Methode ersetzt nicht Beziehung
Schon seit einigen Jahren entsteht der Eindruck - vor allem bei den Geldgebern -, dass der Stein der Weisen für die Soziale Arbeit gefunden wurde: Das Case-Management (CM). Der Tenor: So, wie bislang gearbeitet wurde, war’s zwar nett, hat auch einzelnen Menschen geholfen, hatte aber keine Systematik. Die Arbeit war somit auch nicht transparent und nicht überprüfbar.
Stattdessen also jetzt Case-Management: Es setzt auf Transparenz und bietet eine gute Grundlage für ein Controlling, das darauf abzielt, die Wirkung Sozialer Arbeit sichtbar zu machen. Damit liefert es letztendlich eine Begründung dafür, in Zeiten knapper öffentlicher Kassen für soziale Dienste - die nicht zwingend vorgehalten werden müssen - Geld auszugeben.
Mit dem aus den USA stammenden Konzept des Case-Managements geschah somit etwas Merkwürdiges. Hierzulande entspann sich weniger eine Theoriediskussion innerhalb der Sozialen Arbeit. Vielmehr wurde die Methode CM als Voraussetzung für die Förderung sozialer Dienste festgeschrieben. Diese sollen gesellschaftspolitisch gesetzte Ziele für bestimmte Zielgruppen realisieren und so die Legitimation für ihre finanzielle Förderung erhalten.
Management-Inhalte und -Anforderungen sind schon recht lange eine notwendige Voraussetzung für Soziale Arbeit. Sie sollen Bestandteil der Ausbildung sein.1 Die "Deutsche Gesellschaft für Care und Case Management" definiert Case-Management als "eine Verfahrensweise in Humandiensten und ihrer Organisation zu dem Zweck, bedarfsentsprechend im Einzelfall eine nötige Unterstützung, Behandlung, Begleitung, Förderung und Versorgung von Menschen angemessen zu bewerkstelligen. Der Handlungsansatz ist zugleich ein Programm, nach dem Leistungsprozesse in einem System der Versorgung und in einzelnen Bereichen des Sozial- und Gesundheitswesens effektiv und effizient gesteuert werden können."2
Anders ausgedrückt, beinhaltet CM eine umfassende und bedarfsgerechte Unterstützung und bezieht vorhandene individuelle und gesellschaftliche Ressourcen mit ein. Dabei hat der/die Sozialarbeiter(in) die Rolle, eigene Kompetenzen einzubringen, Kompetenzen der Klientel und anderer sozialer Dienste zu erschließen und Rückmeldungen über die dort erfolgten Leistungen einzuholen. Diese fließen in den Unterstützungsprozess ein. Der- oder diejenige, welche(r) den Hilfeprozess in die Wege geleitet hat, steuert den Prozess. Dort laufen die Fäden zusammen, um eine möglichst wirksame und effiziente Unterstützung zu gewährleisten.
Hier sind also Elemente vereint, die eigentlich zu einer guten professionellen Sozialarbeit gehören: Unterstützung möglichst aus einer Hand, Einleiten und Begleiten eines geplanten und strukturierten Hilfeprozesses, Erschließung von Ressourcen und bedarfsorientierte Arbeit. Ergänzen kann man noch den möglichst effizienten Einsatz vorhandener Fähigkeiten und damit auch Mittel sowie die Transparenz des Hilfeprozesses. Ist nun Case-Management alter Wein in neuen Schläuchen?
"Case Management bringt daher der Sozialen Arbeit eine neue Qualität (oder eine verloren gegangene Grundidee wieder zurück) und verwirklicht das unverwechselbare Profil (Wechselbeziehung von Individuum und Umfeld) in Bezug auf andere Professionen in hohem Maße. Das zielorientierte Arbeiten, der Auftrag, effektiv und effizient zu arbeiten, trägt die Chance in sich, Soziale Arbeit aus dem Geruch der Beliebigkeit zu befreien. Sie kann die Wirksamkeit professioneller Hilfe deutlicher darstellen."3
Eine sinnvolle Methode in komplizierten Fällen
CM beinhaltet also durchaus bekannte Fähigkeiten Sozialer Arbeit und sorgt vorrangig für deren transparente und nachvollziehbare Darstellung. Professionelle Soziale Arbeit war auch vorher nicht beliebig; die Systematik des CM macht dies nur besser sichtbar.
