Armut auf dem Land
Falls es je eine Übereinstimmung darüber gab, was ländlicher Raum sei - in der gegenwärtigen Forschung ist diese mit Sicherheit nicht zu finden. Die Unbestimmtheit des Begriffes betrifft nicht nur die Abgrenzung gegenüber dem sozialen Konstrukt "Stadt". Sie betrifft ebenso die siedlungsstrukturelle, wirtschaftliche und kulturelle Vielfalt im Vergleich zwischen ländlichen Räumen sowie die Pluralität von Lebensbedingungen und -entwürfen innerhalb dieser Räume. Parallel dazu gibt es gute Gründe, auf den Begriff "ländlicher Raum" nicht vollständig zu verzichten. Denn in lokalen Identitätskonstruktionen, in politischen Planungsprozessen oder in der Angebotsstruktur sozialer Dienste spielt er eine wichtige Rolle. Eine lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist darauf angewiesen, lokale und regionale Lebensbedingungen nicht nur zu berücksichtigen, sondern räumliche Ordnungen und Entwicklungen reflektieren zu können.
Die Beschreibungen des "Landes" schwanken seit hundert Jahren zwischen Katastrophe und Idylle. Wissenschaftler(innen) wie Politiker(innen) vertreten gegensätzliche Ansichten, ob es grundsätzliche ökonomische und kulturelle Benachteiligungen des Landes gibt, die beispielsweise auf dessen Wirtschaftsstrukturen, kulturelle Traditionen, Verkehrsanbindungen oder Besiedlungsformen zurückzuführen sind. Kritiker(innen) halten dem entgegen, dass es sich bei der Hierarchie zwischen großstädtischen und ländlichen Räumen um gesellschaftlich immer wieder neu hervorgebrachte Verhältnisse handelt.1 Es gibt keine belastbaren Daten dafür, dass ländliche Räume per se mit "Landflucht" und "Notstandsgebiet" in Verbindung zu bringen sind. In dieser Hinsicht muss sehr genau auf die jeweiligen Zeitepochen und Regionen geschaut werden. Anders als in den 1980er und 1990er Jahren verlieren großstadtferne ländliche Räume gegenwärtig eher junge Menschen, die dort weniger Zukunftsperspektiven für sich sehen. Auch ältere Menschen, die eine nahräumliche Infrastruktur vermissen, verlassen das Land. Dies ist nun kein Gesetz. In Wissenschaft und Öffentlichkeit kursieren allerdings oft Stereotype - und verdecken die Vielfalt von Lebenslagen und Lebensentwürfen in ländlichen Räumen. Es fehlt zudem das Bewusstsein dafür, wie Diskurse über das "Land" die Lebenswirklichkeiten prägen.
Hinsichtlich des Strukturwandels ländlicher Räume werden derzeit Bevölkerungsrückgang und altersmäßige Verschiebung der Bevölkerungsstruktur fokussiert, die sich wiederum aus dem demografischen Wandel (Rückgang der Geburtenraten und steigende Lebenserwartungen) sowie (altersselektiven) Wanderungsverlusten ergeben. Andere Facetten des Strukturwandels werden vernachlässigt, obwohl sie die Lebensbedingungen stärker als die demografischen Veränderungen beeinflussen, Letztere sogar teilweise bedingen: Der letzte Dorfladen, die Dorfkirche oder die Buslinie sind in der Regel nicht aufgegeben worden, weil die Einwohnerzahl zurückgegangen war, sondern weil sich Einzelhandelsstrukturen, kirchliche oder religiöse Praktiken und die Erfordernisse an (Auto-)Mobilität verändert haben. Das trifft für andere Lebensbereiche ebenfalls zu. Den Blick in erster Linie auf demografische Veränderungen zu lenken wird nicht helfen, den Strukturwandel in ländlichen Räumen zu gestalten.
