Dem Dilemma standhalten
In diesem Artikel geht es nicht um die Abwägung juristischer Finessen, nicht um die Ausbreitung fachwissenschaftlicher Ansätze. Vielmehr möchte ich für Träger und Mitarbeitende aus Psychiatrie und Behindertenhilfe eine Lanze brechen, die sich berühren lassen von der Not behinderter und chronisch psychisch kranker Menschen. Es geht um Ansätze, wie sie mit ihren Klient(inn)en einen Weg zu weniger Zwang, zu mehr Selbstbestimmung finden. Einsetzen möchte ich mich dafür, dass diese Arbeit öffentlich wahrgenommen und diskutiert wird – mit all ihren schwierigen Fragen und Spannungsfeldern.
Zwei Fallbeispiele
Lebensgefährdende Selbstschädigung
Die 24-jährige Ricarda P. ist auf Einkaufstour in Düsseldorf. Sie möchte sich schick machen für Georg, einen jungen Mann im Freiwilligen Sozialen Jahr, der ihr – sicher ungewollt – seit zwei Monaten den Kopf verdreht. Sie ist nicht alleine, eigentlich nie während des Tages. Immer ist eine Betreuungsperson in ihrer unmittelbaren Nähe. Nach dem Abendbrot noch ein wenig fernsehen, und dann verabschiedet sich Frau P. in ihr Zimmer hinter verschlossenen Türen. Ihr privater Raum ist äußerst karg eingerichtet, eine Art Hochsicherheitsrevier. Nur hier darf sie unbeobachtet sein. Das Zimmer befindet sich in einer Wohngruppe für Menschen mit geistiger Behinderung und Problemverhalten.
Ricarda P.s Problem: Sie hat eine Essstörung namens Pica-Syndrom – das heißt, sie verschluckt mehr oder weniger unvorhersehbar Gegenstände wie Löffel, Schlüssel, Pflegehandschuhe, Holzstücke, Papier etc. Nach der dritten Notoperation vor vier Jahren sagten die Ärzte, dass sie möglicherweise die nächste nicht überleben würde. Die Wohneinrichtung reagierte – nachvollziehbar – erschrocken mit einem umfangreichen Bündel freiheitsentziehender Maßnahmen, alle richterlich genehmigt, zum Schutz von Leib und Leben. Einmal fand ich Frau P. mitten am Tag vor, am Stuhl fixiert, die Hände zur Verhinderung von Greifbewegungen mit Orthesen gebunden, im Gesicht eine Maske, die unkontrolliertes Verschlucken unterband. Ein entsetzlicher Zustand, nicht nur für die junge Frau, sondern auch für das komplette Mitarbeiterteam und für die Mutter der Bewohnerin, die nun täglich mehrfach in der Einrichtung erschien und das scheinbar Unvereinbare verlangte für ihre Tochter: Sicherheit und Freiheit.
Seither sind einige Jahre gemeinsamer harter Arbeit vergangen. Der Kostenträger der Eingliederungshilfe hat für durchschnittlich sechs Stunden täglich eine Einzelfallhilfe finanziert, die damit (zusätzlich zur üblichen Finanzierung) der Klientin ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken kann. Eine Heilpädagogin begleitet den Entwicklungsprozess ressourcenorientiert. Sie lenkt den Blick immer wieder neu auf das, was Ricarda P. eben auch ist: eine junge Frau, die sich in Männer verguckt, Freude an schöner Kleidung hat, Popmusik hört, die lacht und streitet. Durch ergänzende logopädische Therapie und durch arbeitsfördernde Maßnahmen konnte Ricarda P. ihre Mitteilungsmöglichkeiten ebenso wie ihre Kompetenzen zur produktiven Teilhabe deutlich ausbauen.
Zwischenzeitlich ist es gelungen, den professionellen Auftrag der Betreuungseinrichtung neu zu definieren. Der Einzelfall Ricarda P. wurde zum Motor einer umfänglichen fachlichen und ethischen Neuausrichtung. In guter Abstimmung mit der Mutter, zugleich gesetzliche Betreuerin, sind gelockerte Sicherheitsstandards verabredet worden. Diese geben einerseits Raum für ein würdigeres Leben, für den Aufbau tragfähiger Bindungen, für persönliches Wachstum. Sie bieten andererseits einen Raum, der auch Risikozonen enthält, in denen Selbstschädigung nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann.
