Erziehungshilfe mittendrin
Die zweijährige Lisa freut sich aufs "Tuunen". Damit will sie jedoch nicht die Leistung des Autos von ihrem Papa verbessern.?Sie meint vielmehr das Mutter-Kind-Turnen. Dort geht Lisas Mama mit ihr einmal pro Woche hin. Die Gruppe wird von einer Heilpädagogin des Bethanien Kinderdorfes geleitet. Doch das Angebot existiert nicht isoliert. Es ist Teil des Veranstaltungsprogramms des Bethanien Familienzentrums. Neben dem Turnen - im Übrigen eine Gelegenheit für Eltern und junge Familien im Ort, sich auszutauschen und kennenzulernen - bietet das Familienzentrum noch vieles mehr für Familien aus der Region an. Deren Bedürfnisse werden regelmäßig erfragt und die Angebote entsprechend ausgerichtet. Dabei gibt es nicht nur Kurse für Eltern und Kinder, sondern auch Veranstaltungen, in denen Mütter und Väter etwas für sich tun, wie Pilates, Zumba, Rückenschule, Entspannung oder Yoga. Auch Themen rund um die Erziehung wie niedrigschwellige Sprechstunden der Erziehungsberatungsstelle, gezielte Beratung zur Entwicklung von Sprache und Motorik, Kommunikation und Aggression, kindliche Sexualität, Medienfragen "Kinder und Internet" oder Pubertät werden aufgegriffen. Gerne besucht werden auch die Angebote zur ökologischen Orientierung, die vielen jungen Familien wichtig ist. Dazu gehört der Kurs "Lebensraum Wald", der eine Waldführung mit Spielen, Sammeln von Naturmaterialien, Bastelangebot und anschließender Greifvogelführung bietet.
Das Angebot des Familienzentrums ist ein sozialraumorientiertes Konzept, in NRW durch die Landeszertifizierung an Kindertageseinrichtungen angebunden und mit finanziellen Mitteln gefördert. Das Besondere: Das Familienzentrum und das Bethanien Kinder- und Jugenddorf in Schwalmtal gehören zusammen. An diesem Beispiel werden die Entwicklungen der Erziehungshilfe in den vergangenen Jahren deutlich.
Das Kinderdorf ist eine Nachkriegsgründung der Dominikanerinnen von Bethanien, einer katholischen Ordensgemeinschaft, konzipiert als Reformprojekt. Kinderdorfgründungen sollten die Kinder- und Erziehungsheime ersetzen, deren Merkmale noch heute bei vielen Menschen das Bild stationärer Erziehungshilfe prägen: Schlafsäle mit vielen Betten, wenig persönliche Gegenstände und private Räume, strenge Regeln und schlechte Versorgung in einer eher traurigen Umgebung. Alternativ sollten familiäre Angebote für die langfristige, koedukative und altersgemischte Unterbringung von Kindern ein besseres Klima des Aufwachsens bieten. Das Familienprinzip funktionierte und hielt Einzug auch in vielen "klassischen Heimen".
Das Kinderdorf als Institution wies dennoch Merkmale der Anstalten auf, die es überwinden oder ersetzen sollte. Die Kinder aus dem Kinderdorf hatten im Ort keinen guten Ruf. Die Integration der Kinder in den Ort gelang selten. Für die Einwohner(innen) des Ortes blieben die Ordensfrauen und "deren" schwierige Kinder Fremdkörper. Das Kinderdorf entwickelte ein Eigenleben mit Freizeitangeboten, einer eigenen Kirche und einem eigenen Laden für die Bewohner(innen).
Von den internen Entwicklungen drang wenig nach außen. Bis in die 90er Jahre war das Kinderdorf eine rein stationäre Jugendhilfeeinrichtung mit Kindern, deren langfristige Alternative zur Herkunftsfamilie die Kinderdorffamilie sein sollte.