Wie Armut im ländlichen Raum aussieht
Der soziale Umgang mit Armut zeigt recht gut, wie sich ländliche Lebensverhältnisse konventionell halten und gleichzeitig verändern. Allgemeine Aussagen über die Besonderheit von Armutslagen in ländlichen Räumen sind nicht möglich. Vielmehr mögen die folgenden Überlegungen eine gewisse Sensibilität wecken, dass Armutslagen eine andere Bedeutung als in städtischen Räumen besitzen können:
- Armutsvorstellungen sind von der Sozialstruktur in ländlichen Räumen geprägt. Die Definition von Armut erfolgt seltener über die Kontrastierung zum - geringer als in Großstädten vorhandenen - Reichtum, sondern eher über bestimmte soziale Statusmerkmale. Die Wahrnehmung von Armut als relative Einkommensdisposition fällt anders aus, wenn die lokal vorherrschende Einkommensspreizung ohnehin niedrig ist.
- Armutslagen müssen nicht mit der Vermögenssituation harmonieren. Eigentum braucht keine Ressource darzustellen,
sondern kann Armutslagen sogar verfestigen, weil es räumliche Bindung und finanzielle Belastungen vorgibt. Auch Selbstständige - zum Beispiel landwirtschaftliche Familienbetriebe - sind in hohem Maße von Armut betroffen, weil infolge von Schuldendiensten oder wirtschaftlichen Schwankungen relativ schnell eine finanzielle Notlage entstehen kann. - Es gibt einen - teilweise historisch fundierten - gesellschaftlichen Umgang mit Armut, der auch Formen der sogenannten Schatten- oder Subsistenzwirtschaft (Prinzip der Selbstversorgung) einschließt. Dabei ist zu beachten, dass sich diese Wirtschaftsbereiche beispielsweise durch die Technisierung der Landwirtschaft oder den Bedarf an Pflegekräften verschieben.
- Armut tritt oft unsichtbar auf. Mit getünchten Hausfassaden wird Armut überdeckt, der/die Beobachter(in) täuscht sich ob der sauber gehaltenen Vorgärten. Dies entspricht einem bestimmten Umgang mit Armut, nämlich vorhandene Ressourcen darauf zu verwenden, sie auszuhalten, anstatt sie zu verändern.
- Armut erscheint weniger konzentriert, denn es gibt selten jene benachteiligenden Quartiere, wie sie in Großstädten wahrnehmbar sind und den politischen Problemdruck steigen lassen. Trotzdem existiert soziale Ausschließung. Das heißt, arme Haushalte in ländlichen Räumen sind oft der Stigmatisierung unmittelbarer ausgesetzt, wenn sie diese trifft.
- Armutslagen erweisen sich als sehr beharrlich: Wer arm ist, bleibt arm. Es fehlen einerseits in der Region die Möglichkeiten, zum Beispiel über Arbeit aus der Armut herauszukommen. Andererseits fühlen sich von Armut Betroffene wegen der fehlenden Anonymität in eine "Schublade gesteckt". Sie verlieren selbst den Blick für Alternativen und neue Perspektiven.
- Armut zeigt andere Konsequenzen der gesellschaftlichen Teilhabe, denn nicht vorhandene Mobilitätsmöglichkeiten führen zu erheblichen Einschränkungen - sowohl der Sportverein kann für Jugendliche in die Ferne rücken als auch die Arbeitsmöglichkeit in der nächsten Kleinstadt.