Case-Management ist die angemessene Arbeitsweise, wenn
- das Beratungsziel einen längeren Beratungsprozess erfordert,
- eine intensive Beratung und Begleitung über einen längeren Zeitraum gewünscht werden und erforderlich sind,
- eine komplexe Problemkonstellation eine umfangreiche Beratung notwendig macht.
Die sinnvolle Anwendung dieser Methode richtet sich also in erster Linie danach, wie komplex die gemeinsam zu bearbeitende Thematik ist - und damit nach der Intensität der Zusammenarbeit zwischen Ratsuchenden und Berater(inne)n. Zudem regelt diese Methode eine enge und verbindliche Kooperation mit anderen Diensten, die immer für zielorientiertes Handeln vorausgesetzt sein sollte. Die im CM geforderte Transparenz gehört zu einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe und somit wie das Prinzip der Freiwilligkeit zu den Standards Sozialer Arbeit.4
Der Einsatz einer bestimmten Arbeitsweise ist also abhängig von individuellen Voraussetzungen derjenigen, die Soziale Arbeit in Anspruch nehmen, von verfügbaren Ressourcen (individuell und im Umfeld) und den Inhalten der Beziehung. Dabei ist CM nicht die einzig angemessene Methode Sozialer Arbeit. Sie ist abhängig vom zu bearbeitenden Thema, von den Rahmenbedingungen und den Beteiligten.
Die Erwartung, ständig mit 75 bis 100 Klient(inn)en ein intensives CM durchzuführen, ist dabei unrealistisch und gegenläufig zu der verlangten Effizienz. Es ist nicht angemessen, die Qualität Sozialer Arbeit vorrangig vom Einsatz einer bestimmten Methode abhängig zu machen.
In der Migrationsberatung ist CM verpflichtend
Staatliche Geldgeber haben natürlich feste Erwartungen an die von ihnen geförderten Dienste. Dabei schreiben sie zumindest in der Migrationsberatung die Anwendung des Case-Managements zwingend vor:
"Die Schwerpunkte der Aufgabenwahrnehmung durch die MBE (Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer) liegen auf der Durchführung
- einer bedarfsorientierten Einzelfallberatung der Zuwanderer auf der Grundlage eines professionellen Case-Management-Verfahrens sowie
- der sozialpädagogischen Betreuung der Zuwanderer und einer Hilfestellung bei der Vermittlung von Kinderbetreuungsangeboten während der Integrationskurse."5
"Die Beraterinnen und Berater sollen neu zugewanderte Migrantinnen und Migranten mit Daueraufenthalt bei ihrem Integrationsprozess wie auch bereits länger hier mit Daueraufenthaltsrecht lebende Migrantinnen und Migranten mit Förderbedarf mit der Methode des Case Managements begleiten. Sie sollen diesen und andere Migrantengruppen punktuell oder in migrationsspezifischen Krisensituationen hinsichtlich ihrer persönlichen Perspektive beraten."6
Das Innenministerium Schleswig-Holstein verfolgt dabei klar beschriebene Ziele:
"Die Migrationssozialberatung soll für Migrantinnen und Migranten mit Daueraufenthalt einen frühzeitigen Integrationsprozess initiieren und sie mit dem Ziel begleiten, die Migrantinnen und Migranten zu einem selbständigen Leben zu befähigen."7
Nimmt man diese beiden letzten Aussagen zusammen, so soll Soziale Arbeit mit der Anwendung der Methode Case-Management für eine bestimmte Zielgruppe politisch gesetzte Ziele umsetzen. Hier steht also nicht mehr der Mensch mit seinen Bedürfnissen, Wünschen und Fähigkeiten im Mittelpunkt, aus denen heraus dann sozialarbeiterisch verantwortungsvoll und kundenorientiert gearbeitet wird, sondern ein gesellschaftspolitischer Auftrag des Geldgebers, der zudem die Anwendung einer bestimmten Methode einfordert. Parallel dazu wird damit suggeriert, dass durch den Einsatz dieser Methode dieses gesellschaftliche Ziel zumindest teilweise erreicht werden kann.
CM ist eine sinnvolle Methode strukturierter und transparenter Sozialarbeit bei komplexen Problemkonstellationen. Sie kommt in der Einzelfallarbeit zur Anwendung und verlangt umfangreiche Aktivitäten in Netzwerken und im Gemeinwesen, um effektiv eingesetzt zu werden. Professionelle Sozialarbeit beinhaltet eine breite Methodenvielfalt sowohl in der Einzelfallarbeit als auch darüber hinaus. Es gibt in der Sozialarbeit nicht die eine methodische Weisheit, mit der alles erreicht werden kann.