Das Kinderdorf mausert sich zur modernen Einrichtung
Heute ist das Bethanien Kinderdorf eine differenzierte und moderne Jugendhilfeeinrichtung. Die Kinderdorffamilie mit ihrer innewohnenden Bezugs- und Erziehungsperson (Kinderdorfmutter oder Kinderdorfeltern) macht heute etwa ein Drittel der stationären Angebote der Einrichtung aus. In allen Bereichen sehen die Mitarbeiter(innen) des Kinderdorfes einen Auftrag zur Vermittlung christlicher Werte, den sie ernst nehmen und der sich in vielen Angeboten als wichtiger und selbstverständlicher Bestandteil findet. Andere stationäre Hilfen wie Wohngruppen unterschiedlicher Spezialisierung (Jugendwohngruppe, Intensivgruppen) werden ergänzt durch teilstationäre und ambulante Angebote. Einige Angebote wie die Jugendwohngruppe oder das Haus für die ambulante Betreuung junger Erwachsener mit Behinderung sind dezentralisiert und finden sich in anderen Ortsteilen rund um das zentrale Kinderdorfgelände, das mittlerweile Teil des Ortskerns ist.
Damit die Integration der betreuten Kinder und Jugendlichen in den Sozialraum gelingt, ist ein breites Geflecht von Netzwerken entstanden. Zur Unterstützung und Absicherung der Integration der betreuten Kinder und Jugendlichen in die regionalen Schulen und Kindertageseinrichtungen arbeiten Mitarbeiter(innen) des Kinderdorfes in Schulgremien mit und nehmen an Netzwerktreffen teil. Es gibt eine wechselseitige Beteiligung an Projekten und Aktivitäten. In regelmäßigen Abständen lädt das Kinderdorf die Lehrerkollegien ein, gegenseitig wird von Entwicklungen und Problemlagen berichtet und gemeinsam nach Lösungen gesucht. Fachlich arbeiten die Pädagog(inn)en des Kinderdorfes beispielsweise mit der Fachstelle für sexuellen Missbrauch, der Suchtberatungsstelle, mit Kinderärzt(inn)en, Kinder- und Jugendtherapiepraxen, Ergo- und Sprachtherapiepraxen, kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen und mit ambulanter und stationärer Kinder- und Jugendpsychiatrie zusammen.
Nicht immer läuft alles rund - Kommunikation ist gefragt
Nicht alle Kooperationen laufen fortwährend gut und zufriedenstellend für beide Seiten. Störungen in der Zusammenarbeit werden als Indikatoren für Klärungsbedarf angesehen. Kooperation mit den örtlichen Vereinen - im Rheinland insbesondere Sport- und Schützenvereine - mit der offenen Jugendarbeit und den Streetworkern sind ebenso selbstverständlich wie die regelmäßige Zusammenarbeit mit der lokalen Politik. Die Kooperation mit den circa 20 belegenden Jugendämtern ist eine Selbstverständlichkeit in der Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben. Die Zufriedenheit scheint hoch zu sein: Das Kinderdorf hat für etwa 30 zu belegende Plätze jährlich etwa 160 bis 200 Anfragen zur Neuaufnahme.
Eine Einschränkung in der Liste der wichtigen Kooperationspartner gibt es aber doch. Obwohl das für die Einrichtung zuständige regionale Kreis-Jugendamt eine Sozialraumanalyse erstellt hat, fehlt eine kooperative Sozialraumplanung. Es gibt weder eine Beteiligung der großen stationären Einrichtungen der Region an der Entwicklung der Sozialraumanalyse noch eine gemeinsame Auswertung. Das regionale Jugendamt verpasst damit die Chance, die Jugendhilfeträger in die Entwicklung vor Ort einzubinden. Die Jugendhilfeträger selbst werden mit ihren Entwicklungsideen als regionale Partner erst dann wahrgenommen, wenn schon Konzepte vorliegen. Hier gibt es noch eine ungenutzte Ressource für die Sozialraumorientierung.
