Zu Hause gut begleitet sterben
"Wenn ich krank bin, möchte ich am Abend einschlafen und am nächsten Tag nicht mehr aufwachen ... Das wünsche ich mir, wenn ich richtig krank bin. So, dass man sich nicht mehr quält." Herr U. ist 64 Jahre alt und besucht schon seit mehreren Jahren einen Seniorenkreis für Menschen mit einer geistigen Behinderung bei der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg. In der gemeinsamen Auseinandersetzung mit den Themen Sterben, Tod und Trauer wird deutlich, dass sich viele der Senior(inn)en einen schnellen Tod wünschen. Der Sterbeprozess als solcher macht ihnen Angst. Sie haben Sorge, was auf sie zukommt: Gibt es Menschen, die mir helfen können oder werde ich alleine sein? Habe ich Schmerzen und können diese gelindert werden?
Immer mehr Menschen mit besonderen Hilfebedarfen wie einer schweren körperlichen und geistigen Behinderung altern und sterben in Einrichtungen der ambulanten und stationären Behindertenhilfe. Gerade für Deutschland zeichnet sich aufgrund der Euthanasiemorde im Zweiten Weltkrieg im internationalen Vergleich eine besondere Zunahme der Gruppe von älteren und alten Menschen mit geistiger Behinderung ab.1 So lebten zum Jahresende 2013 in Deutschland 7,5 Millionen "schwerbehinderte Menschen", davon rund 300.000 Menschen mit einer "Störung der geistigen Entwicklung".2 Aufgrund der veränderten Lebensbedingungen für Menschen mit geistiger Behinderung, also einer verbesserten medizinischen Versorgung und einem Ausbau der heilpädagogischen Förderung, ist die Lebenserwartung kontinuierlich gestiegen. Sie ähnelt, abhängig von der jeweils möglichen Grunderkrankung, der von Menschen ohne Behinderung.
Jeder Mensch ist einzigartig
Jeder Mensch, ganz gleich ob mit oder ohne Behinderung, ist einzigartig in seinem Menschsein. Dies muss in der jeweiligen Begleitung Berücksichtigung finden und handlungsleitend sein. Daraus ergibt sich das grundlegende Verständnis in der Begleitung von Menschen mit Behinderung, "der ganzen Vielfalt und Komplexität individueller und sozialer Bedingungsmomente [...] Rechnung zu tragen"3 - so wie es auch und gerade Aufgabe in der Begleitung von Sterbenden und ihren Angehörigen und Freunden sein sollte.
Sterben als einen natürlichen Teil des Lebens zu verstehen, ist Kern einer Palliative Care zugrundeliegenden Haltung. Diese Haltung speist sich aus positiven Wertvorstellungen dem Leben und dem Menschen gegenüber. Gemäß der weltweit bekannten Definition der Weltgesundheitsorganisation von 2002 ist Palliative Care ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von lebensbedrohlich Erkrankten sowie ihren Angehörigen. Dies geschieht durch die Prävention und Linderung von Leiden, indem Schmerzen und andere körperliche, psychosoziale oder spirituelle Probleme frühzeitig erkannt, exakt eingeschätzt und behandelt werden.
Palliative Care für Menschen mit geistiger Behinderung
Palliative Care kann und muss ein Angebot sein, von dem auch Menschen mit geistiger Behinderung nicht ausgegrenzt sind, nach dem Motto "für alle, die es brauchen"4, also "für alle Bevölkerungsgruppen"5. Dieser Forderung wurde in Deutschland bisher nur vereinzelt entsprochen. Viele Einrichtungen und Träger der Behindertenhilfe sind gerade erst dabei, sich intensiver mit einer bedürfnisorientierten Begleitung am Lebensende auseinanderzusetzen und eine palliative Kultur zu etablieren. Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert, dass Menschen mit Behinderung "unabhängig von ihrem Aufenthaltsort oder der Wohnform, in der sie leben" Schutz ihrer Privatsphäre genießen.6 So folgert zum Beispiel die Bayerische Staatsregierung in einem eigenen Abschnitt zur "Implementierung der Hospizidee in stationäre Einrichtungen für Menschen mit Behinderung" in ihrem Aktionsplan zur UN-Behindertenrechtskonvention: "Das schließt ein Verbleiben in der betreuten Wohnform bis ans Lebensende ein."7 Aus Sicht der Palliative Care eine Selbstverständlichkeit, ist es für viele Träger in der Behindertenhilfe oft noch schwer vorstellbar, ob und wie dies gelingen kann.
