Breite Zukunftsdebatte geht weiter
Mit einem Paukenschlag begann vor drei Jahren die Debatte um die Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung (HzE): Unter der Überschrift "Wiedergewinnung kommunalpolitischer Handlungsfähigkeit zur Ausgestaltung von Jugendhilfeleistungen" sorgte ein Entwurf aus Hamburg - das sogenannte "A-Staatssekretäre-Papier" - in der Fachszene für Furore. Denn es stellte den Rechtsanspruch auf HzE dem Grunde nach in Frage. Das Papier formulierte das Ziel, den Rechtsanspruch auf HzE durch eine Gewährleistungsverpflichtung des öffentlichen Jugendhilfeträgers zu erfüllen und das Hilfsangebot umzugestalten: Insbesondere in Verbindung mit Regelangeboten zum Beispiel der frühen Hilfen, der Kindertagesbetreuung und der Schulen soll vor allem sozialer Ausgrenzung und Bildungsbenachteiligung entgegengewirkt werden.
In der Kritik des Papiers stand auch implizit die starke Stellung der freien Träger - sie seien Mitverursacher für die immer weiter steigenden Kosten der HzE. Kein Wunder, dass dieses nie offiziell verabschiedete Papier, das in einer Koordinierungssitzung der Staatssekretäre der SPD-geführten Länder diskutiert wurde, hohe Wellen schlug bei Ländern, Verbänden und in der Praxis. Lautstarke Proteste gegen die Abschaffung des individuellen Rechtsanspruchs auf HzE führten dazu, dass die Arbeitsgemeinschaft der Obersten Jugend- und Familienbehörden (AGJF) beauftragt wurde, für die nächste Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) ein Eckpunktepapier zur Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung vorzulegen.
In diesem Papier gelang es der AGJF, die emotional geprägte Debatte wieder zurückzuführen auf die fachlichen Aspekte der Weiterentwicklung der HzE und zu einer differenzierten Sichtweise der Problemanzeigen zu kommen. Im Hinblick auf die Fallzahlen- und Kostensteigerung, die den öffentlichen Träger der Jugendhilfe vor große Herausforderungen stellt, verweist die AGJF darauf, dass die einschlägigen Zahlen auf Bundesebene und in den Ländern mit komplexen Einflussfaktoren zusammenhängen, die einfache Steuerungsmodelle nicht zulassen. Ebenso wurde festgestellt, dass der individuelle Rechtsanspruch auf HzE nicht infrage gestellt wird.
Die JFMK hat in ihrer Sitzung am 31. Mai/1. Juni 2012 das Diskussionspapier der AGJF zur Kenntnis genommen und sie beauftragt, die aufgeworfenen Handlungsbedarfe beziehungsweise -ansätze in einer Koordinierungsgruppe aufzugreifen und Empfehlungen für Lösungsansätze zu erarbeiten. Neben den Ländern (Federführung mit Vorsitz: Hamburg) wirkten in der Koordinierungsgruppe auch Vertreter(innen) der Kommunalen Spitzenverbände und der Dachorganisationen Deutscher Verein und Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ mit.
Parallel dazu gab es eine weitere Arbeitsgruppe der Länder (JFMK und Kultusminister-Konferenz), die Empfehlungen für eine verbesserte Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule erarbeiten sollte. Diese Empfehlungen wurden als eigenständiges Papier im Herbst 2013 veröffentlicht.
Differenzierte Diskussionsgrundlage
Die Diskussionen in der Koordinierungsgruppe wurden intensiv und auch kontrovers geführt. Dabei wurde deutlich, dass nicht nur zwischen den verschiedenen Akteuren, sondern auch innerhalb der Teilnehmergruppen unterschiedliche Sichtweisen und Positionen bestehen. Gründe dafür liegen in den unterschiedlichen Ausgangssituationen und Rahmenbedingungen, die jeweils die Situation vor Ort prägen. Auf diesem Hintergrund verständigte sich die Koordinierungsgruppe darauf, das Diskussionspapier selbst mehr grundsätzlich und analytisch anzulegen. Ergänzt werden kann es dann mit einzelnen Stellungnahmen der Teilnehmergruppen (zum Beispiel der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege).
Die Koordinierungsgruppe konnte dadurch ein umfangreiches Papier vorlegen, das eine differenzierte Beschreibung der Aufträge, Funktionen, Entwicklungen und Perspektiven der HzE darstellt, mit zum Teil divergierenden Stellungnahmen der kommunalen Spitzenverbände und der Dachorganisationen der Kinder- und Jugendhilfe als Anlagen.
Mit dieser Vorlage ist es gelungen, eine gute Grundlage zu schaffen, um eine gemeinsame und breit angelegte Debatte zu führen.
Die JFMK 2013 bestätigt dies und sieht in dem Positionspapier der Koordinierungsgruppe gute Anknüpfungspunkte für die Weiterentwicklung der HzE, die sie insbesondere auf folgende Aspekte bezieht:
- Verbesserung der Steuerungsprozesse,
- Verstärkung der Prävention,
- Ausgestaltung sozialräumlicher Ansätze sowie die Überprüfung ihrer rechtlichen, organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen und
- ein verbessertes Zusammenwirken von Leistungen nach dem SGB VIII mit Leistungen nach anderen Sozialgesetzbüchern sowie Angeboten der Schulen.
