Zwang ist der Anlass, nicht das Mittel
Motivation im im Zwangskontext - wie soll das gehen? Im "Zwangskontext" zu arbeiten meint eine Beratung, "die nicht von Klienten selbst initiiert"1 ist. Wenn Hilfe als ein Zusammenwirken zwischen dem Hilfebedürftigen und seinem Helfenden zur Änderung eines beiderseits als veränderungsbedürftig angesehenen Zustandes2 vom Klienten nicht gewünscht ist und die Fachkraft doch mit dem Menschen an etwas arbeiten muss, woran dieser nicht arbeiten will, stellt sich vielleicht die Frage: Was weiß die Wissenschaft davon, wie ein solch schwieriger Kontakt motivierend gestaltet werden kann?
Viele Versuche der Motivationsarbeit scheitern daran, dass dem Handeln nur vage Vorstellungen zugrunde liegen, wie Motivation entsteht. Die geläufigen Rezepte ("Empathie", "Beziehungsarbeit") tragen nicht, weil sie die Komplexität des Phänomens nicht im Blick haben. Eine stringente Motivationstheorie kann hier freilich nur angedeutet werden (sie findet sich zum Beispiel bei Jutta und Heinz Heckhausen3):
"Motivation" ist keine fixe Eigenschaft eines Menschen, vielmehr hat sie mit einer prospektiven Handlungsbewertung zu tun: Sie entsteht (und vergeht) unter anderem in Abhängigkeit von der Einschätzung des Betroffenen bezüglich der antizipierten Ergebnisse seiner Handlungen und der Handlungen anderer.4 Diese wird in Relation zum gegenwärtigen Zustand gesetzt. So ist die "Behandlungsmotivation" ganz wesentlich davon abhängig, wie der Patient Berater und Angebot bezüglich der Verbesserung seiner Lage einschätzt.5 Es mag sein, dass der Patient motiviert ist, weil das voraussichtliche Ergebnis und der Kontakt zum Therapeuten oder zur Therapeutin gewinnbringend erscheinen. Vielleicht will er aber auch nur äußerem Druck entgehen und hält das Angebot eigentlich für wenig attraktiv. Diese (extrinsische) Motivation hält dann nur so lange an, wie der äußere Druck besteht.6
Dass die Entstehung von Motivation etwas grundlegend anderes ist als das mechanistische Leidensdruck-Modell, zeigt das von James O. Prochaska und anderen entwickelte Konzept der Verhaltensänderung. Letzteres geht davon aus, dass sich die Entstehung von Motivation zur Verhaltensänderung durch aufeinander aufbauende Stufen darstellen lässt:7
1. Absichtslosigkeit: keine Intention, das problematische Verhalten zu ändern. Im Vergleich zum Veränderungsvorschlag bewerten die Klienten die aktuelle Situation als besser.
2. Absichtsbildung: Der Betroffene setzt sich mit seinem Risikoverhalten auseinander, allerdings fällt keine Entscheidung. Das vorherrschende Gefühl ist die Ambivalenz, die sich in "Ja-aber"-Sätzen ausdrückt ("Ich würde ja gerne, aber …"). Möglicher Grund: Es fehlt das Zutrauen zur Fähigkeit, die Veränderung durchzuhalten.
3. Vorbereitung: Mit der festen Absicht, das Verhalten zu verändern, werden erste Schritte unternommen.
4. Handlungsstufe: Das angestrebte neue Verhalten (Zielverhalten) wird seit weniger als sechs Monaten gezeigt.
5. Aufrechterhaltung: Das Zielverhalten wird bereits seit sechs Monaten beibehalten. Die Zuversicht steigt, dass es erfolgreich sein könnte.
Praktische Motivationsarbeit beginnt mit einer Analyse
Gelingende Motivationsarbeit braucht eine Struktur des Vorgehens und eine motivierende Beziehungsgestaltung. Beides ist gleichermaßen wichtig und darf nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Eine strukturierte Vorgehensweise wird in Zwangskontexten generell angeraten8, so dass Motivationsarbeit in eine Schrittfolge auszudifferenzieren ist:
- Der erste Schritt ist eine klare Motivationsdiagnostik. Als Modell bietet sich das oben dargestellte Stufenmodell an.