Für die fachliche Qualität des Kinderdorfes ist der ergänzende pädagogisch/therapeutische Fachdienst von Bedeutung. Hier gibt es wirksame ressourcenorientierte Angebote, um die benachteiligten Kinder und Jugendlichen zu stärken. Das Spektrum reicht von der Heilpädagogik, Erlebnispädagogik, Psychomotorik und Religionspädagogik bis hin zur "Kido-Ranch", die tiergestützte Pädagogik anbietet. Die Musikpädagogik bietet Gesang für die Jüngsten und individuellen Instrumentalunterricht auch und besonders für lernschwache Kids - so entstand die kinderdorfeigene Band "LaTaste".
Daneben gibt es Projekte wie das Elterntraining mit Babypuppen, das junge Menschen auf das Elternsein vorbereitet und aufzeigt, wie viel Geduld und Fürsorge ein Baby braucht. Selbstständigkeits- und Bewerbungstrainings machen die Jugendlichen "Fit for live" (so der Name der Kursreihe). Ein "NullFluppClub" stärkt die jugendlichen Nichtraucher(innen) mit Belohnungen: Geld-Prämien locken ebenso wie Kinoabende oder ein Städtetrip nach London. Der Kinder- und Jugendrat ist die gewählte demokratische Beteiligung der Kinder und Jugendlichen. Dies sind nur einige Beispiele des fachpädagogischen Angebotes im heutigen Kinder- und Jugenddorf.
Der stationäre Teil der Einrichtung versteht sich heute als soziales und pädagogisches Kompetenzzentrum mit dem Ziel, die Kinder und Jugendlichen fit fürs Leben machen. Die möglichst weitgehende Integration der im Kinderdorf lebenden Kinder und Jugendlichen in die regionalen Regelsysteme - Schulen, Kitas, Vereine, Gemeindeleben - und die Ausstrahlung der pädagogischen Kompetenz in der Region ist der Grundgedanke für die sozialräumliche Ausweitung.
Park, Aula und Schwimmbad sind für alle offen
Die ursprünglich für die betreuten Kinder und Jugendlichen vorgehaltenen Angebote und räumlichen Rahmenbedingungen sind schon lange nicht mehr ausschließlich für die auf dem Kinderdorfgelände lebenden Kinder und Jugendlichen und Erwachsenen reserviert. Die Volkshochschule des Landkreises gibt seit Jahren Yogakurse für Erwachsene aus der Region in der Aula und im Psychomotorikraum des Kinderdorfs. Das kleine Schwimmbad des Kinderdorfes wird von der nahe gelegenen kommunalen Förderschule und einem Sportstudio mitgenutzt. Das von vielen als grüne Oase angesehene Parkgelände mit seinem historischen Herrenhaus am Weiher und dem großen Spielgelände ist für viele Familien der Umgebung ein gern besuchter Freizeitort. Ganz automatisch findet damit die Integration von Kinderdorfkindern und Kindern aus der Umgebung statt. Der am Rande des Geländes liegende Bolzplatz ist den Anwohnerkindern der Kommune zur Nutzung zur Verfügung gestellt worden. Eine Reihe von Kulturveranstaltungen findet in Räumen und auf dem Gelände des Kinderdorfes statt. Mit Kunstaktionen, Musikveranstaltungen, Sommer-Themenfesten und einem Martinsmarkt gibt es über das Jahr verteilt immer wieder Einladungen ins Kinderdorf. Die Besucher(innen) erfahren ganz nebenbei, welche Arbeit hier geleistet wird. Die Hemmschwelle zur Jugendhilfe sinkt.
Ein Kinderdorf-Freundeskreis mit 140 vorwiegend regionalen Mitgliedern sorgt ebenfalls nicht nur für die finanzielle Unterstützung, sondern auch für die Kommunikation mit regionalen Multiplikatoren. Durch die enge Kooperation mit der Gemeinde ist ein Secondhand-Sozialkaufhaus entstanden: Die dem Kinderdorf gespendeten Gegenstände - vor allem Kinderkleidung und Spielsachen, aber auch Kinderwagen und Bobby Cars, Schultaschen und Bücher - werden in einer ehrenamtlich betriebenen Familien-Boutique zu kleinen Preisen verkauft. Die enge Zusammenarbeit zwischen Ordensschwestern, Pfarrgemeinde, Gemeinde und Kinderdorf führt zu einer positiven Präsenz des Kinderdorfes.
