Den Finger in die Wunde legen
Wenn man Lobbyarbeit als Überzeugungsarbeit zur Beeinflussung politischer Entscheidungen definiert, muss die Frage gestellt werden, wie sich dies für den Deutschen Caritasverband glaubwürdig praktizieren lässt. Was glaubwürdig sein will, muss begründet werden. Hier lohnt sich ein Rückgriff auf das Leitbild des DCV. Der Deutsche Caritasverband hat sich in seinem Leitbild und seiner Satzung besonders drei Aufgaben verschrieben1:
- der Anwaltsfunktion,
- der Dienstleistungsfunktion und
- der Solidaritätsstifterfunktion.
Auf den ersten Blick ist Lobbyarbeit lediglich Teil der Anwaltsfunktion, schaut man jedoch genauer hin, ergeben sich vielfältige Vernetzungen mit den anderen Funktionen. Des Weiteren sollen hier auch noch die Prinzipien der Lobbyarbeit definiert werden.
Der DCV will Anwalt der Benachteiligten sein. Und schon diese Aufgabe findet auf mehreren Ebenen statt. Er erhebt seine Stimme für Benachteiligte und kämpft für verbesserte politische Rahmenbedingungen. Dies tut er über sozialpolitische Lobbyarbeit auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene (politische Anwaltsfunktion). Im Einsatz für Betroffene und der persönlichen Hilfe setzen sich vor allem Sozialarbeiter in den Beratungsstellen für die Durchsetzung der Rechte von Menschen in Notlagen ein (individuelle Anwaltsfunktion). Mit den Einrichtungen wird ein weitreichendes Hilfesystem zur Verfügung gestellt, das in verschiedenen Situationen Menschen helfen kann, die keine Ansprüche oder keine Mittel haben (institutionelle Anwaltsfunktion). Ein Beispiel: Viele katholische Krankenhäuser behandeln unbürokratisch und kostenlos Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus.
Die zweite Aufgabe des DCV, die Dienstleistungsfunktion, nehmen die 24.000 selbstständigen Einrichtungen und Dienste mit rund 500.000 Mitarbeitern wahr, die unter dem Dach des Deutschen Caritasverbandes soziale, pädagogische, pflegerische und medizinische Hilfen anbieten. Als Solidaritätsstifter versucht der Deutsche Caritasverband schließlich in seiner dritten Aufgabe für den Zusammenhalt der Gesellschaft einzustehen.
Anwaltschaftliche Lobbyarbeit via Sozialmonitoring
Die Lobbyarbeit des Deutschen Caritasverbandes in der Wahrnehmung der politischen Anwaltsfunktion ist nicht ohne die beiden anderen Funktionen denkbar. Sie ist insbesondere mit der Dienstleistungsfunktion vernetzt. So bilden zuallererst die praktischen Erfahrungen mit den Bedürfnissen und Nöten der Menschen in den Einrichtungen und Diensten die Grundlage der sozialpolitischen Forderungen des Deutschen Caritasverbandes. Beim Erbringen von Dienstleistungen wird also nebenbei das "Material" für die politische Lobbyarbeit gesammelt. Konkret können diese Erfahrungen im sogenannten Sozialmonitoring-Prozess auf politischer Ebene eingebracht werden.2
Der Prozess hat seinen Ursprung in den Gesetzen der Agenda 2010, die Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2003 ankündigte. Im Oktober 2003 hatten die Präsidenten der Verbände in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) die Möglichkeit, mit ihm über die Gefahren der später als "Hartz IV" bekanntgewordenen Gesetze zu sprechen (heute im Sozialgesetzbuch II und XII zusammengefasst). Der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Peter Neher, betonte bei diesem Gespräch, dass die BAGFW neben den positiven Effekten der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auch die negativen Auswirkungen auf die Menschen im unteren Einkommensdrittel beobachten wolle. Daraufhin erklärte Kanzler Schröder seine Bereitschaft, mit der Wohlfahrtspflege einen regelmäßigen Dialog über die unbeabsichtigten Auswirkungen der Regelungen aus den Agenda-2010-Gesetzen (Sozialgesetzbuch II und XII) zu führen.
Dadurch wurde eine neue Form der Lobbyarbeit eingeführt. Bis zum Jahr 2003 wurde die BAGFW lediglich im Vorfeld von Gesetzgebungsverfahren angehört, üblicherweise in Anhörungen des jeweiligen Bundestagsausschusses. Jetzt war die Möglichkeit da, auch nach dem Inkrafttreten von Sozialreformen im halbjährlichen Turnus mit der Bundesregierung über die Auswirkungen und den Änderungsbedarf zu debattieren. Seit dem Jahr 2004 fanden jährlich durchschnittlich zwei Gesprächsrunden statt, in denen die Generalsekretäre der Verbände der BAGFW zusammen mit den Staatssekretären der Ministerien über die Auswirkungen der Hartz-Gesetze sprachen. Die große Koalition hat im Jahr 2005 den Gegenstand der Gespräche auf alle Sozialreformen ausgeweitet, so dass seitdem zum Beispiel auch über die Auswirkungen der Gesundheitsreform gesprochen wird. Grundlage dieser Gespräche ist die konkrete Erfahrung der Verbände der freien Wohlfahrtspflege in der Arbeit mit Menschen aus dem unteren Einkommensdrittel oder mit Menschen in prekären Lebenslagen. Konkrete Auswirkungen der neuen Gesetze werden über Umfragen bei Einrichtungen und Diensten erhoben.