In den vorangegangenen Überlegungen steckt eine gewisse Ambivalenz: Einerseits scheint in ländlichen Räumen traditionell eine gewisse "Normalität von Armut" im Sinne von Knappheitsbewältigung und eingeschränkten Teilhabemöglichkeiten akzeptiert zu sein. Andererseits drohen soziale Sanktionierungen und Ausschließungen, wenn die "Normalisierung von Armut" nicht gelingt, beispielsweise Verwahrlosungstendenzen auftreten. In einer Studie in Nordostdeutschland zeigte sich, dass nicht nur das sogenannte "abgehängte Prekariat", sondern auch gesellschaftliche "Kerngruppen" von Armut betroffen waren.2
Entwicklung anders denken
In jenen ländlichen Räumen, die ökonomisch, sozial, politisch und infrastrukturell immer mehr an den gesellschaftlichen Rand gedrängt werden (Peripherisierung), kann dies zur Verschärfung individueller Armut führen.3 Die Kommunen befinden sich immer weniger in der Lage, eigenständige Strategien gegen Armut zu entwickeln. Untersuchungen zeigen immer wieder die prekären Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhne sowie die Vergesellschaftung von Menschen in ein System der Arbeits- und Beschäftigungspolitik, das kaum Freiräume für persönliche und regionale Veränderungen birgt. Der Satz aus einem Gespräch blieb mir haften: "Wir kriegen gerade so viel, dass wir überleben, aber bewegen können wir uns nicht." Akteure in ländlichen Räumen fühlen sich oftmals nicht in der Lage, den Strukturwandel einer globalisierten Wirtschaft, die Zentralisierung von (politischen) Institutionen oder den regionalen Standortwettbewerb zu nutzen. Armut im regionalen Sinne kann ein Mangel an Ressourcen sein, den Strukturwandel gestalten zu können.
Der Entwicklungsbegriff wurde im Hinblick auf ländliche Räume häufig so verstanden, dass ein Rückstand gegenüber den Großstädten aufgeholt oder zumindest kompensiert werden sollte. Obwohl "Entwicklung" ein prinzipiell offener Begriff ist, verleitet er dazu, sich eine bestimmte Entwicklung vorzustellen. Der indische Ökonom und Philosoph Amartya Sen begreift Entwicklung in erster Linie als Gewinn an Freiheiten im Sinne einer Erweiterung von Chancen.4 Viele politische Akteure glauben an den großen Wurf, doch dieser gelingt nur selten. In der Regel kommt es auf das Wahrnehmen spontaner Offerten, das langfristige Durchhalten, den Umgang mit Konflikten und Scheitern sowie eine Prise Unangepasstheit an. Für Soziale Arbeit stehen zwei Fragen an: (Wie) Bringt sie sich in regionale Strukturentwicklung ein? Wie passt sie ihre Angebote ländlichen Räumen an?
Es wird hinsichtlich der Zukunft ländlicher Räume viel über das notwendige Engagement vor Ort gesprochen. Das ist grundsätzlich wichtig, denn viele Analysen zeigen, dass die Entwicklungen von lokalen Akteuren, deren Fantasien und Engagement abhängen. Es ist aber verkehrt, das Engagement zu privatisieren und zu argumentieren, staatlicherseits ließen sich nur begrenzte infrastrukturelle Mindeststandards in der Fläche durchhalten, alles andere müsse privat geregelt werden. Die teils verschüttete, teils lebendige Tradition der Gemeinwesenarbeit birgt eine andere Erfahrung, nämlich dass Entwicklung von kollektivem Handeln abhängt. Dies ist alles andere als ein Selbstläufer, sondern bedarf präziser Analysen, fachlicher Konzepte und organisierter Handlungsmacht.
Anmerkungen
1. Tovey, H.: Ländliche Armut. Eine politisch-ökonomische Perspektive. In: Berliner Debatte Initial 12, Heft 6/2001, S. 5-16.
2. Elkeles, T. u.a.: Armut und Gesundheit in ländlichen Gemeinden Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs. In: Kreher, S. (Hrsg.): Von der "Leutenot" und der "Not der Leute": Armut in Nordostdeutschland. Wien: Böhlau, 2012, S. 269-286.
3. Beetz, S.: Ungleichheiten in Abwanderungsregionen und politische Intervention. In: Sparschuh, V.; Sterbling, A. (Hrsg.): Abwanderungen aus ländlichen Gebieten - Ursachen, Motive, Erscheinungsformen und Folgeprobleme. Magdeburg: Meine Verlag, 2013, S. 13-18.
4. Sen, A.: Ökonomie für den Menschen. München: Hanser, 2000.
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