Festung Europa zementiert ihre Mauern
Mehr als 330.000 Menschen stellten nach Angaben des europäischen Statistikinstituts allein im Jahr 2012 einen Antrag auf Asyl in einem Land der Europäischen Union (EU) – eine Zahl, hinter der Schicksale von Flucht und Vertreibung stehen.1 Doch oftmals hängt der Erfolg eines Antrags davon ab, in welchem Land er gestellt wird. Die EU versucht schon seit vielen Jahren, die verschiedenen Asylsysteme zu vereinheitlichen, und hatte sich zum Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2012 ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) zu schaffen. Auch der Deutsche Caritasverband (DCV) setzt sich für diesen Schritt ein und begleitet den Prozess intensiv. Nach den Beschlüssen zu zentralen europäischen Rechtsakten im Juni 2013 soll das neue Asylsystem nun bis 2015 in allen EU-Ländern umgesetzt werden.
Ziel der Neufassungen der Asylverfahrensrichtlinie, der Richtlinie über die Aufnahmebedingungen, der Dublin-Verordnung und der Eurodac-Verordnung ist es, einen gemeinsamen Schutzraum für Flüchtlinge zu schaffen.2 Dafür werden die sozialen Rahmenbedingungen während des Asylverfahrens verbessert: Flüchtlinge sollen zum Beispiel nur noch in Ausnahmefällen und aus ganz bestimmten Gründen in Haft untergebracht werden. Vor der Überarbeitung konnte jeder EU-Mitgliedstaat Haftgründe selbst festlegen. Allen inhaftierten Flüchtlingen müssen künftig Informationen über ihre Rechte und ihren Prozess in einer Sprache bereitgestellt werden, die sie verstehen, außerdem sollen sie getrennt von den übrigen Gefangenen untergebracht werden. Flüchtlingshilfsorganisationen kritisieren jedoch, dass die Haftgründe so weit gefasst sind, „dass kein Fall denkbar ist, in dem kein Haftgrund vorliegen könnte“3. Der DCV setzt sich für ein generelles Verbot der Inhaftierung von Flüchtlingen ein.
Um die Chance auf ein erfolgreiches Asylgesuch in allen EU-Ländern anzugleichen, müssen Anträge europaweit nun innerhalb von sechs Monaten bearbeitet werden. Diese Frist kann nur in genau definierten Ausnahmefällen verlängert werden. Um Flüchtlinge besser in die Gesellschaft des Aufnahmelandes zu integrieren, müssen alle EU-Länder bereits spätestens nach neun Monaten statt bisher zwölf Monaten eine Arbeitserlaubnis ausstellen. Bei der Arbeitssuche kann jedoch weiterhin eine Vorrangprüfung verlangt werden. Die Position der Caritas, spätestens nach sechs Monaten den Zugang zum Arbeitsmarkt ohne vorherige Arbeitsmarktprüfung sicherzustellen, wurde also nur teilweise umgesetzt. Die in Deutschland besonders umstrittene und von der Caritas abgelehnte Residenzpflicht (also die Verpflichtung, sich nur im von den Behörden vorgegebenen Bereich aufzuhalten) kann auch nach der neuen Regelung aufrechterhalten werden.
Einreiseländer wie Italien sind überfordert
Für Asylsuchende besonders bedeutend ist die sogenannte Dublin-Verordnung, die regelt, welcher EU-Staat für den Asylantrag zuständig ist. Normalerweise ist dies das erste Land der EU, in das der Flüchtling einreist und in dem er seinen ersten Antrag stellt. Wird der Asylsuchende in einem anderen Land aufgegriffen oder stellt einen zweiten Antrag, kann er in das zuständige Land zurückgeschickt werden. Durch diese Regelungen sind typische Einreiseländer wie Italien, Griechenland oder Malta mit dem Flüchtlingsansturm oftmals überfordert und können keinen ausreichenden Schutz gewähren. Auch die Caritas kritisiert die politischen und sozialen Auswirkungen dieses „System[s] organisierter Verantwortungslosigkeit“4. Durch das neue Asylsystem dürfen Flüchtlinge nun nicht mehr in EU-Staaten zurückgeschickt werden, in denen die Gefahr besteht, dass sie eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erwartet. Eine Verteilung der Flüchtlinge über alle europäischen Länder wird es aber auch künftig nicht geben. Allerdings hat jede(r) Asylbewerber(in) nun das Recht auf ein Rechtsmittel, um gegen den Transfer-Bescheid vorzugehen. Um festzustellen, welches EU-Land für den Asylantrag zuständig ist, werden die Fingerabdrücke aller Asylsuchenden über 14 Jahre in der Datenbank Eurodac gespeichert. Die neue Regelung erlaubt nun auch der Polizei, zur Terrorismusabwehr auf diese Daten zuzugreifen.
Auch in der Neuregelung dürfen Flüchtlinge wieder direkt in sogenannte „sichere“ Drittstaaten abgeschoben werden, über die sie eingereist waren. Diese Staaten sind Mitgliedstaaten der EU sowie Staaten außerhalb der EU, die die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert haben und vom jeweiligen Mitgliedstaat als „sicher“ bezeichnet werden. Flüchtlinge werden also weiterhin im Schnellverfahren und ohne Prüfung direkt an der Grenze abgeschoben. Vor allem Deutschland setzte sich für den Erhalt dieses „Flughafenverfahrens“ ein, das die Caritas ablehnt.
Einen besseren Schutz wird es für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge geben. Ihnen muss ein(e) gesetzliche(r) Vertreter(in) an die Seite gestellt werden, und sie dürfen nur unter besonderen Umständen inhaftiert werden. Um die Möglichkeit der Familienzusammenführung adäquat auszuschöpfen, müssen von jedem Mitgliedstaat zu diesem Zwecke Ermittlungen angestellt werden.
Das neue Asylsystem räumt Asylsuchenden in einigen Bereichen mehr Rechte ein. Es macht den EU-Ländern genauere Vorgaben. Der stark kritisierte Ansatz der Dublin-Verordnung bleibt jedoch auch weiterhin Grundlage des Asylsystems. Auch nach der Neufassung sind die oft überlasteten Einreiseländer für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig, und Flüchtlinge werden in Europa hin- und hergeschickt. Von einer gerechteren Lastenteilung und einem tatsächlich einheitlichen Schutz kann daher nicht die Rede sein. Die Überarbeitungen sind sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung; die Caritas wird sich jedoch auch weiterhin dafür einsetzen, dass Flüchtlinge in der EU durchgehend und auf hohem Niveau geschützt werden.
Anmerkungen
1. Eurostat Newsrelease 48/2013, 22 March 2013.
2. Europäische Kommission: A Common European Asylum System. Straßburg, 12. Juni 2013.
3. Pro Asyl: EU-Asyl-Paket: Neuregelungen der Asyl-Richtlinien und -Verordnungen. Erste Einschätzung von Pro Asyl. Frankfurt/Main, 12. Juni 2013.
4. Deutscher Caritasverband et al.: Gemeinsame Stellungnahme zum derzeitigen Stand der Harmonisierung des europäischen Flüchtlingsrechts. Berlin, 30. Juni 2009, S. 10.