Führung lässt sich lernen
In der Diskussion um Führung ist sich die Fachwelt einig, dass die Gewinnung von Nachwuchsführungskräften künftig eine zentrale Herausforderung an Organisationen darstellen wird. Es wird deshalb auch für Einrichtungen der Caritas die Frage zu beantworten sein, wie und ob die vakanten Führungspositionen neu besetzt werden sollen und können.
Ob diese Positionen (wieder)besetzt werden können, ist nicht zuletzt eine Frage des verfügbaren Potenzials an geeigneten und gewillten Mitarbeiter(inne)n. Dabei werden die Eignung und die Bereitschaft zur Übernahme von Führungstätigkeiten nicht bei allen potenziell in Frage kommenden Kandidat(inn)en zwangsläufig auch vorliegen. Nicht jede(r), die/der geeignet wäre, ist auch interessiert daran, Führungsverantwortung zu übernehmen, und genauso auch umgekehrt: Wollen heißt nicht können. In diesem Fall wäre ein entsprechendes (Nachwuchs‐)Führungstraining notwendig. Die Variante "Können heißt nicht wollen" hingegen lässt sich primär im institutionalisierten Bereich des Talentmanagements verorten. In diesem Fall geht es unter anderem darum, geeigneten, gegebenenfalls unentdeckten Führungsnachwuchs zunächst zu identifizieren und dann zur Übernahme von Führungsverantwortung zu motivieren.
Es ist keine Neuigkeit: Der systematischen Führungsqualifizierung von Nachwuchskräften wurde in der Vergangenheit in der freien Wohlfahrtspflege vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Nur wenige Verbände haben dazu in der Vergangenheit eigens Positionen im Sinne eines Talentmanagements eingerichtet oder systematische Verfahren etabliert. Häufig wurde und wird derart vorgegangen, dass Mitarbeiter(innen), die sich im operativen Bereich bewährt haben, grundsätzlich auch für Führungspositionen als geeignet angesehen werden. Dieses auf den ersten Blick intuitiv richtig erscheinende Vorgehen übersieht die Tatsache, dass Führungspositionen auch in der Sozialwirtschaft oftmals gänzlich andere oder mindestens stark veränderte Qualifikationen und Kompetenzen erfordern als ausführende Tätigkeiten: Der Sozialpädagogin im Gruppendienst, die stets eine glückliche Hand und immer den richtigen Ton im Umgang mit den Jugendlichen fand, muss zum Beispiel nicht unbedingt auch der Umgang und die Verhandlung mit Kostenträgern liegen. Von der Fähigkeit, problembehaftete Kritikgespräche mit Nachgeordneten zu führen oder Gruppendiskussionen zu moderieren, insbesondere wenn es sich um die ehemals gleichgestellten Kolleg(inn)en handelt, ganz zu schweigen. Es sind bestimmte Kompetenzen, die eine Kraft zu einer guten Altenpflegerin machen; es sind anders gelagerte, die eine gute Wohnbereichs‐ oder gar Pflegedienstleitung ausmachen. Führungskräfte einer kirchlichen Organisation sehen sich zudem der berechtigten Erwartung der Dienstgemeinschaft gegenüber, dass die christliche Prägung sich auch und gerade im Führungsverhalten spiegeln muss.
Klären: Welche Kompetenz wird gebraucht?
Eine wirksame Entwicklung von Talenten und Führungsnachwuchs setzt zunächst einmal voraus, dass Klarheit darüber gewonnen wird, welche Kompetenzen in welcher Ausprägung für die betreffende Führungsposition notwendig ist und über welche dieser Kompetenzen das betreffende Talent verfügt. Üblich ist hier eine Differenzierung von im weitesten Sinne technischen Kompetenzen (zum Beispiel Sachkenntnisse), konzeptionellen (zum Beispiel das Wissen um Zusammenhänge und Wechselwirkungen) und sozialen Kompetenzen. Außerdem sollte der Dienstgeber eine möglichst konkrete Vorstellung über die erforderlichen Rollen gewinnen, die die künftige Führungskraft wahrzunehmen hat: In welcher Intensität wird die Führungskraft als vorgesetzte Fachkraft (Vorgesetzter), als Repräsentant der Organisation ("Gallionsfigur") oder als "Vernetzer" aktiv sein müssen, um hier nur einige gängige Rollenbeispiele aus der Managementliteratur zu nennen. Sind die Intensitäten dieser Rollen einmal identifiziert, können sie auch bei entsprechenden Entwicklungskonzepten berücksichtigt werden.