Gut strukturierte Sozialarbeit ist effektiv, setzt Ressourcen sinnvoll ein, sieht die Einzelnen in ihrem sozialen Umfeld, bezieht dieses in den Unterstützungsprozess ein und schafft Transparenz. Hier bietet CM wichtige und sinnvolle Hilfsmittel.
Geldgeber wollen wissen, wie wirksam Sozialarbeit ist
Geldgeber haben ein Recht, danach zu fragen, was Soziale Arbeit erreicht und welche Wirkung sie individuell, aber auch gesellschaftlich erzielt. Die Herausforderung für Soziale Arbeit besteht darin, darauf Antworten zu geben, individuelle Veränderungen nachvollziehbar zu beschreiben, gesellschaftliche Grenzen und deren Auswirkung auf Individuen aufzuzeigen und gesellschaftspolitische Forderungen zu stellen.
"Der Fall (Case) muss demnach im Mittelpunkt des Unterstützungsprozesses stehen. In dieser Fallbearbeitung wird besonders das fallbezogene, personale Netzwerk mit berücksichtigt, aktiviert oder geknüpft. Insbesondere besteht die Erweiterung der Fallarbeit darin, die Abläufe zu qualifizieren, die fallbezogenen Unterstützungsleistungen zu koordinieren, zu steuern und für transparente Strukturen zu sorgen. Der Anspruch, der in der Case-Management-Diskussion immer wieder erhoben wird, auch das Dienstleistungs- oder Versorgungssystem - die Makroebene - mit zu planen und zu strukturieren, geht weit über die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Case-Manager(innen) hinaus."8
Soziale Arbeit ist und bleibt in erster Linie Beziehungsarbeit mit professioneller sozialer und beraterischer Kompetenz. Sie ist kein davon losgelöstes Prozessmanagement. Sozialmanagement-Kompetenzen sind in der Sozialen Arbeit notwendig, um Rahmenbedingungen für diese Arbeit zu schaffen beziehungsweise zu verbessern, auch um sie besser zu strukturieren und transparent zu machen. Aber sie bilden nicht deren Kern. Professionelle Soziale Arbeit wird immer gesellschaftliche Ausgrenzung insbesondere von benachteiligten Gruppen in den Blick nehmen und gesellschaftspolitische Veränderungen einfordern. Sie ist aber nicht für die Umsetzung dieser Veränderungen verantwortlich - und daran ändern auch Qualifizierungen in Case-Management nichts.
Soziale Beratungsarbeit könnte noch effektiver und effizienter sein, wenn sie ganzheitlich ausgerichtet wäre. Dem stehen vielleicht gewisse Ressentiments entgegen, auf jeden Fall aber spezifische differenzierte und nach Sparten gegliederte Finanzierungen. CM umfasst den Gedanken der Unterstützung aus einer Hand, überwindet aber die Versäulung sozialer Arbeit nicht.
Anmerkungen
1. Vgl. Babinsky, Gerhard: Anforderungen an Sozialarbeiter und Sozialpädagogen. In: Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (Hrsg.): Die Fürsorge im sozialen Rechtsstaat. Frankfurt/M., Eigenveröffentlichung, 1970, S. 596 f.
2. Nach www.dgcc.de/case-management/
3. Neuffer, Manfred: Case Management. Soziale Arbeit mit Einzelnen und Familien. Weinheim und München, Juventa, 2007 (3), S. 222.
4. Vgl. Hierzu Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V. (DBSH): Berufsethische Prinzipien des DBSH. In: DBSH: Grundlagen für die Arbeit des DBSH. Oktober 2009, S. 9 ff.
5. Förderrichtlinien zur Durchführung einer Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer (MBE) des Bundesinnenministeriums vom 1. März 2010.
6. Rahmenkonzept für eine Sozialberatung für Migrantinnen und Migranten (Migrationssozialberatung) in Schleswig-Holstein. Innenministerium Schleswig-Holstein vom 10. Januar 2006.
7. Wirkung und Erfolge der Migrationssozialberatung. Controllingkonzept des Innenministeriums Schleswig-Holstein von 2007.
8. Neuffer, a.a.O., 2009 (4), S. 10.