Interkulturelle Kompetenz als Markenzeichen der Caritas
Beim Besuch der Sonntagsmesse in der Innenstadtpfarrei St. Mariae Geburt in Mülheim an der Ruhr nehme ich vom Schriftenstand den neuen Flyer der Caritas. Im Innenteil werden die Fachdienste und Einrichtungen vorgestellt und Namen, Adressen sowie Telefonnummern aufgelistet. Alles wie erwartet? Nicht ganz. Auf der Titelseite fällt mir unter dem Schriftzug "Caritas in Mülheim an der Ruhr" die Formulierung "soziale und interkulturelle Kompetenz" auf, die dort als Überschrift über den Angeboten der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, des Bereichs Rehabilitation und Integration sowie der Leistungen im Feld Jugendarbeit und Schule steht. Caritas und soziale Kompetenz, das ist selbstverständlich. Caritas als Marke für interkulturelle Kompetenz, dieses selbstbewusste Statement ist jedoch neu und lässt aufhorchen.
Problemstadtteile sind oft Zentren kultureller Vielfalt
Was den durchschnittlichen Kirchenbesucher überrascht, gehört für Mitarbeitende der Caritas im Ruhrbistum zum Alltag. In allen Städten zwischen Duisburg und Bochum ist der Wandel von einer (vermeintlich) homogenen zu einer offensichtlich kulturell und religiös pluralen Gesellschaft deutlich spürbar. Gleichzeitig gewinnen die sozialen Spaltungs- und räumlichen Segmentierungs- und Polarisierungsprozesse an Dynamik. Arm und Reich wohnen zwar noch in einer Stadt, jedoch kaum noch im gleichen Stadtteil. In sozial schwachen Quartieren und unter den Benachteiligten in den Bereichen wie Arbeit und Einkommen, Wohnung und Bildung sind Menschen mit Migrationshintergrund überproportional häufig vertreten. Zudem nimmt ihr Anteil insgesamt zu. In Mülheim hat bereits heute jedes vierte Kind unter 18 Jahren einen Migrationshintergrund. Die Nähe zu den sozialen Problemen, das Engagement in bestimmten Stadtteilen und in Schulen führt die Caritas automatisch in die Zentren kultureller und religiöser Vielfalt und macht die interkulturelle Öffnung zu einem dringlichen Thema. Für die Kommunen fällt die Aufgabe der Ausländerintegration in weiten Teilen mit der Herausforderung der sozialräumlichen Integration zusammen. Dabei zählen sie auf die Caritas als einen verlässlichen Partner, der sich nicht zurückzieht, wenn der Anteil der Katholiken an der Bevölkerung sinkt, sondern sich einbringt, wenn die sozialen Probleme größer werden.
Motivationslagen für die interkulturelle Öffnung
So hat auch in Mülheim ein ganzes Bündel verschiedener Erfahrungen und Entwicklungen dazu geführt, dass im Jahr 2008 ein von der Geschäftsführung des Caritasverbandes beauftragtes und geleitetes Projekt zur interkulturellen Öffnung der Regeldienste begonnen wurde, und zwar als Organisations- und Personalentwicklungsprozess. Zu den Erfahrungen, die diesem Schritt vorangingen, gehörten konkrete Erlebnisse - etwa der Besuch einer türkischen Klientin in der Erziehungsberatung, die von zehn Familienmitgliedern begleitet wurde, oder Probleme, mit afrikanischen Klientinnen in der Schwangerenberatung verbindliche Termine zu vereinbaren - ebenso wie das langjährige Engagement in der Flüchtlings- und Migrationsberatung. Dazu kam die Lage eines Caritas-Zentrums, in dessen unmittelbarem Umfeld gut 40 Prozent aller in Mülheim lebenden Ausländer wohnen, und die Erkenntnis, dass auch in Mülheim Migranten die Regeldienste unterproportional in Anspruch nehmen. Diese Faktoren trafen auf ein gesamtstädtisches Handlungskonzept zur sozialräumlichen Integration und auf die Empfehlungen des Deutschen Caritasverbandes zur interkulturellen Öffnung. Das Projekt zur interkulturellen Öffnung konnte also an die unterschiedlichsten Motivationslagen der Beteiligten anknüpfen: Mitarbeitende wünschen sich Unterstützung, um mit interkulturellen "Irritationen" besser umgehen zu können, der Flüchtlings- und Migrationsdienst will "seinen" Klienten den Weg zu den übrigen Diensten der Caritas ebnen, der Caritasverband möchte sich bei der Bewältigung einer zentralen sozialen Aufgabe in der Kommune einbringen und nicht zuletzt verbindet die Verantwortlichen und Mitarbeitenden die Überzeugung, dass Nächstenliebe nicht vor kulturellen und religiösen Grenzen haltmacht, wie es im erwähnten Flyer der Caritas heißt.