Suizidgefahr schwer zu ermessen
Ingo L. ist tot. Er hat sich vor den Zug geworfen. Zuvor lebte er fast 20 Jahre mit einer quälenden Psychose, mit in engen Abständen wiederkehrenden Episoden, in denen ihn „seine“ Stimmen beleidigten, anschrien, entwürdigten. Er lebte in sozial immer brüchigeren Kontexten, verlor seine Arbeit, seine Familie. Zuletzt blieb ihm eine Wohneinrichtung für seelisch behinderte Erwachsene, die ihre Klienten in der Alltagsbewältigung unterstützt.
Ingo L. wollte dort nicht sein. Weder ihm noch den Mitarbeitenden der Einrichtung gelang ein befriedigender, stabilisierender Beziehungsaufbau. Zunächst häuften sich die Konflikte mit Mitbewohnern und Mitarbeitern, dann kamen suizidale Gedanken hinzu. Mehrere stationäre Aufenthalte in der Akutpsychiatrie verliefen ohne nachhaltige Wirkung. Am Tag vor seinem Freitod wurde Ingo L. in einem nahegelegenen Flüsschen gefunden, in dem er – das Wasser bis zum Hals – saß, „um zu baden“. Nach Einlieferung ins psychiatrische Krankenhaus verweigerte er jede Behandlung und forderte erfolgreich seine sofortige Entlassung. „Baden ist ja nicht verboten.“ Das Ende ist bekannt.
Es geht um Menschen in extremer Not
Zwei Fallbeispiele, zwei unterschiedliche Menschen. Was haben sie gemeinsam? In beiden Fällen geht es für die Betroffenen um Leben und Tod, geht es aufseiten derjenigen, die nicht wegschauen, die sich der Behandlungs- und Unterstützungsaufgabe stellen, um eine risikoreiche Gratwanderung zwischen Freiheitsanspruch und Überlebenssicherung. Alle Beteiligten sind extrem gefordert, seelisch und körperlich. Ich möchte hier nicht den Versuch unternehmen, die komplexen Fragen aus rechtlicher, ethischer, sozialpolitischer, psychiatrischer und heilpädagogischer Perspektive umfänglich zu beantworten. Auf Folgendes sei aufmerksam gemacht: Es geht um Menschen in Not, es geht um schwerstkranke und/oder behinderte Mitbürger(innen), vielfach traumatisiert, abgewiesen, eingewiesen, alleingelassen, Menschen am äußersten Rand unserer Wohlfahrtsgesellschaft.
Im Weiteren geht es mir um Hilfesysteme in Not, um psychiatrisch und heilpädagogisch tätige Mitarbeitende in unseren kirchlichen Einrichtungen, die, mit höchster Verantwortung belastet, nicht selten mit völlig unzureichenden Mitteln ausgestattet, fast nichts richtig und fast alles falsch machen können. Mit einem Bein sehen sie sich immer vor Gericht, entweder wegen unterlassener Hilfeleistung oder wegen Verletzung der Freiheitsrechte.
Ich möchte für beide Gruppen, für die Betroffenen mit besonderem Unterstützungsbedarf wie für die Behandler und Unterstützer, ein deutliches Mehr an gesellschaftlicher Rückenstärkung anmahnen.
Da sind zu viele, die es sich einfach machen:
- Zum Beispiel diejenigen in der Sozialverwaltung, die so tun, als ginge einfach alles im offenen Betreuungs- und Behandlungssetting. Im Rheinland etwa gibt es eine kleine Anzahl sogenannter Geschlossener Wohneinrichtungen, deren Existenz vom zentralen Leistungsträger der Eingliederungshilfe übersehen und deren Existenzberechtigung sehr oft bestritten wird. Zugleich werden diese Einrichtungen aus derselben Behörde, zwei Hierarchiestufen tiefer, mit Betreuungsanfragen geradezu bombardiert.