Je nach Hierarchieebene besteht Führungsarbeit zum großen Teil aus der Gestaltung von Beziehungen, was im Regelfall über Kommunikation geschieht. Diese Tatsache gilt es bei der Auswahl von Führungskräften genauso zu berücksichtigen wie bei der Konzeption von Förder- und Entwicklungsprogrammen. In Einrichtungen der Caritas werden gerade mittlere Führungspositionen oft aus den eigenen Reihen besetzt. Insbesondere bei diesem Personenkreis, der bislang erfolgreich (nur) ausführend tätig war, läuft die Komponente Kommunikationsfähigkeit systematisch Gefahr, übersehen oder auch ignoriert zu werden.
Was heißt "gute Führung"?
Jede Qualifizierung von Führungskräften in der Caritas setzt voraus, dass innerhalb der Organisation eine Klärung der Frage stattgefunden hat, was "gute Führung" überhaupt ausmacht und worauf folglich Führungskräfteentwicklung abzielen sollte. Dabei muss es sich gerade in größeren Verbänden mit mehreren unterschiedlichen Einrichtungsarten nicht zwingend um ein einheitliches Verständnis handeln. Die Voraussetzungen für erfolgreiches Führen in Kindertagesstätten und Bereichen der beruflichen Eingliederung werden beispielsweise mitunter höchst verschieden sein. Das bloße Bekenntnis zu einem kooperativen oder demokratischen Führungsstil ist dabei zwar politisch korrekt und mehrheitsfähig, jedoch im Grunde nichtssagend. So weiß die Führungsforschung seit langem, dass es den einen, immer richtigen Führungsstil nicht gibt - folglich auch nicht den kooperativ‐demokratischen. Es wäre ein Zeichen professioneller Personalarbeit, wenn auch in den sozialen Einrichtungen der Caritas ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, dass es einen Unterschied geben kann zwischen wünschenswertem und erfolgreichem Führungsstil. Erfolgreiche Führungskräfte in der Praxis wissen erfahrungsgemäß sehr genau und auch differenziert zwischen idealen Führungsleitbildern und praktikabler Führungsarbeit zu unterscheiden. Führung ist immer ein Prozess, bei welchem es um die Einflussnahme von Menschen auf Menschen geht, um ein gemeinsames organisationsdienliches Ziel zu erreichen. Nicht definitionsnotwendig, aber für die Caritas fraglos bedeutsam ist der Bezug zum Wertesystem der Organisation, in der dieser Prozess geführt wird; sprich hier dem christlichen. Auf den Punkt gebracht, geht es bei Führung im Grunde darum, Mitarbeiter(innen) durch die Einflussnahme zu einem zielbezogenen Verhalten zu bewegen (zu motivieren), das sie ohne diese Einflussnahme nicht gezeigt hätten. Im Zweifel geht es eben auch um Willensbildung und Willensdurchsetzung. Über diesen Aspekt muss sich potenzieller Führungsnachwuchs klarwerden: Kann und will ich auch diese "harte" Seite der Führungsposition akzeptieren? Mitarbeiter(innen), die diesen Aspekt ignorieren und von ihrer Einrichtung auch nicht deutlich darauf hingewiesen werden, werden vermutlich an der neuen Aufgabe verzweifeln - nicht zuletzt kann auch für die Einrichtung erheblicher (motivationaler) Schaden entstehen. Die Folgen einer demotivierten, verunsicherten und im wahrsten Wortsinne "führungslosen" Mitarbeiterschaft wirken oftmals noch ein bis zwei Jahre auch unter einer neuen Leitung nach. Wer aber als neue Führungskraft für sich auch diesen Bereich von Führung akzeptiert, für den existieren auch Instrumente zur Unterstützung, und die können gelernt werden.
