus wollen wir die Tafeln weiterentwickeln zu Orten der Begegnung von Menschen aus unterschiedlichen Milieus.
3. Tafeln können bei den Hilfesuchenden auch dadurch das Gefühl des Ausgegrenzt-Seins verstärken, dass sie die Theke zwischen sich selbst auf der einen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf der anderen Seite als Barriere erleben.
Die Caritas verpflichtet sich, die ,Frage der gleichen Augenhöhe‘ ins Zentrum von Qualifizierung und Begleitung der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu stellen. Vor allem aber versuchen wir, aus dem Kreis der Tafelgäste Menschen zur Mitgestaltung und Mitarbeit bei unterschiedlichen Aufgaben zu gewinnen.
4. Die Tafeln sind ein Netzwerk von engagierten Bürgerinnen und Bürgern, Verbänden und Gruppen, Geschäftsinhabern und Kommunen, die ihre Zeit-, Geld- und Sachspenden zum Wohl der ärmeren Mitmenschen in ihrer Stadt einsetzen.
Die Caritas verpflichtet sich, viele Menschen und gesellschaftliche Gruppen in die Tafelarbeit mit einzubeziehen. Ihnen und der gesamten Öffentlichkeit gegenüber garantieren wir eine hohe Transparenz in Bezug auf die Verwendung der Geld- und Sachspenden.
5. Die Tafelarbeit der Caritas im Kreis Soest ist eingebettet in das Gesamt der Einrichtungen und Dienste des Verbandes und in unser anwaltschaftliches Handeln zum Wohle jener Menschen, die häufig am Rande der Gesellschaft stehen.
Die Caritas verpflichtet sich, den Tafelgästen über das Anbieten von Lebensmitteln hinaus weitere Hilfeangebote zu machen, vor allem sozialraumorientierte Unterstützung und Beratung.
6. Die Tafeln der Caritas sind ein Ort, an dem die Kirche die Liebe Christi tatkräftig verkünden kann. Und dies vor allem gegenüber jenen Menschen, denen der Weg in die Mitte des kirchlichen Raumes schwerfällt oder schwergemacht wird.
Die Caritas verpflichtet sich, die Tafeln zu einem Ort zu entwickeln, an dem die Grenzen zwischen der Pfarrei und allen Hilfesuchenden der Gemeinde überwunden werden."2
Tafeln müssen ihre Existenz rechtfertigen
"Tafeln können nichts garantieren. Was sie anbieten können, ist erfolgreiche Armutsbewältigung. Was sie nicht leisten können, ist ein nachhaltiger Beitrag zur strukturellen Armutsbekämpfung. Tafeln sind ein Freiwilligensystem, das auch wieder verschwinden kann …" So schreibt es der Soziologe und Tafelkritiker Stefan Selke in der neuen caritas Heft 6/2010 (S. 18). Vor allem dieser gesellschaftskritische Beitrag war einer der beiden Anstöße für die Caritas Soest, die oben dokumentierten Tafelgrundsätze zu formulieren, zu diskutieren und in der Delegiertenversammlung in Kraft zu setzen.
Der andere Anstoß waren die Beobachtungen und deren Reflexion in den beiden zu dieser Zeit existierenden Tafeln des Verbandes. Vor allem zwei Erfahrungen forderten die Caritas zu einem deutlichen Handeln auf. Hier war es mit der Formulierung von Tafelgrundsätzen allein nicht getan:
- Da gab es den hauptberuflichen Koordinator in einer der Tafeln, der nicht nur in internen Kreisen despektierlich über die Kund(inn)en herzog, sondern auch im alltäglichen Kontakt mit den "Kötten" (westfälisches, sehr herabsetzendes Wort für Bettler) keinen Hehl von seiner verachtenden Haltung machte.
- Darüber hinaus war eine Reihe von ehrenamtlichen Mitarbeiter(inne)n - aus der Mitte der Gesellschaft und in ihren Pfarreien verwurzelt - entsetzt über das, was sie "neue Moden" nannten: Tafelkund(inn)en waren eingeladen zur ehrenamtlichen Mitarbeit. Plötzlich standen sie "auf der falschen Seite der Theke", waren sie Handelnde und nicht nur Beschenkte.
Die Caritas Soest hat reagiert: Der Koordinator erhielt die verhaltensbedingte Kündigung. Die ehrenamtlichen Mitarbeitenden "erhielten" Gespräche, die ans Eingemachte gingen. Sie wurden mit ihren Einstellungen und ihrem Verhalten konfrontiert. Einige sind gegangen. Der größere Teil von ihnen hat sich auf den neuen Kurs eingelassen. Dessen Umsetzung wurde immer wieder überprüft - in mehreren Gesprächen ging es um die Zusammenarbeit und die Art und Weise des Miteinanders.