- Zum Beispiel diejenigen im Land, die polemisierend in der Praxis freiheitsbeschränkender Maßnahmen per se einen Beweis für den Fortbestand des alten paternalistischen, die Menschenwürde missachtenden Systems der Psychiatrie, der Behinderten- und der Altenhilfe sehen. In dieser Gruppe findet sich ein, wer „sauber bleiben“ will, wer vor der erlebbaren Not die Augen verschließt und sich lieber in Grundsatz-Statements ergeht. Um Missverständnissen vorzubeugen: Im Gegensatz zur so skizzierten Gruppe sind mir echte Systemkritiker(innen) wichtig – solche, die tatsächliche Macht- und Gewaltzusammenhänge aufdecken im Interesse von deren Überwindung, die dann aber auch um einen Weg zu Freiheit und Selbstbestimmung kämpfen, vor Ort in konkreter Verantwortung.
- Schwer tue ich mich auch mit denjenigen in Behindertenhilfe und Politik, die im Kontext des so bedeutsamen Inklusionsparadigmas alle Orte der spezialisierten Hilfe wahllos diskreditieren: Ambulant ist toll, stationär ist peinlich und von gestern. Auf der Hinterbühne1 bleiben diejenigen zurück, die sich mit den schwierigsten Unterstützungsaufgaben mühen, und diejenigen Klienten, die im „zauberhaft inkludierten Sozialraum“ vereinsamen und verwahrlosen. Die großartigen, wegweisenden Impulse aus den Artikeln 14 und 17 der UN-Behindertenrechtskonvention – ich hoffe, dass an ihrer Verwirklichung ernsthaft geackert wird mit Blick auf Menschen wie Ricarda P. und Ingo L.
- Kritisch sehe ich auch die Protagonisten einer „Zukunftspsychiatrie“, die sich ihrer sozialpsychiatrischen Verantwortung durch schnelle Entlassung, durch einseitige Biologisierung ihres Fachs und durch eine bemerkenswert mangelhafte Präsenz an den Lebensorten der Gefährdeten entledigen. Schicker und wirtschaftlich auskömmlicher sind da sicher die Privatstation und die Behandlung derer, die sich in immer kürzeren Behandlungszeiten gefügig zeigen. Die schwierigsten Klient(inn)en sind längst zu unangenehmen Störenfrieden im stromlinienförmigen Klinikalltag geworden. Vielerorts vorbei ist die Zeit, in der sich neue Konzepte – im Sinne Klaus Dörners – an diesen „Schwierigsten“ zu beweisen hatten. Die bevorstehende Einführung des DRG-Systems PEPP2 in der Psychiatrie wird die Problematik eher verschärfen. Sie hat bereits in der somatischen Krankenhauslandschaft aus Kliniken „Industriebetriebe“ mit extrem schlanken Behandlungsprozessen gemacht.
Im Dilemma bleiben – und immer neu Wege suchen
Dem gegenüber stehen Kräfte, die mit Blick auf Lösungsansätze und Handlungsperspektiven, um es einfach zu sagen, im Dilemma bleiben und sich von dort auf den Weg machen. Dazu zählen gestaltende Kräfte in Politik und Wissenschaft, bei Leistungsträgern sowie in der Leitung und Mitarbeiterschaft psychiatrischer und heilpädagogischer Einrichtungen. Wenngleich wenig registriert, kommen von ihnen wertvolle Impulse.
Vor allem wünsche ich mir Anerkennung und Unterstützung für Einrichtungsträger, die ihre Türen offenhalten für einen Personenkreis, der sie an die Grenzen führt. Meinen Respekt haben Träger, die trotz höchster Nachfrage keine neuen geschlossenen Großanstalten bauen.
Und Hochachtung verdienen Praktiker(innen), die mit der Entsorgung der „fürsorglichen Belagerung“ in der Sorge bleiben für Menschen, denen die Selbstsorge in bestimmten Lebensphasen ganz augenscheinlich nicht gelingt. Sie gehen in den Kontakt statt aus ihm heraus, gehen in den Konflikt, in die belastende Beziehung, bleiben also auf dem mühevollen Weg zu weniger Gewalt, zu mehr erfahrbarer Freiheit und Lebensqualität.