Führung ist Trainingssache
Aufgrund eigener Arbeits‐ und Beratungstätigkeit liegt die Überzeugung vor, dass es nur zwei Arten von persönlicher Führung gibt: gute/wirksame sowie schlechte/unwirksame Führung. Aller Erfahrung nach basiert gute Führung dabei auf den vier Komponenten: Planung, Steuerung, Kontrolle und Förderung. Zu allen vier Komponenten existieren Grundsätze und Instrumente, die eine potenzielle Führungskraft allgemein lernen und dann auf die eigene Situation übertragen kann. Hier wird es auch in der Caritas Nachwuchskräfte mit großem Talent geben und solche mit weniger großem Talent. Wichtig ist aber - und hier ist sich die Forschung weitgehend einig -, dass Führungsfähigkeit keine angeborene Eigenschaft ist. Was nicht angeboren ist, kann folglich auch gelernt werden. Für Organisationen der Caritas besteht die Herausforderung darin, Verfahren zu entwickeln und in der Organisation zu verankern, die Talente mit möglichst hohem Führungspotenzial identifizieren. Darüber hinaus ist der Förderbedarf an den oben beschriebenen technischen, konzeptionellen und sozialen Kompetenzen zu erheben und in Nachwuchsprogrammen zu berücksichtigen. Einrichtungen der Caritas sind daher gut beraten, im Zusammenhang mit Begriffen wie Talentmanagement nicht dem Irrglauben zu erliegen, die Führungstalente seien schon "fertig" vorhanden und es gehe nur noch darum, sie zu finden und zur Übernahme einer Führungstätigkeit zu gewinnen. Wer jemals selbst (vielleicht weitgehend unvorbereitet) aus einer Fachposition heraus auf eine Führungsposition befördert wurde, der wird sich erinnern, welches Lehrgeld zu zahlen war, bis die neue Position vollends ausgefüllt werden konnte. Systematisches Talentmanagement hilft den Preis zu senken; gänzlich kostenlos wird es freilich niemals gelingen können.
Führung heißt zu großen Teilen Instrumente beziehungsweise Werkzeuge für Führungstätigkeiten zu kennen und den Umgang mit ihnen zu beherrschen. Worum es dabei im Einzelfall gehen kann beziehungsweise wo Entwicklungspotenziale liegen können, verdeutlicht exemplarisch der nachfolgende Fragenkatalog:
- (Wie) Kann ich die Leistung anderer nachvollziehbar beurteilen und bewerten?
- (Wie) Kann ich Sitzungen und Konferenzen effizient moderieren oder leiten?
- (Wie) Kann ich mit Fehlschlägen, Enttäuschungen und Kritik umgehen?
- (Wie) Kann ich erkennen, welche Aufgaben zu delegieren sind?
- (Wie) Kann ich mit Budgets wirksam steuern?
- (Wie) Kann ich Arbeitsprozesse planen, organisieren und kontrollieren?
- (Wie) Kann ich Mitarbeitende nachhaltig motivieren?
- (Wie) Kann ich die Qualität meiner eigenen Entscheidungen gewährleisten?
Jede Führungskraft, jedes Führungstalent wird diese beispielhaften Fragen (ehrlicherweise) in unterschiedlicher Ausprägung beantworten. Entwicklungsaktivitäten für aktuelle und künftige Führungskräfte der Caritas sollten eine Antwort auf das "Wie" bieten, denn genau darin liegt der Anteil der Führungsarbeit, der gelernt werden kann - und dieser Anteil überwiegt. Führungsfähigkeit ist ganz überwiegend mehr Handwerk als Kunst - und ein Handwerk lässt sich bekanntlich erlernen.