Gleichzeitig bittet die JFMK die AGJF, unter Einbeziehung der Ergebnisse der Arbeitsgruppe "Inklusion von Menschen mit Behinderung" zu prüfen, ob und gegebenenfalls welche organisatorischen, finanziellen und rechtlichen Handlungserfordernisse bestehen und in der JFMK 2014 darüber zu berichten.
In der Folge führten die Länder im Dezember 2013 breit angelegte Expertenanhörungen von Wissenschaft, Verbänden und Kommunen durch.
DCV betont die Bedeutung von Beteiligung
Im Rahmen der Verbändeanhörung hat auch der Deutsche Caritasverband (DCV) Stellung bezogen und die mit der Weiterentwicklung der HzE verbundenen Ziele grundsätzlich begrüßt, wie beispielsweise: möglichst frühzeitig Unterstützung und Hilfe anzubieten, eine bedarfsgerechte Infrastruktur zu sichern, die Zugänglichkeit und Wirksamkeit der HzE zu verbessern und die Potenziale von Regelangeboten und sozialräumlichen Ansätzen stärker zu nutzen.
Aus Sicht des DCV ist darüber hinaus die Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern zu stärken, da sie - wie Studien zum Beispiel des Deutschen Jugendinstituts zur Hilfeplanung zeigen - wesentlich zum Erfolg der Hilfen beiträgt. Für die Inanspruchnahme des individuellen Rechtsanspruchs, der nicht zur Disposition steht, muss das Wunsch- und Wahlrecht ein unverzichtbares Prinzip bleiben. Neben der verbesserten Umsetzung der dem Grunde nach bewährten Steuerungsinstrumente im SGB VIII (Hilfeplanung, Jugendhilfeplanung, Qualitätsentwicklung) und der Verstärkung des sogenannten "Wirksamkeitsdialogs" wird die Frage der Rechtssicherheit beim systematischen Zusammenwirken von Regelangeboten, sozialräumlicher Arbeit und Strukturen mit den Hilfen zur Erziehung und ihrer Finanzierung in den Fokus der weiteren Debatte rücken.
Neues Finanzierungsgutachten
Das von einzelnen Ländern in Auftrag gegebene und seit Anfang Juni 2014 vorliegende Gutachten des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF): "Recht auf Finanzierung von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe" gibt Aufschluss über die im SGB VIII grundgelegten komplexen Finanzierungsstrukturen und ihre Anwendung auf präventiv und sozialräumlich ausgerichtete Ansätze. Außerdem informiert es über gegebenenfalls notwendige und sinnvolle rechtliche Anpassungen und Klarstellungen.
Dieser Strang wird auch von der JFMK 2014 aufgegriffen, indem neben der Konkretisierung der schon erwähnten, bekannten Handlungsbedarfe erstmals gesetzliche Vorschriften des SGB VIII und ihre möglichen Ergänzungen beziehungsweise Änderungen in den Blick genommen werden.
Im Einzelnen werden zum Beispiel genannt:
- Ergänzung im § 5 Abs. 2 SGB VIII (Wunsch- und Wahlrecht), dass Mehrkosten wegen Sozialraumarbeit, wenn sie nicht unverhältnismäßig sind, nicht gegen das Wunsch- und Wahlrecht eingewandt werden können.
- Hervorhebung im § 27 Abs. 2 SGB VIII (Hilfe zur Erziehung), dass das soziale Umfeld, insbesondere die Regelsysteme der Kindertagesbetreuung und der Schule, grundsätzlich einzubeziehen sind.
- Änderung § 74 SGB VIII (freie Förderung): Ermöglichung des Reduzierens von Eigenleistungen des freien Trägers bei einer Förderung nach § 74 SGB VIII oder erlaubter Verzicht zur Förderung von infrastrukturellen Angeboten und Aufnahme weiterer Auswahlkriterien, zum Beispiel Privilegierung von Angeboten mit Sozialraumbezug oder Qualitätskriterien.
- Änderungen im Bereich des § 77 (Vereinbarungen über die Höhe der Kosten) und seiner Anwendung hinsichtlich der Trägerauswahl und des Ermöglichens der Mischfinanzierung.
- Einführung verschiedener Kooperationsverpflichtungen und Selbstverpflichtung der Länder, in den eigenen Schulgesetzen eine verbindliche Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe zu verankern.
Darüber hinaus schlägt die JFMK die Einrichtung eines "Sonderforschungsbereichs" beim Bundesfamilienministerium vor: "Jugendhilfeforschung - Hilfen zur Erziehung", mit zehn Millionen Euro für vier Jahre zur Förderung von Grundlagenforschung, Evaluation und Längsschnittstudien: Unter anderem sollen Indikatoren für die Wirksamkeit von HzE identifiziert beziehungsweise entwickelt werden.
Die Debatte geht also weiter. Sie wird sich zukünftig stärker fokussieren auf die Umsetzung der identifizierten Weiterentwicklungsbedarfe einschließlich etwaiger gesetzlicher Ergänzungen und Änderungen. Diese Vorschläge und Ansätze, die im Kern auf eine SGB-VIII-Novellierung zielen, werden im Einzelnen zu diskutieren und zu bewerten sein. Von daher wird auf die verbandliche Caritas und ihre Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfe noch viel Auseinandersetzungs- und Positionierungsarbeit zukommen. Diese Herausforderungen und auch Chancen sollten im Sinne einer bedarfsgerechten und wirkungsvollen Hilfe zur Erziehung genutzt werden.
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