Es existiert nicht nur das eigene Konzept von Wirklichkeit
Die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer(innen) in Deutschland seit 1955 war zunächst von der Illusion begleitet, es würde sich nur um einen vorübergehenden Aufenthalt handeln. Soziale Beratung und Betreuung wurden den Wohlfahrtsverbänden überantwortet. Die Regelversorgung, also die sozialen Dienste von Kommunen und Verbänden, wusste mit dieser Situation gut zu leben, weil sie sich damit schwieriger Herausforderungen entledigen konnte. Fragen der interkulturellen Orientierung und Öffnung haben sich damit gar nicht gestellt. Erst in den 1980er Jahren, lange nach der Verfestigung der Zuwanderungssituation, wurden die Sonderdienste für Ausländer kritisch analysiert. Vorgeworfen wurden ihnen eine paternalistische Betreuungssituation und eine Ungleichbehandlung der Zugewanderten gegenüber der Mehrheitsbevölkerung. Interkulturell orientierte Arbeitsansätze entwickelten sich aus der Forderung nach "interkultureller Kompetenz" als einem neuen Anforderungsprofil für Mitarbeiter(innen) sozialer Dienstleistungseinrichtungen.1
Eine Erwartung an die Gesellschaft
Was als Kritik an der Effektivität und Effizienz der sozialen Dienste und daran anschließend mit einem professionsbezogenen fachlichen Diskurs begonnen hat, ist inzwischen als Postulat sozialer Gerechtigkeit zu einer Erwartung an die Gesellschaft insgesamt und damit an alle dienstleistungsorientierten Institutionen geworden.
Öffnungsprozesse sind als Prozesse der Organisations-, Personal- und Qualitätsentwicklung zu konzipieren. Als hilfreiches Instrument für ein systematisches Vorgehen hat sich der Managementkreis der strategischen Steuerung mit folgenden - hier nur stichwortartig benannten - Elementen erwiesen: Kraft schöpfen durch die Erarbeitung einer Vision und eines Leitbildes über die Zukunftsvorstellungen der Organisation; Kenntnisse gewinnen durch eine Situationsanalyse ihrer Stärken und Schwächen; Klarheit für das weitere Vorgehen schaffen durch die Formulierung strategischer und operativer Ziele; Qualität gewährleisten durch die Identifizierung von Schlüsselprozessen, durch die Festlegung von Standards und die Umsetzung von Maßnahmen; die Wirksamkeit der Ziele und Maßnahmen überprüfen durch Monitoring und Evaluation.2
Kultur als Orientierungssystem
Die Forderung nach interkultureller Öffnung bestimmt derzeit die fachliche und zunehmend auch politische Diskussion, ohne jeweils zu klären, was damit eigentlich gemeint ist. Weitgehender Konsens in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit besteht darin, dass dem Begriff der Interkulturalität ein weit gefasster Kulturbegriff zugrunde liegt. Ein Verständnis von Kultur als "Orientierungssystem, das unser Wahrnehmen, Bewerten und Handeln steuert, das Repertoire an Kommunikations- und Repräsentationsmitteln, mit denen wir uns verständigen, uns darstellen, Vorstellungen bilden"3, hat weitgehend Zustimmung gefunden. Kultur bedeutet demnach einen ständigen Aushandlungsprozess der unterschiedlichen Orientierungen in einer Gesellschaft. Interkulturelle Arbeit nimmt diese gesellschaftliche Pluralität mit ihrer Differenz und Diversität auf und begegnet ihr mit einer Haltung der Anerkennung. "In diesem weiten Verständnis reduziert sich Interkulturalität nicht allein auf das Verhältnis von Deutschen und Zugewanderten, sondern gilt ganz umfassend für das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Lebensformen und umfasst Unterschiede des Geschlechtes, des Alters, der Religion, der sexuellen Orientierung, der körperlichen Ausstattung, der sozioökonomischen Lage, aber auch Unterschiede zwischen verschiedenen Betriebs- oder Verwaltungskulturen."4
Die Grundlage für gleichberechtigte Begegnung
Interkulturelle Orientierung nimmt dieses Verständnis auf und soll als "eine sozialpolitische Haltung von Personen beziehungsweise Institutionen verstanden werden, die anerkennt, dass unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Interessen in einer Stadtgesellschaft leben und dass diese Gruppen sich in ihren Kommunikations- und Repräsentationsmitteln unterscheiden"5. Interkulturelle Orientierung zielt also auf Anerkennung und bildet damit die Grundlage dafür, dass Gruppen und Individuen ihre jeweiligen Interessen vertreten, dass die Beteiligten eine selbstreflexive Haltung gegenüber der eigenen Kultur einnehmen können und dass dadurch eine gleichberechtigte Begegnung ermöglicht wird. Auf dieser Basis bietet interkulturelle Orientierung die Chance, das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit und die damit verbundene Definitionsmacht und die ungleiche Verteilung von Ressourcen zum Thema zu machen. Interkulturelle Orientierung kann zusammenfassend als strategische Ausrichtung verstanden werden, die sich in der Vision einer Organisation, im Leitbild beispielsweise eines Verbandes, niederschlägt, die sich in den jeweiligen Zielen konkretisiert und die die Organisation auf die Querschnittsaufgabe interkultureller Öffnung verbindlich verpflichtet.
