Die Praxis lässt noch zu wünschen übrig
Das Statistische Bundesamt führte in seinem Bericht vom Juli 2014 vor Augen, welche Teilhabe-Defizite es trotz boomender Wirtschaft noch immer für Menschen mit schwerer Behinderung gibt: Zum Jahresende 2013 lebten rund 7,5 Millionen schwerbehinderte Menschen in Deutschland - das waren 9,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Ein Mensch gilt als schwerbehindert, wenn ein Grad der Behinderung von mindestens 50 vorliegt. Das wird daran bemessen, inwieweit ein Mensch dauerhaft in seinen körperlichen, geistigen oder seelischen Funktionen eingeschränkt ist und dadurch weniger leisten kann.
Zwar sind knapp eine Million Arbeitnehmer(innen) mit schwerer Behinderung am ersten Arbeitsmarkt beschäftigt. Ihnen gegenüber stehen jedoch rund 180.000 arbeitslose schwerbehinderte Menschen. Aus der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (BRK) erwächst dem Staat der Auftrag, dagegenzusteuern.
Die Arbeitslosigkeit unter Schwerbehinderten ist hoch im Vergleich zur Quote in der Gesamtbevölkerung.1 Besonders von Arbeitslosigkeit betroffen sind ältere Arbeitnehmer(innen) - zwei von fünf arbeitslosen Schwerbehinderten (38?Prozent) sind über 55 Jahre alt. Zum Vergleich: Bei den Arbeitslosen insgesamt ist es nur eine(r) von fünf.2
Es ist statistisch nachgewiesen, dass Menschen ohne Behinderung es aus der Arbeitslosigkeit heraus leichter in den ersten Arbeitsmarkt schaffen als Menschen mit Behinderung. Zwar werden Letztere auch nicht so häufig arbeitslos; sind sie es jedoch erst einmal, dann ist es für sie erheblich schwieriger, wieder eine Beschäftigung zu finden.
Behindertenrechte verpflichten zum Handeln
Seit 2009 gilt in Deutschland die BRK. Sie beauftragt den Staat, eine Infrastruktur aufzubauen, um Menschen mit Behinderung die Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen beziehungsweise zu erleichtern. Es ist eine hoheitliche Aufgabe, das Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderung (Art. 27 BRK) aktiv zu sichern und zu fördern. Diskriminierungen wegen einer Behinderung müssen unterbunden werden.
Was tut der Staat, um seinen Auftrag aus der BRK zu erfüllen? In welchen Bereichen des Arbeitslebens sind Teilhaberechte normiert? Auf welche Besonderheiten müssen Arbeitgeber besonders achten? Und wie sieht derzeit die rentenrechtliche Situation aus?
Gesetzliche Grundlagen
Menschen mit schwerer Behinderung sind insbesondere durch Regelungen im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geschützt.
Das AGG schreibt vor, dass (schwer-) behinderte Menschen im Arbeitsleben nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden dürfen. Das betrifft von der Arbeitssuche bis zur -beendigung alle Bereiche des Erwerbslebens. Ein Callcenter beispielsweise darf eine Bewerberin nicht deshalb ablehnen, weil sie im Rollstuhl sitzt. Eine Hautkrebserkrankung darf kein Grund sein, einem Hausmeister zu kündigen.
Vor einer Arbeitsaufnahme profitieren Menschen mit schwerer Behinderung von speziellen Arbeitsförderungs- und Rehabilitierungsmaßnahmen durch die Bundesagentur für Arbeit (BA). Bei der Besetzung freier Stellen sind Arbeitgeber verpflichtet, bei der Agentur für Arbeit aktiv nach geeigneten schwerbehinderten Bewerbern zu suchen. Dies gilt vor allem dann, wenn ein Arbeitgeber seine Pflichtquote von fünf Prozent seiner Beschäftigten noch nicht erfüllt hat.
Mit Arbeitsaufnahme haben die Betroffenen ein Recht darauf, dass ihr Arbeitsplatz behinderungsgerecht gestaltet ist. So kann es sein, dass ein Beschäftigter eine Leseassistenz benötigt oder eine gelähmte Mitarbeiterin ein spezielles Sitzkissen braucht. Arbeitgeber erhalten für den Extraaufwand finanzielle Unterstützung durch BA und Integrationsamt.
