PID als "pars pro toto"?
Die antike Philosophie hat viele Wege zum Verständnis der Wirklichkeit vorbereitet. Ein Nebenzugang hat sich beispielsweise in der rhetorischen Figur des „pars pro toto“ (lat. „ein Teil [steht] für das Ganze“) geöffnet. Gemeint ist, dass ein Teil eines Zusammenhanges für eine gesamte Wirklichkeit stehen kann. Als Aristoteles nach einem sogenannten höchsten Gut, der Vollkommenheit, forschte, bediente er sich unter anderem folgender „Pars-pro-toto“-Schlussfolgerung1: Alle Teile des Menschen haben eine Funktion (Arme, Beine, Bauch, Mund, Zähne…). Folglich muss der Mensch insgesamt eine Aufgabe haben, wie beispielsweise das Erkenntnisstreben nach Vollkommenheit. Kritiker haben Aristoteles an dieser Stelle leicht des falschen Schlussfolgerns überführen können, da er unter anderem mechanische Fertigkeiten mit geistigen und ethischen Fähigkeiten vermengt. Entsprechend auch die Warnung, der nachfolgenden „Pars-pro-toto“-These kritisch zu folgen.
Die These lautet, dass die vor kurzem heftig geführte Debatte um die Zukunft der Präimplantationsdiagnostik (PID) ein Schlaglicht auf die gesamtgesellschaftliche Verfasstheit in Deutschland geworfen hat. Mit der Entscheidung des Bundestages vom 7. Juli 2011, die PID in Ausnahmefällen zuzulassen, hat sich die öffentliche Debatte weitgehend gelegt. Soziale Akteure wie die Caritas sollten diese allerdings nicht zu vorschnell aufgeben. An der Debatte und ihrem Ausgang lässt sich manches zeigen, was für aktuelle und künftige sozial-ethische Auseinandersetzungen wichtig sein wird. Mit der Entscheidung des Bundestages dürfen Paare künftig die PID nutzen, wenn aufgrund ihrer genetischen Veranlagung eine schwerwiegende Erbkrankheit beim Kind oder eine Tot- oder Fehlgeburt wahrscheinlich ist. Es ging bei den Debatten um die PID aber auch – neben der medizinischen Indikation – um das Recht auf ein gesundes Kind und um den Machbarkeitsanspruch von Wissenschaft und Medizin, dieses immer gewisser zusichern zu wollen. Die Caritas hatte eine Zulassung der PID abgelehnt, da sie „dazu dienen würde, routinemäßig Embryonen mit unerwünschten genetischen Anlagen zu erkennen und auszusortieren“2. Doch die Forschung arbeitet längst an noch weiterreichenden Zusicherungen auf ein gesundes Kind.
Was bewirken die neuen Bluttests für Schwangere?
Aufgrund der gendiagnostischen Forschungen des Hongkonger Pathologen Dennis Lo liegt mittlerweile ein Bluttest für Schwangere vor, der es bereits vor der zehnten Schwangerschaftswoche erlaubt, aus dem Fötus nahezu alle Erbinformationen zu ermitteln. In Deutschland wird eine Konstanzer Firma den Test im Frühjahr 2012 auf den Markt bringen, allerdings zunächst begrenzt auf die Frage, ob der Fötus eine Trisomie 21 (Downsyndrom) aufweist. Es ist bereits heute absehbar, dass der Bluttest auch auf andere Erbanomalien ausgeweitet und mittelbar wohl zu einer kassenärztlichen Leistung wird. Bekannt ist, dass schon heute in mehr als 90 Prozent der Fälle, in denen ein Downsyndrom festgestellt wird, sich die Frauen und Paare für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden. Ulrich Bahnsen schrieb dazu unlängst in der „Zeit“: „Es wird Zeit, sich von einer Lebenslüge dieser Gesellschaft zu verabschieden. Auch wenn vor dem Hintergrund unserer Geschichte schon der Gedanke schmerzt: In der Summe der individuellen Entscheidungen Zehntausender Paare pro Jahr findet eugenisches Handeln längst statt.“3
Das ist starker Tobak und sollte aufrütteln. Bahnsen bezieht in dem Artikel nur bedingt eine eigene Position. Er will vor allem einen gesellschaftlichen Diskurs darüber provozieren, wie die Entwicklungen in der Gendiagnostik unsere Werte und Gesellschaft verändern werden. Bahnsen schreibt allerdings nichts darüber, wie sehr die gendiagnostischen Entwicklungen einem allgemeinen „Konsum-Mainstream“ entsprechen, in dem gerade auch die jüngere Generation nach Anerkennung durch körperliche Makellosigkeit strebt. Es sei hier nur auf diverse Casting- und Model-Shows verwiesen, die bei der Jugend hohe Einschaltquoten verzeichnen. Redewendungen aus der Jugendsprache wie „Ich mach dich behindert“ belegen, dass Abweichungen von der Norm bis heute Ausgrenzung nach sich ziehen.