Öffnung provoziert Konflikte mit Gewinnern und Verlierern
Interkulturelle Öffnung ist dann die Konsequenz einer solchen neuen Orientierung, die handelnde Umsetzung der strategischen Ausrichtung einer Organisation.6 Öffnung richtet sich gegen Geschlossenheit, gegen bewusste oder unbewusste Ausgrenzungsmechanismen. Das berührt Interessen und Machtstrukturen, provoziert Konflikte mit Gewinnern und Verlierern. Wenn man sich die Dienste und Einrichtungen, die für die Versorgung der Bürger(innen) zuständig sind, kritisch anschaut, lassen sich vielfältige Barrieren (von Sprachproblemen über fehlendes muttersprachliches Personal bis hin zu den Routinen deutscher Institutionen) für die Zugänglichkeit zu diesen Dienstleistungen für Menschen mit Migrationshintergrund analysieren.
Interkulturelle Öffnung soll diese Strukturen mit ihren ausschließenden Elementen verändern. Dazu gehört die interkulturelle Qualifizierung des Personals durch Aus-, Fort- und Weiterbildung und die Einstellung von Fachkräften mit Migrationshintergrund. Diese Veränderungsprozesse sind als kontinuierliche Aufgabe zu verstehen.
"Interkulturelle Öffnung kann zusammenfassend verstanden werden als ein bewusst gestalteter Prozess, der (selbst-) reflexive Lern- und Veränderungsprozesse von und zwischen unterschiedlichen Menschen, Lebensweisen und Organisationsformen ermöglicht, wodurch Zugangsbarrieren und Abgrenzungsmechanismen in den zu öffnenden Organisationen abgebaut werden und Anerkennung ermöglicht wird."7
Ein wichtiges Element dieser kritischen Reflexion ist es auch, in der Sozialen Arbeit nicht nationale, ethnische oder religiöse Zugehörigkeiten zu konstruieren und damit soziale Probleme oder ökonomische Benachteiligung zu ethnisieren und zu kulturalisieren. Vor einer solchen Gefahr warnt der Pädagoge Franz Hamburger8, weil sie "kulturelle Identifikationen in einem Maße verstärkt, dass neue Probleme entstehen und Konflikte verschärft werden". Er fordert, nicht beabsichtigte Wirkungen und Folgen einer interkulturell orientierten Arbeit zu berücksichtigen und damit zu einer "reflexiven Interkulturalität" zu kommen.
Es gibt mehrere Konzepte von Wirklichkeit
Bei der Vermittlung interkultureller Kompetenz geht es um die Veränderung der Mitarbeiter(innen). Bis heute gibt es keine einheitliche Definition des Begriffes. Der Sozialwissenschaftler Stefan Gaitanides stellte schon Mitte der 1990er Jahre einen Katalog zusammen, was unter interkultureller Kompetenz zu verstehen sei. In einer aktuellen Veröffentlichung9 umfasst der Katalog 21 Kategorien und beinhaltet kognitive Kompetenzen, Handlungskompetenzen und kommunikative Fähigkeiten.