Ein wichtiger Baustein der Sozialraumorientierung ist die Entwicklung von Angeboten zur Erziehungshilfe außerhalb der stationären Hilfen. Der erste Schritt war im Jahr 2004 die Eröffnung einer Tagesgruppe (nach § 32 SGB VIII). Im Gegensatz zu den stationären Hilfen - den Kinderdorffamilien und Wohngruppen -, die für eine kurze oder längere Zeit die ausfallende Familie ersetzen und damit ein neues Zuhause für die Kinder und Jugendlichen anbieten, ist die Tagesgruppe dazu da, die Eltern in ihrer Erziehung zu entlasten und zu unterstützen. Der Wohn- und Lebensort in der Familie wird beibehalten. Dieses Angebot ändert die Ausrichtung der Hilfe von Familienersatz zu Familienunterstützung.
Tagesgruppen entlasten Familien
Mittlerweile verstehen sich auch viele stationäre Hilfen als kurz- und mittelfristige Familienunterstützung, die die schnellstmögliche Rückkehr in den elterlichen Haushalt intendieren. Ein weiterer Schritt in den Sozialraum und in die Kooperation mit Regeleinrichtungen ergab sich durch den Einsatz des Schulsozialarbeiters, der als Mitarbeiter des Kinderdorfes in die örtliche Grundschule entsandt wurde. Die Anfrage kam durch den Förderverein der Grundschule, der bereit war, die Stelle zu finanzieren, sich aber der Fachkompetenz des Kinder- und Jugenddorfes bedienen wollte. Die Kooperation besteht nun seit einigen Jahren und hat sich bewährt.
Der jüngste Baustein im Rahmen der sozialräumlichen Entwicklung war im Jahr 2008 die Übernahme der Trägerschaft zuerst einer großen integrativen Kindertageseinrichtung und vier Jahre später die Übernahme zweier weiterer Kitas im Ortsgebiet. Damit sind heute drei Kindertageseinrichtungen im sozialräumlichen Portfolio des Bethanien Kinder- und Jugenddorfes. Dort werden 170 Kinder betreut, davon derzeit zehn integrative und insgesamt 40 Kinder unter drei und unter zwei Jahren. Eines dieser Kinder ist Lisa, die das Bethanien Kinderdorf als schönen Ort erfährt, in dessen Räumen sie mit ihrer Mutter "tuunen" kann.
Das Bethanien Kinder- und Jugenddorf in Schwalmtal ist in den vergangenen Jahren zu einem Akteur der Kinder- und Jugendhilfe geworden, der in der Region wahrgenommen wird als Anbieter und Partner, der mit den von ihm betreuten Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Familien "in der Mitte der Gesellschaft" (14. Kinder- und Jugendbericht) angekommen ist.
Literatur
Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfe e.V. (BVkE):
Positionspapier zur Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung. September 2013. http://bvke.de/70765.html.
Esser, Klaus: Die Kinderdorfbewegung in der katholischen Heimerziehung. In: Hiller, Stephan; Knab, Eckart; Mörsberger, Heribert (Hrsg.): Erziehungshilfe. Investition in die Zukunft. Freiburg: Lambertus, 2009.
Esser, Klaus: Mit dem Siegel der Güte? Gegenwart und Zukunft der erzieherischen Hilfen. In: Fehrenbacher, Roland; Knab, Eckart Hrsg.): Perspektiven für die Kinder- und Jugendhilfe - von der Heimerziehung zur Vielfalt erzieherischer Hilfen. Freiburg:?Lambertus, 2007.
Hinte, Wolfgang: Sozialraumorientierung: Ein Fachkonzept auch für die Hilfen zur Erziehung? In: Macsenaere, Michael; Esser, Klaus; Knab, Eckart; Hiller, Stephan (Hrsg.): Handbuch der Hilfen zur Erziehung. Freiburg: Lambertus, 2014.
Links
Links zum Bethanien Kinder- und Jugenddorf Schwalmtal und den Angeboten des Familienzentrums: www.bethanien-kinderdoerfer.de, "Schwalmtal"
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