Interkulturelle Kompetenz als Qualitätsmerkmal
Zu Beginn des Projekts wurde in Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern der verschiedenen Fachdienste erfragt, welchen konkreten Entwicklungsbedarf die Mitarbeitenden sehen. Zu den Zielen, die eine Steuerungsgruppe dann für den gesamten Caritasverband formulierte, gehörten die Schärfung des interkulturellen Profils nach innen und außen, die Weiterentwicklung der interkulturellen Kompetenz der Mitarbeitenden, die Entwicklung kultursensibler Angebote in den Regeldiensten und die Beachtung des Migrationshintergrundes als Qualifikationsmerkmal bei Stellenneubesetzungen. Darüber hinaus wurden spezifische Ziele für die einzelnen Fachbereiche definiert. Zentrale Instrumente im Projekt waren themen- und aufgabenbezogene Arbeitsgruppen, prozessbegleitende Coaching-Angebote, Projektinformationen im Intranet und ein Weltcafé als Forum für alle Mitarbeitenden.
Die Caritas hat deutlich an Ansehen gewonnen
"Durch die interkulturelle Öffnung hat sich unsere Arbeit in den letzten Jahren deutlich verbessert", sagt Martina Pattberg, Leiterin des Fachdienstes Kinder-, Jugend- und Familienhilfe und Mitglied der Steuerungsgruppe. "Die Mitarbeitenden haben dazugelernt, sind sich ihrer eigenen kulturellen Prägung stärker bewusst und haben an Sicherheit im Umgang mit Klienten aus anderen Kulturen gewonnen. Unsere Angebote sind besser auf die Bedürfnisse der Migranten und Migrantinnen abgestimmt und werden jetzt auch besser genutzt. Und als Nebeneffekt hat die Caritas in der Stadt deutlich an Ansehen gewonnen, sowohl in der Verwaltung und der Politik als auch bei den anderen Wohlfahrtsverbänden." Dazu haben auch die "Dialog-Frühstücke" beigetragen: Viermal im Jahr lädt die Caritas nicht nur die eigenen Mitarbeitenden, sondern auch Kolleginnen und Kollegen anderer Träger zum Austausch über einen konkreten Aspekt der interkulturellen Arbeit ein. Gemeinsam mit jeweils einem Experten oder einer Expertin wird dann über Themen wie Sucht, psychische Erkrankungen, das Problem der Entwurzelung durch Migration, die Rolle der Väter im interkulturellen Kontext oder Neuerungen im Ausländerrecht diskutiert.
Doch auch intern gibt es konkrete Ergebnisse. Dazu gehören die interkulturellen Leitlinien, die in sieben Sätzen die Ziele des Prozesses auf den Punkt bringen und ein gemeinsames Verständnis der interkulturellen Öffnung ermöglichen. Eine interne Landkarte der Sprachen- und Kulturenvielfalt im Verband ist derzeit in Arbeit. Sie wird im Intranet zur Verfügung stehen und macht nicht nur die Pluralität im eigenen Haus sichtbar, sondern ermöglicht auch kollegiale Unterstützung im sprachlichen oder kulturellen Zugang zu Klienten.
Von der Landkarte der Kulturen bis zum Tandemprojekt
Die Caritas geht neue Wege mit einem Tandemprojekt, das gemeinsam mit dem "Multikulturellen Familienverein Mülheim an der Ruhr" gestartet wurde. Im Rahmen des vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geförderten Projekts werden Frauen mit Zuwanderungshintergrund in Kooperation mit dem städtischen Gesundheitsamt zu interkulturellen Gesundheitsmediatorinnen ausgebildet. Die Tandempartnerschaft hat das Ziel, den multikulturellen Familienverein beim Ausbau hauptamtlicher Strukturen zu unterstützen und gleichzeitig die interkulturelle Kompetenz der Caritas zu erweitern.1
Gut investierte Zeit
So hat die Caritas in Mülheim nicht nur die Qualität ihrer Angebote und die Zufriedenheit ihrer Mitarbeitenden verbessert. Sie wirkt darüber hinaus inspirierend für andere Träger und hat ihre soziale Kompetenz um die interkulturelle Dimension erweitert. "Natürlich ist das nicht zum Nulltarif zu haben", antwortet Martina Pattberg auf die Frage der Widerstände und Probleme, denen das Projekt begegnet ist. "Im vollen Arbeitsalltag ist ein Prozess der interkulturellen Öffnung eine zusätzliche Belastung. Wir hatten jedoch das Glück, dass unsere Kräfte nicht durch andere interne Umstrukturierungen gebunden waren." Neben dieser Tatsache hat der Mülheimer Caritas die finanzielle Förderung des Projekts durch eine Stiftung geholfen, denn Veranstaltungen, Coaching und interne Fortbildung kosten nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Doch beides ist gut investiert, wie man am Beispiel der Mülheimer Caritas sehen kann.
Anmerkung
1. Vgl. Deutscher Caritasverband: Teilhabe stärken - Zusammenarbeit gestalten : Handreichung der Caritas zur Zusammenarbeit mit Migrantenorganisationen. Freiburg, 2011, S. 44-47.