Konkret geht es darum, die Mitarbeiter(innen) zu befähigen, in Beratungs- und Hilfeprozessen die Herausforderungen für Familien mit Migrationshintergrund durch den kulturellen Wandel wahrzunehmen und bewusst gestalten zu helfen. Das beinhaltet eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Orientierung und den damit verbundenen Konstruktionen von Wirklichkeit. Es gilt, das eigene Konzept von Wirklichkeit als eine Möglichkeit unter mehreren zu sehen und so kulturelle Unterschiede wahrzunehmen und auszuhalten. Mit dieser Fähigkeit können unterschiedliche Konzepte lösungsorientiert in Beziehung gesetzt und ausgehandelt werden. Damit wird interkulturelle Verständigung ermöglicht: durch die Fähigkeit, Verständnis zu entwickeln (Empathiefähigkeit, Ambiguitätstoleranz, Rollendistanz); durch die Fähigkeit, zu verstehen (Wissen über Migrationsgeschichte, kulturelle Transformation, Lebenslagen von Migranten, interkulturelle Kompetenz); durch die Fähigkeit, sich durch Dialog und Aushandlung auf neue Lösungen und Spielregeln zu verständigen.10
Gute Praxis im Caritas-verband
Einen sehr umfassenden Versuch, die eigenen Dienste und Einrichtungen interkulturell zu öffnen, unternimmt schon seit Jahren die Caritas auf Bundesebene. Sie hat seit 2001, als sie zum ersten Mal die interkulturelle Öffnung ihrer Dienste und Einrichtungen beschrieben hat, mehrere große Projekte aufgelegt. Nach einem intensiven Diskurs wurde eine beispielhafte Handreichung "Vielfalt bewegt Menschen - Interkulturelle Öffnung der Dienste und Einrichtungen der verbandlichen Caritas" vorgelegt.11 Darin sind die Zugangsbarrieren für soziale Angebote dargestellt. Es werden die für die Implementierung interkultureller Öffnungsprozesse wesentlichen Grundlagen und Bedingungen beschrieben und die Prinzipien, Rahmenbedingungen sowie Bausteine interkultureller Öffnungsprozesse vorgestellt. Dafür werden jeweils praxisnahe Arbeitshilfen und ergänzende Checklisten zur Verfügung gestellt, so dass insgesamt eine differenzierte, umfassende, verständliche und praxisorientierte Handreichung für die praktische Umsetzung vorliegt. Das strahlt aus, wie die vielfältigen Aktivitäten auf Diözesanebene bestätigen.
Literatur:
1. Hinz-Rommel, Wolfgang: Interkulturelle Kompetenz : Ein neues Anforderungsprofil für die soziale Arbeit. Münster; New York, 1994.
2. Schröer, Hubertus: Interkulturelle Orientierung und Diversity-Ansätze. In: Fischer, Veronika; Springer, Monika (Hrsg.): Handbuch Migration und Familie. Schwalbach, 2011, S. 307-322.
3. Auernheimer, Georg: Notizen zum Kulturbegriff unter dem Aspekt interkultureller Bildung. In: Gemende, Marion; Schröer, Wolfgang; Sting, Stephan (Hrsg.): Zwischen den Kulturen : Pädagogische und sozialpädagogische Zugänge zur Interkulturalität. Weinheim und München, 1999, S. 27-36.
4. Schröer, Hubertus: Interkulturelle Orientierung und Öffnung : ein neues Paradigma für die soziale Arbeit. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 3/2007; S. 80-91.
5. Handschuck, Sabine; Schröer, Hubertus: Interkulturelle Orientierung und Öffnung von Organisationen. Strategische Ansätze und Beispiele der Umsetzung. In: neue praxis 2002, S. 511-521.
6. Ebd.
7. Schröer, 2007.
8. Hamburger, Franz: Von der Gastarbeiterbetreuung zur Reflexiven Interkulturalität. In: Migration und Soziale Arbeit 3-4/1999, S. 33-39.
9. Gaitanides, Stefan: Interkulturelle Öffnung sozialer Dienste. In: Otto, Hans-Uwe; Schrödter, Mark (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft : Multikulturalismus - Neo-Assimilation - Transnationalität. neue praxis Sonderheft 8/2006, S. 222-234.
10. Handschuck, Sabine; Klawe, Willy: Interkulturelle Verständigung in der Sozialen Arbeit. Ein Erfahrungs-, Lern- und Übungsprogramm zum Erwerb interkultureller Kompetenz. 3. Auflage. Weinheim und München, 2010, S. 51ff.
11. Deutscher Caritasverband e.V. (Hrsg.): Vielfalt bewegt Menschen : Interkulturelle Öffnung der Dienste und Einrichtungen der verbandlichen Caritas. Eine Handreichung. Freiburg, 2006. www.caritas.de/aspe_shared/form/download.asp?nr=163593&form_typ=115&ag_id=1081&action=load (4.8.2011)