Dieser Weg, es sei nochmals betont, will erkämpft werden, nicht herbeischwadroniert. Für diese Kolleginnen und Kollegen vor Ort bleibt die freiheitseinschränkende Maßnahme Gewalt und damit ein auch von ihnen selbst empfundener Schmerz. Sie vergewissern sich in ethischen Diskursen, suchen nach neuen fachlichen Ansätzen für mehr Gewaltfreiheit, halten durch auf des Messers Schneide. Träger und Mitarbeitende benötigen dafür dringend Rückenstärkung. Hier ein paar Anregungen:
Dialog der Disziplinen
In Wissenschaft und Praxis gibt es vielfältige Ansätze, die Mut machen. Sie gehören ins Rampenlicht. Durch einen systematisch verstehenden Zugang, durch den Einsatz heilpädagogisch und therapeutisch fundierter Verfahren lassen sich immer wieder Wege zur Reduzierung bis hin zum kompletten Verzicht auf Freiheitsbeschränkung finden. Hier fehlt mir, von Ausnahmen abgesehen, der Dialog zwischen Psychiatrie und Heilpädagogik. Nur disziplinübergreifende Konzepte der Hilfevernetzung und gegenseitigen Konsultation versprechen erfolgreich zu sein.
Mehr als hinderlich, eine der größten Barrieren auf dem Weg, ist die fehlende koordinierte Verantwortungsübernahme der Leistungsträger. Die gegenwärtig so zersplitterte Landschaft der Rehabilitationsträger lässt kaum zu, dass Behandlungs- und Betreuungssettings vernünftig ineinandergreifen. Vorherrschend ist der Verweis auf die Verantwortung anderer und die Produktion von Schnittstellen, über die es keine Brücken gibt. Wo sind die politischen Kräfte, die sich dieser Aufgabe annehmen?
Mehr Transparenz, Fachberatung, Kontrolle
Viel wird in der Öffentlichkeit spekuliert über die Vermeidbarkeit und Zulässigkeit von Zwangsmaßnahmen. Häufig hört man von Nichtkennern der Szene, dass die Einrichtungen es sich leicht machen, dass sie Vermeidbares nicht vermeiden, Unzulässiges unter der Hand fortsetzen. Da helfen nur Fachberatung, Transparenz und Kontrolle.
- Jede der in Rede stehenden Einrichtungen benötigt ein auf Funktionsfähigkeit hin überprüftes Konzept der Gewaltprävention. Hier ist zu klären, welche Arbeitsansätze und Maßnahmen geeignet sind, freiheitseinschränkende Maßnahmen bereits im Vorfeld überflüssig zu machen. Solche Maßnahmen können immer nur Ultima Ratio sein. Dass Alternativen – wie im Fallbeispiel von Ricarda P. die intensive Einzelfallbetreuung – teuer sind und daher ihre Finanzierung unsicher bleibt, sei hier am Rande erwähnt.
- Notwendig ist die regionale Sammlung und Aufbereitung vergleichbarer Daten, also ein Benchmark zur Erkennung von Häufungen in der Anwendung von Zwangsmaßnahmen.
- Eher regelhaft als ausnahmsweise sucht man geeignete Unterstützungsorte für Menschen mit Gefährdungspotenzial monatelang vergeblich. Ganze Regionen verschließen sich der Aufgabe und verschieben sie lieber über ihre Grenzen. Deshalb ist mehr als der Zahlenvergleich im Benchmark nötig. Hilfreich wäre der Einsatz von fachlich hochkarätigen Besuchskommissionen, die in der Lage sind, inhaltlich und personenzentriert auf die Fallkonstellationen und die eingeleiteten Maßnahmen einzugehen.
Fazit
Wir brauchen in der Caritas eine Weiterentwicklung des Sorgeverständnisses, das zu jeder Zeit achtsam ist gegenüber den Freiheitsrechten, gegebenenfalls auch dem Recht auf Selbstschädigung. Wir kommen also nicht umhin, uns anrühren zu lassen, persönlich. So geerdet, geht es weniger um große Visionen als um nächste erfahrbare Schritte im vermutlich unauflösbaren Spannungsfeld von Freiheitseinschränkung und deren Überwindung. Das Rechtssystem kann und muss dazu Prinzipien und Eckpunkte formulieren. Entscheidend für die Menschen ist in jedem Falle das Geschehen „auf’m Platz“ – da, wo es ganz persönlich und existenziell wird im Betreuungs- und Behandlungsprozess.
Anmerkung
1. „Inklusive Kirche – Kirche der Andersheiten“. Vortrag von Sabine Schäper, Lehrstuhlinhaberin für Heilpädagogische Methodik und Intervention an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Münster, gehalten in Heidelberg am 9. März 2012.
2. Pauschalierendes Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik (gemäß der Verordnung pauschalierende Entgelte Psychiatrie und Psychosomatik 2013 – PEPPV 2013).