Das Sommerfest nach weiteren Monaten zeigte dann die positive Entwicklung des Tafelteams. Endlich gab es die in westfälisch geprägten Kulturkreisen "richtige" Trennung: hier die Frauen, dort die Männer - und nicht mehr die Trennung: hier die Mitarbeiter(innen) aus der Pfarrgemeinde, dort die Armen.
Ergänzend zur Warenausgabe bietet die Caritas in der Werler Tafel fünfmal pro Woche ein warmes Mittagessen an. 30 bis 40 Menschen täglich freuen sich über die Mahlzeit. Sie essen gemeinsam, und die Unterschiede sind nicht - oder kaum - sichtbar: Der Tafelkunde zahlt einen anderen Preis als der Handwerker, der in der Mittagspause vorbeikommt.
Mehr als nur Lebensmittel: Die Beratung kommt hinzu
In Werl - der Stadt mit einer der größten Justizvollzugsanstalten in NRW, deren Insassen auch nach der Verbüßung ihrer Haftstrafe häufig dort bleiben - hat die Caritas inzwischen rund um die Tafel ein breites Unterstützungsangebot unter einem Dach entwickelt: Ein Caritas-Kaufhaus, Beratungs- und Begleitungsangebote für viele Menschen, auch und besonders für Frauen mit und ohne Kinder. Das Haus lebt nach dem Grundsatz des Kölner Pfarrers Franz Meurer: "Wo (viele) arme Menschen sind, darf es nicht ärmlich aussehen."
Anfang Februar ist in zwei weiteren Tafeln ein neues Angebot gestartet worden: Kochen und mehr. Versierte Mitarbeiter(innen) bieten einen vertrauten und geselligen Ort zum Kochen und Essen, zum Reden, Lachen und Weinen und, und, und ....
In der Praxis werden die Caritas-Grundsätze von den ehrenamtlichen Mitarbeiter(inne)n und den hauptberuflichen Unterstützer(inne)n täglich neu mit Leben gefüllt. Auch der Verband setzt seinen Anteil um: Der jährliche Transparenzbericht ist unter www.caritas-soest.de zu finden.
Ein Tafelgrundsatz allerdings wartet noch auf seine Realisierung: Die Grenzen zwischen den Vertreter(inne)n aus den Pfarreien und den Tafelkund(inn)en scheinen unüberwindbar zu sein. Es ist nicht einfach, geweihte und berufene pastorale Mitarbeitende zu motivieren, sich doch zumindest versuchsweise einmal in der Tafel auf die Spuren Jesu Christi zu begeben. Es reicht in der Regel nur bis zum verbalen Engagement, zur Rede über die Option für die Armen.
Na, dann Mahlzeit – Leben mit Hartz IV
Mit einer speziellen Aktion ist die Caritas gemeinsam mit allen Tafelakteuren im Kreis Soest über ihre Tafelgrundsätze hinausgegangen. Unter dem Motto "Na, dann Mahlzeit - Leben mit Hartz IV" wurde zu einer öffentlichen Veranstaltung von und mit betroffenen Menschen eingeladen. Da gab es
- Zahlen - Fakten - Hintergründe zur SGB-II-Gesetzgebung und zu ihren Folgen;
- "So leben wir mit Hartz IV" - Gespräche mit betroffenen Frauen und Männern;
- "Das haben wir verstanden" - Reaktionen von anwesenden Mitbetroffenen;
- Mittagessen und Nachtisch mit Nachklang.
125 Tafelkund(inn)en sowie 40 Politiker(innen) und Kirchenakteure und viele Pressevertreter(innen) besuchten die Veranstaltung. Aus den geplanten 20-Minuten- Statements von Hartz-IV-Betroffenen wurde fast eine Stunde: Anklagen und Anfragen, Berichte und Erzählungen mit Wut und Enttäuschungen, mit Weinen und Klagen. Die erbetenen Reaktionen der Anwesenden aus Kirche und Politik unter dem Motto "Das haben wir verstanden" blieben aus - sie waren sprachlos.
Diese Aktion fand im Februar 2011 statt, vor vier Jahren. Es ist klar, dass solche Plattformen viel häufiger geschaffen werden müssen: nicht Anwalt oder Sprachrohr für arme Menschen zu sein. Sondern einen Raum für sie zu schaffen, in dem sie ihre Stimme erheben können.
Anmerkungen
1. Gemeinsam mit den Caritaskonferenzen und den christlichen Pfarreien vor Ort sowie dem Diakonischen Werk, der Arbeiterwohlfahrt, dem Deutschen Roten Kreuz und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband.
2. www.caritas- soest.de, " Beratung und Hilfe", "Wenn das Geld knapp ist".
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