Durch die gesetzliche Regelung in Deutschland, wie in § 39a SGB V verankert, wird deutlich, dass Menschen mit (geistiger) Behinderung Zugang zu Hospizarbeit und Palliative Care erhalten müssen und sollen. Dennoch steht die Umsetzung erst am Anfang. Professionelle sowie Angehörige und Freunde müssen daher für die jeweiligen Möglichkeiten und Bedürfnisse sensibilisiert werden8, so dass auch in den Bereichen der Behindertenhilfe das Konzept Palliative Care Einzug halten kann. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, alle Beteiligten mit in die Begleitung einzubeziehen. Nur so kann es gelingen, Palliative Care in die Behindertenhilfe zu integrieren, die Gefahr einer Unter- oder gar Überversorgung abzuwenden und das Sterben als einen natürlichen Teil des Lebens zu verstehen.
Herausforderungen für die palliative Versorgung
Potenzielle Problembereiche für eine Umsetzung palliativer Versorgung bei Menschen mit geistiger Behinderung können unter anderem sein:
- späte Anzeichen von Krankheit,
- Schwierigkeiten im Erkennen und in der Behandlung von Symptomen,
- Schwierigkeiten beim Verständnis der Krankheit und ihrer Folgen,
- fehlende Qualifizierung von Mitarbeiter(inne)n,
- unzureichende Vernetzung von Behindertenhilfe und Palliative Care im Sinne einer multidisziplinären Teambildung,
- fehlendes Verständnis der Regelversorgung für die Bedürfnisse der Menschen mit geistiger Behinderung.9
Von den Begleiter(inne)n bedarf es daher ganz bestimmter basaler Kompetenzen: einer sensiblen Wahrnehmung, der Fähigkeit, zuzuhören und eine gelingende Kommunikation zu gestalten - verbal wie nonverbal und unterstützt durch verschiedene Methoden. Der betroffene Mensch und seine Angehörigen stehen dabei im Mittelpunkt aller Überlegungen und Handlungen und sind immer direkt mit einzubeziehen. Partizipation und Teilhabe sind dabei wichtige Schlagworte. Die Erfahrungen aus Projekten zur Integration von Palliative Care in Einrichtungen der Behindertenhilfe zeigen, dass es eine hohe Affinität zwischen einer heilpädagogischen und einer palliativen Haltung gibt. So ist es auf Ebene der Mitarbeiter(innen) und der Organisationen sehr gut möglich, die beschriebenen Kulturmerkmale bewusst zu machen und fehlende Kompetenzen aufzubauen.
Viele Punkte einer gelingenden Begleitung am Lebensende ähneln der Begleitung von Menschen ohne Behinderung, bedürfen jedoch in Teilen einer Anpassung. Dazu zählen unter anderem "das Gespräch über die Krankheitssituation und Behandlungsmöglichkeiten mit der Entscheidung für oder gegen bestimmte Maßnahmen, die Linderung von Symptomen, die Begleitung der An- und Zugehörigen, die Unterstützung im Alltag durch ambulante Dienste, oder auch in Hospizen und Palliativstationen."10 Von besonderer Bedeutung ist dabei, Wege der (unterstützten) Kommunikation zu finden und einen Zugang zur jeweiligen Lebenswelt und der individuellen Kommunikationsform zu erhalten (beispielsweise das Einbeziehen von Kommunikationsbüchern, angepassten Schmerz-Ratingskalen oder bebildertem Aufklärungsmaterial). Kooperationen und Vernetzungen zwischen Behindertenhilfe und hospizlich-palliativen Einrichtungen sind dabei von grundlegender und tragender Bedeutung, um die benannten Kulturmerkmale nachhaltig zu verankern.
Viele möchten lieber zu Hause sterben
Auf die Frage "Wo möchtest du gern sterben? Zu Hause oder im Krankenhaus?" gibt es in der Seniorengruppe für Menschen mit geistiger Behinderung sehr unterschiedliche Reaktionen. Viele geben an, begleitet zu Hause sterben zu wollen, wenn sie es sich aussuchen können. So beschreibt Frau K.: "Am Lebensende wünsche ich mir, dass ich zu Hause sterben tu’ und dass ich nicht verbrannt werd’. Und dann wünsche ich mir das Abendlied für meine Trauerfeier. Und dann wünsche ich mir ‚Jesu geh voran‘ und ‚Jesu bleibet meine Freude‘."