- Die Fachkraft muss die Bewertung der Kontextfaktoren durch den Klienten kennen (zum Beispiel Freunde, Ehepartner). Im Sinne der Resilienzförderung sind positiv konnotierte Kontextfaktoren gezielt zu entwickeln.
- Für die Planung und Umsetzung der Veränderung der Motivation ist entscheidend, dass die gewählten Interventionen der jeweiligen Motivationsstufe angemessen sind.9 Beispiel: Muss die Bewertung der Situation verändert werden (Stufe Absichtslosigkeit), oder ist das Zutrauen, die Veränderung auch durchhalten zu können, durch positive Erfahrungen zu stärken (Stufe Absichtsbildung)?
Motivierende Beziehungsgestaltung
Jeder Schritt des Vorgehens muss getragen sein von einer motivierenden Ausgestaltung der Beziehung zwischen Therapeut(in) und Klient(in). Neuerdings wird Kritik an einer zu stark technisch fokussierten Psychotherapie geübt. Gerade
von Verhaltenstherapeut(inn)en würden "Techniken wohl eher überschätzt, der Einfluss …[von] Beziehungs- und Therapeuteneffekte[n] dagegen eher unterschätzt"10.
Einige (wenige) Aspekte motivationsfördernder Beziehungsgestaltung seien hier genannt:
- Vielfach wird angenommen, Beziehungsgestaltung sei ein "naturwüchsige[r] Prozess, der selbstverständlich erfolgt"11, auch wenn man sich dessen gar nicht (mehr) bewusst ist. Diese Vorstellung ist leider etwas zu laienhaft. Vielmehr ist die Beziehungsgestaltung "reflektiert aus der Fallkonzeption" für jeden (!) Einzelfall abzuleiten, also aus dem Intuitiven in das bewusst Gestaltete hineinzunehmen. Franz Caspar betont: "Auch wenn dabei Intuition eine Rolle spielt, soll es gerade nicht dem Zufall, Gewohnheit, persönlichen Vorlieben oder unreflektiertem Gutdünken überlassen bleiben, wie therapeutisches Handeln unter der Beziehungsperspektive gestaltet wird." 12
- Eine motivierende Beziehung entsteht nicht durch behauptetes, sondern vom Klienten als echt erlebtes Zutrauen zu seinen Selbsthilfe-Fähigkeiten. Letzteres bedeutet, dass man keinen Menschen motivieren kann, solange man ihn für "beratungsresistent" hält.
- So verschieden die Menschen sind, so verschieden ist das, was sie an Beziehungsangeboten brauchen. Welches Beziehungsangebot angebracht ist, hängt wiederum von den individuellen Bedürfnissen und Interaktionsmustern des Klienten/der Klientin ab. Je nachdem, welche Bedürfnislage in welcher Intensität vorliegt - ob ein hohes Bindungsbedürfnis (emotionale Wärme) oder ein hohes Kontrollbedürfnis (Bedürfnis nach Mitbestimmung und Klarheit), das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung (Sehnsucht nach Lob) oder auch das Bedürfnis nach Lust/ Wohlbefinden ("Spaß") -, muss sich das Beziehungsangebot "komplementär" zu den Bedürfnissen des Klienten verhalten.13
- Wichtig ist die Klärung der jeweiligen Verantwortlichkeit: Wer erteilt welchen Auftrag und wer hat Verantwortung wofür? Was passiert, wenn der Klient etwas Bestimmtes tut oder lässt? Das Durchspielen der Konsequenzen des jeweiligen Verhaltens stellt die Verantwortung klar. Andererseits ist die Arbeit in Zwangskontexten ein dauerndes Suchen nach gemeinsamen Themen: "In vielen Fällen können die gemeinsamen Ziele am besten so umschrieben werden, dass sie dem Klienten dazu verhelfen, (…) den Sozialarbeiter wieder loszuwerden."14 In der Zusammenarbeit ist immer zwischen "Pflicht- und Küranteilen" zu unterscheiden.