Eltern werden diskriminiert
Die Furcht davor, dass Diskriminierungen von Menschen mit Behinderung und deren Angehörigen zunehmen werden, ist nicht unbegründet. In Caritas-Beratungsstellen berichten beispielsweise Eltern von behinderten Kindern, dass sie schon heute immer wieder mit Formen subtiler Diskriminierung konfrontiert werden. Es werde ihnen suggeriert, ein Kind mit Behinderung wäre heute doch dank des medizinischen Fortschritts vermeidbar.
Die Notwendigkeit für die Caritas, den oben angemahnten Diskurs anzunehmen und aufzugreifen, ergibt sich notwendigerweise aus ihrem Eintreten für die vielen Menschen, die den modernen Maßstäben von Perfektion und Makellosigkeit nicht entsprechen.
Die eigenen Werte vertreten
Die Caritas muss in diesem Sinn „antimodern“ sein, ohne dabei auf die junge Generation unattraktiv und uninteressant zu wirken. Sie muss beispielsweise darauf hinweisen, dass etwa 95 Prozent aller Behinderungen während oder nach der Geburt entstehen und dass Behinderung mitnichten ein Makel ist, sondern eine Beeinträchtigung, in die vielfach soziale Zuschreibungen hineininterpretiert werden.
Die Caritas muss deutlich machen, dass die Kluft immer größer wird zwischen fortschrittsbezogenen Versprechungen und Erwartungen einerseits und einer stets fragilen Lebensrealität, in der Menschen jederzeit scheitern können, andererseits. Die aktuelle Caritas-Kampagne www. kein-mensch-ist-perfekt.de zeigt dies sehr gut auf.
Gute Kampagnen aber sind das eine – für die Caritas wichtiger ist die Herausforderung, wieder stärker eine charismatische soziale Bewegung zu werden: sich ausgehend vom christlichen Menschenbild und damit wissend um die Zerbrechlichkeit von Leben und Lebenswirklichkeiten glaubwürdig für die einzusetzen, die Hilfe, Schutz, Assistenz und Empowerment suchen und brauchen. Denn allen Entwicklungen der Gendiagnostik zum Trotz wird die Schere zwischen Arm und Reich allerorten größer, steigen die Fallzahlen von Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen, zerbrechen immer mehr Familien und identitätsstiftende Gemeinwesen … Folgerichtig beklagen die Caritas-Kolleg(inn)en in nahezu allen Arbeitsfeldern steigende Bedarfe und schrumpfende Finanzmittel für notwendige Hilfen und Assistenz. Auch die Gründung der „Tafeln“ war eine Reaktion darauf, dass der Sozialstaat sich keine umfängliche soziale Sicherung für seine Bürger mehr leisten kann oder will. In den Medien werden diese sozialen Fragen nur selten als veränderbare Wirklichkeiten thematisiert, sondern vielmehr als Schreckensszenarien präsentiert, die uns Mittelschichts-Konsument(inn)en in meist sicherer Entfernung auf der Couch wohlig erschauern lassen.