Oft werden religiös-spirituelle Wünsche deutlich. Viele der Senior(inn)en gehen regelmäßig in die Kirche, singen im Chor und besuchen ferner ein Austauschtreffen der Kirchengemeinde. Als Voraussetzung dafür, zu Hause sterben zu können, gibt Frau K. an, dass sie sich das nur vorstellen kann, wenn sie dort auch eine gute Begleitung erhält und Familienangehörige und Freunde sie weiter besuchen. Auf die Frage, wer sie besuchen soll, antwortet sie zuerst mit einer Gegenfrage: "Du meinst, ich darf mir den Mitarbeiter aussuchen, der dann zu mir kommt?" Nach der Erkundigung, ob sie dies gern möchte, kommt direkt ein klares und deutliches: "Joa, das möchte ich gerne!" Auch Herr T. beschreibt: "Ich will am liebsten zu Hause sterben, aber wenn es nicht anders geht, natürlich im Krankenhaus."
Frau M. hingegen schildert direkt, dass sie lieber im Krankenhaus sterben möchte, da es "sowieso schnell geht" und es im Krankenhaus Ärzt(inn)e(n) und Krankenpfleger(innen) gibt, die ihr helfen können, wenn es ihr schlecht geht. Auch dies stößt bei einigen in der Gruppe auf Verständnis und große Zustimmung. Viele der Senior(inn)en waren schon einmal im Evangelischen Krankenhaus Alsterdorf, einer Einrichtung, die einen besonderen Versorgungsauftrag für Menschen mit Behinderung hat. Dort haben sie sehr positive Erfahrungen gemacht. Der Umgang und die Pflege dort werden als sehr angenehm und sicherheitsstiftend wahrgenommen. Frau H. hingegen mag das Krankenhaus nicht: "Da sind schon so viele da drinne gestorben!"
Frau S. resümiert für sich: "Ja, man hat noch viel vor. Ein schönes Leben führen. [...] Noch einmal etwas Schönes machen [...] verreisen oder schöne Ausflüge machen." Darauf kann sich die Seniorenrunde am Ende auf die Frage nach dem Wunsch beziehungsweise den Wünschen am Lebensende gut einigen. Herr U. fasst abschließend zusammen: "Ja, das Thema geht schon durch. Es ist schwer, aber es hat mir gutgetan, darüber zu sprechen."
Anmerkungen
1. Haveman, M.; Stöppler, R.: Altern mit geistiger Behinderung. Grundlagen und Perspektiven für Begleitung, Bildung und Rehabilitation. Stuttgart: Kohlhammer, 2. Auflage, 2010, S. 11.
2. Statistisches Bundesamt: Statistik der schwerbehinderten Menschen. Kurzbericht 2013, Wiesbaden, 2014, S. 8. www.destatis.de (Suchbegriff "Statistik", schwerbehinderte Menschen).
3. Gröschke, D.: Behinderung. In: Greving, H. (Hrsg.): Kompendium der Heilpädagogik. Band 1, Troisdorf: Bildungsverlag EINS, 2007, S. 107.
4. Bischof, H.-P.; Heimerl, K.; Heller, A. (Hrsg.): Für alle, die es brauchen. Integrierte Palliative Versorgung - das Vorarlberger Modell. Freiburg im Breisgau: Lambertus, 2002.
5. Schaeffer, D.: Versorgungswirklichkeit in der letzten Lebensphase: Ergebnisse einer Analyse der Nutzerperspektive: In: Ewers, M.; Schaeffer, D. (Hrsg.): Am Ende des Lebens. Versorgung und Pflege von Menschen in der letzten Lebensphase, Bern: Huber, 2005, S. 69.
6. UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Art. 22, 2008. Deutsche Übersetzung, www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/ar61106-dbgbl.pdf
7. Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen (Hrsg.): Schwerpunkte der bayerischen Politik für Menschen mit Behinderung im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention. Aktionsplan, 2013, S. 43 (www.zukunftsministerium.bayern.de/imperia/md/content/stmas/stmas_internet/behinderung/aktionsplan.pdf).
8. Höschele, G.; Kruse, A.: Lebensqualität im Alter bei Menschen mit geistiger Behinderung, 2002:
www.bosch-stiftung.de/content/language1/ downloads/02020301_10_vorlage_lebensqualitaet.pdf
9. Bruhn, R.; Straßer, B.: Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung und ihren Angehörigen. In: Eichner, E.; Hornke, I.; Sitte, T. (Hrsg.): Ambulante Palliativversorgung. Ein Ratgeber. 3. erweiterte Aufl., Fulda: Dt. Palliativverlag, 2014, S. 106.
10. Antretter, R.; Nicklas-Faust, J.: Menschen mit geistiger Behinderung inmitten der Gesellschaft - was wollen und was brauchen sie? In: Bruhn, R.; Straßer, B. (Hrsg.): Palliative Care für Menschen mit geistiger Behinderung, Stuttgart: Kohlhammer, 2014, S. 38.
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