- Klaus Grawe weist darauf hin, dass das unstrukturierte und thematisch zufällige Gespräch keine verhaltens- und einstellungsverändernde Wirkung hat. Deshalb muss der/die Berater(in) darauf achten, "dass man an einem Problem dranbleibt, es wirklich von allen Seiten bearbeitet"15. Das heißt dann, in "freundlicher Hartnäckigkeit"16 die "Pros" und "Cons" der Veränderung immer wieder zu beleuchten.17
- Wesentlich für Motivation ist die Mobilisierung von Zuversicht und "Hoffnung" auf Besserung. Sie kann einer reinen Konstruktion von "Misserfolgsszenarien" mit der Folge von sich selbst erfüllender Prophezeiung entgegenwirken und ist insofern ein wichtiger Motivations- und Wirkfaktor.18 Die Erkenntnis, dass Mobilisierung von Hoffnung und Zuversicht sich positiv auf die Veränderungsmotivation auswirkt, wurde bei der Beobachtung der Wirkung von Interventionen mit spirituellen Inhalten bei Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen gewonnen.19 Leider ist der Zusammenhang zwischen Spiritualität und Motivation zur Verhaltensänderung bislang wenig erforscht, was gerade aus Caritas-Sicht sehr zu bedauern ist.
Anmerkungen
1. Kähler, Harro: Soziale Arbeit in Zwangskontexten : Wie unerwünschte Hilfe erfolgreich sein kann. München, 2005, S. 17.
2. Ludewig, Kurt: Systemische Therapie. Stuttgart, 1997.
3. Heckhausen, Jutta; Heckhausen, Heinz: Motivation und Handeln: Einführung und Überblick. In: dies. (Hrsg.): Motivation und Handeln. Heidelberg, 2006, S. 1-9.
4. Ebd.
5. Petry, Jörg: Behandlungsmotivation. Weinheim, 1993.
6. Schiefele, Ulrich; Streblow, Lilian: Intrinsische Motivation - Theorien und Befunde. In: Vollmeyer, Regina; Brunnstein, Joachim (Hrsg.): Motivationspsychologie und ihre Anwendung. Stuttgart, 2005, S. 39-58.
7. Prochaska James O.; Norcross John C.: Stages of change. In: Psychotherapy Vol 38, 4/2001, S. 443-448.
8. Mayer, Klaus: Beziehungsgestaltung im Zwangskontext, in: Mayer, Klaus; Schildknecht, Huldreich (Hrsg.): Dissozialität, Delinquenz, Kriminalität. Zürich et al., 2009, S. 209-230.
9. Prochaska, James O.; Levesque, Deborah: Enhancing Motivation of Offenders at each stage of Change and Phase of Therapy. In: Mc Murran, Mary (Ed.): Motivating Offenders to Change. Chichester et al., 2002, S. 57-75.
10. Stucki, Christoph: Die Therapiebeziehung differentiell gestalten. Bern, 2004, S. 9.
11. Ansen, Harald: Beziehung als Methode in der Sozialen Arbeit. In: Soziale Arbeit, 58. Jg., 10/2009, S. 381-389, hier S. 382.
12. Caspar, Franz: Motivorientierte Beziehungsgestaltung. In: Hermer, Matthias; Röhrle, Bernd (Hrsg.): Handbuch der therapeutischen Beziehung. Tübingen, 2008, S. 527-558, hier S. 549.
13. Grawe, Klaus: Komplementäre Beziehungsgestaltung als Mittel zur Herstellung einer guten Therapiebeziehung. In: Margraf, Jürgen et al. (Hrsg.): Die Therapeuten-Patienten-Beziehung in der Verhaltenstherapie. München, 1992, S. 215-244.
14. Germain, Carel B.; Gitterman, Alex: Praktische Sozialarbeit. Stuttgart, 1999, S. 119.
15. Grawe, Klaus: Neuropsychotherapie. Göttingen, 2004, S. 55.
16. Mayer, Klaus: a.a.O., S. 221.
17. Prochaska, James O.: How do People change? In: Hubble, Mark et al. (eds.): The Heart & Soul of Change. Washington, 1999, S. 227-255.
18. Grawe, Klaus et al.: Psychotherapie im Wandel. Göttingen, 1994.
19. Bennett, Melanie: Spirituality and Addictions. What do we know? In: The Addictions Newsletter Vol 6, No. 1/1998, S. 7 ff.