Solidarität stiften
Auch das gehört zur oben genannten Herausforderung für die Caritas: Über ihr soziales Engagement müssen auch diejenigen angesprochen werden, die vordergründig nicht von Abstiegs- und Verarmungsprozessen betroffen sind.
Der Diskurs der Caritas muss erreichen, dass Menschen weniger für sich allein, dafür umso mehr soziale Gemeinschaft leben – und dies nicht als Last erleben, sondern als persönliche Bereicherung. Die Caritas muss sich bunt, lebendig und fantasievoll gegen Trash und Trivialisierung stemmen.
In der Behindertenhilfe und -selbsthilfe äußern sich die empfundenen Widersprüche einerseits darin, dass Menschen mit Behinderung durch die UN-Behindertenrechtskonvention (in Deutschland seit 2009 in Kraft) und in Hochglanzbroschüren suggeriert wird, dass Selbstbestimmung und soziale Teilhabe selbstverständlich seien. Andererseits werden aber in der Realität kaum Wege entwickelt und Ressourcen bereitgestellt, um die menschenrechtlichen Ansprüche tatsächlich gelingen zu lassen. Entsprechend lastet auf der Behindertenhilfe derzeit ein enormer Druck: Es bestehen Erwartungen, dass Leistungserbringer im Hinblick auf die menschenrechtlichen Standards alles anbieten und leisten müssen, ohne dafür von Politik und Kostenträgern entsprechende Ressourcen zu erhalten. So überrascht auch nicht, dass von der geplanten Reform der Eingliederungshilfe (SGB XII) seitens der Politik „Kostenneutralität“ verlangt wurde.
An den Diskussionen um PID und Gen-Screening wird deutlich, dass wir gesamtgesellschaftlich vor großen Herausforderungen stehen, dass unsere Werte infrage gestellt werden. Die Diskussionen sind nicht exklusiv, sie sind symptomatisch für einen Zeitgeist, der Machbarkeitsfantasien und Rechtsansprüche ausreizt, ohne diesen die Potenziale tatsächlicher Lebenswirklichkeiten gegenüberzustellen.
2006 stellte die Gesellschafter-Initiative der Aktion-Mensch-Stiftung die Frage: „In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?“ Die aktuellen Debatten und Entwicklungen zeigen, dass diese Frage auch heute wieder brennt und nach Antworten verlangt. Eine Antwort muss sein, Menschen, die benachteiligt und ausgegrenzt sind, in die Mitte zu rufen und ihnen Selbstbestimmung und Teilhabe selbstverständlich zu ermöglichen. Die Caritas muss sich bei diesen Fragen und Antworten einmischen und mitmischen. Sie muss dabei zeigen, dass die Vielfalt und das „Unperfekte“ zu unserer Gesellschaft gehören wie die Liebe zum Leben.
Soziale Freiheit, wie sie einst der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel verstanden hat, ist vor allem wechselseitige und symmetrische Anerkennung. Darum muss es der Caritas gehen, sowohl als Anwalt, Dienstleister als auch Solidaritätsstifter: deutlich zu machen, dass es neben der (grund-)rechtlichen Ebene eine systemische und soziale Ebene gibt, auf der alle Gruppen und Individuen wechselseitige Anerkennung und Unterstützung brauchen – worum täglich neu zu ringen ist. Wissenschaft und Forschung wirken dort segensreich, wo sie diese soziale Freiheit immer in ihre Ziele und Wege einbeziehen.
Anmerkungen
1. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, Buch I. Reinbek, 2006.
2. So Caritas-Präsident Peter Neher im November 2010 in Freiburg; Pressemitteilung des DCV vom 10.11.2010.
3. Bahnsen, Ulrich: Lebenslügen. In: Die Zeit, Nr. 34, 18.8.2011, S. 1.