Schwerbehinderte Menschen haben Anspruch auf Zusatzurlaub und sollen von Mehrarbeit entlastet werden. Vor jeder Kündigung muss das Integrationsamt zustimmen, um sicherzustellen, dass die Kündigung nicht wegen der Behinderung erfolgt ist und dass bestimmte Fristen eingehalten werden.
Wächterin der Rechte der schwerbehinderten Menschen im Arbeitsleben ist die jeweilige Schwerbehindertenvertretung. In Betrieben mit mindestens fünf Schwerbehinderten ist es zwingend vorgeschrieben, eine Vertrauensperson zu wählen.
Keine eigene Regelung bei der "Rente mit 63"
Bei Beendigung der Beschäftigung wegen Alters sieht das SGB VI (gesetzliche Rentenversicherung) vor, dass Schwerbehinderte pauschal zwei Jahre früher als nicht schwerbehinderte Kolleg(inn)en in Rente gehen können.
Nicht speziell berücksichtigt wurden schwerbehinderte Menschen dagegen bei der jüngsten Rentenreform, die die abschlagsfreie Rente mit 63 für alle Versicherten mit 45 Jahren Beitragszahlung eingeführt hat. Daher gilt nach wie vor die zum 1. Januar 2008 eingeführte dynamische (Vor-)Ruhestandsregelung für alle zwischen Januar 1952 und Januar 1964 Geborenen. Schwerbehinderte Menschen müssen damit pro Monat, den sie später geboren sind, einen Monat länger arbeiten. Das bedeutet, dass beispielsweise eine Schwerbehinderte, die am 1. Januar 1953 geboren ist, zum Februar 2016 die Regelaltersrente beantragen kann. Ein Schwerbehinderter, der am 1. Februar 1953 geboren ist, muss dagegen bis zum April 2016 warten. Für die vorgezogene Altersrente ab 60 gilt die dynamische Regelung analog.
Für alle ab 1964 geborenen Menschen mit Schwerbehinderung beträgt das Regeleintrittsalter 65 Jahre.
Defizite in der Umsetzung
Schwerbehinderte Arbeitnehmer(innen) und Rentner(innen) werden durch ein umfassendes Paket gesetzlicher Maßnahmen, Hilfen und Erleichterungen geschützt und bedacht. Ihre Teilhabe am Arbeitsleben wird vielfältig gesetzlich gefördert. Insofern bilden sich die Vorgaben der BRK in der deutschen Gesetzeslandschaft ab. In der Praxis schlagen sich diese Regelungen jedoch nicht unbedingt positiv nieder. Die Statistiken zur Erwerbstätigkeit von Menschen mit schwerer Behinderung geben keinen Anlass zur Beruhigung. Auch wenn vielfach gemahnt wird, der Staat müsse noch mehr tun, sind auch die Arbeitgeber gefordert, bei ihrer Einstellung vermehrt Schwerbehinderte aktiv zu rekrutieren. Dies richtet sich auch an die Einrichtungen der Caritasverbände, in denen der Anteil von Beschäftigten mit schwerer Behinderung im Schnitt bei nur 3,1 Prozent liegt.3 Insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe (1,3 Prozent) und in der Familienhilfe (2,2 Prozent) besteht Nachholbedarf.
Die Statistik der BA zeigt, dass gerade unter den Menschen mit schwerer Behinderung überdurchschnittlich viele Fachkräfte sind.4 Sie profitierten allerdings bisher nicht vom allgemeinen Jobboom. Für diese Menschen mit schwerer Behinderung und zugleich mit überdurchschnittlicher Qualifikation gilt es, gerade in Zeiten des allgemeinen Fachkräftemangels, verstärkt Jobangebote zu schaffen.
Anmerkungen
1. Vgl. Teilhabebericht der Bundesregierung 2013, S. 143.
2. BA, Arbeitsmarktberichterstattung, Mai 2014, S. 4 (Zahlen von 2011).
3. Stand: Dezember 2012.
4. BA, a.a.O., S. 9.
Armut auf dem Land
In guter Obhut?
Zu Hause gut begleitet sterben
Perspektiven für Deutschland
Überfällige Entscheidungen
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}