Die darauffolgende Regierung von CDU/CSU und FDP hat sich im Dezember 2009 bereiterklärt, das Sozialmonitoring weiterzuführen und Anfang des Jahres 2011 fand ein erstes konstruktives Gespräch statt.
Lobbyarbeit im Rahmen der Solidaritätsstifterfunktion
Solidarisches Handeln gründet zum einen in kulturellen und sozialen Normen, bedarf in einer modernen Gesellschaft aber auch der strukturellen Absicherung durch eine aktive Gesellschafts- und Sozialpolitik. Hierbei ist wichtig, dass stabile soziale Sicherungssysteme alle Menschen einbeziehen. Nur so kann verhindert werden, dass sich in der Mitte der Gesellschaft Unsicherheit verbreitet und die Bereitschaft sinkt, auch denjenigen sozialen Gruppen Teilhabe zu ermöglichen, die der besonderen Hilfe und Unterstützung bedürfen. Die Förderung der Solidarität und des gesellschaftlichen Zusammenhaltes ist elementar für eine demokratische Gesellschaft, für die Teilhabe von benachteiligten Menschen und für die Achtung der Rechte von Minderheiten und lobbyschwachen Gruppen. Der Staat, zumal der Sozialstaat, ist auf Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt angewiesen. Er lebt von diesem real existierenden Konsens in der Gesellschaft und kann ihn nicht selber schaffen.
Als Solidaritätsstifter ist der Deutsche Caritasverband auf vielen Gebieten aktiv. So stellt insbesondere das Engagement von Ehrenamtlichen vor Ort einen gewichtigen Beitrag für eine solidarische Gesellschaft dar. Aber auch mittels Öffentlichkeitsarbeit bemüht er sich, für mehr Solidarität in der Gesellschaft einzutreten. In der bundesweit erscheinenden Zeitschrift "Sozialcourage" für Ehrenamtliche, Mitglieder und Förderer der Caritas wird über soziale Notlagen berichtet und versucht, freiwilliges Engagement zu stützen und zu fördern. Dies ist ein Gemeinschaftswerk der gesamten deutschen Caritas mit ihren Diözesan-Caritasverbänden und Fachverbänden, was die Zahl von 27 Regional- und Zielgruppenausgaben sowie 18 Stadtausgaben und die Auflage von 180.000 Exemplaren belegt.
Des Weiteren bündeln dreijährige Initiativen des DCV die Aktivitäten der Öffentlichkeitsarbeit. Dadurch erweitern sich die jährlichen Kampagnen von einer anwaltschaftlichen öffentlichen Aktionsform hin zu einer inhaltlichen Schwerpunktsetzung des Verbandes mit nachhaltigen Auswirkungen. Ziel ist es, die Solidarität in der Gesellschaft zu stärken. Durch die Initiativen kann sich der Verband über drei Jahre hinweg stärker unter einem gemeinsamen Motto und einer Zielperspektive positionieren und ein zentrales Thema aus seiner fachlichen Arbeit in den Mittelpunkt stellen und fördern. Den Anfang machte die Befähigungsinitiative (2006-2008). Seit 2009 wird die Teilhabeinitiative durchgeführt und ab 2012 soll das Thema "Solidarität/Zusammenhalt der Gesellschaft" im Mittelpunkt stehen.
Die Lobbyarbeit des Deutschen Caritasverbandes will sachlich-konsistent, wirkungsorientiert und solidaritätsstiftend vorgehen.
- Das heißt, die vom Deutschen Caritasverband erarbeiteten politischen Lösungsansätze gründen auf empirischem Material oder nachvollziehbaren praktischen Erfahrungen aus der Caritasarbeit. Sie stützen sich damit auf Erfahrungen aus der konkreten Arbeit mit Menschen in Not und prekären Lebenslagen. Konsistenz meint in diesem Zusammenhang: Die erarbeiteten Lösungen knüpfen an den realen Rahmenbedingungen des sozialen Sicherungssystems in Deutschland an und versuchen, auch die Wirkungen und Anreize, die durch die vorgeschlagenen Lösungen entstehen, mit zu bedenken und einzukalkulieren.
- Die sozialpolitischen Forderungen werden wirkungsorientiert vertreten. Der Deutsche Caritasverband erarbeitet also nicht nur Lösungsvorschläge zur Verbesserung der Lage von sozial Benachteiligten, sondern bringt diese auch in den politischen Willensbildungsprozess ein. Hierbei sind die eingesetzten Mittel und Wege im Verband durchaus umstritten. Wirkungsorientierung heißt, konkrete Gesetze und Verordnungen zu beeinflussen. Ob dies besser über Gespräche, Netzwerkarbeit, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit oder politische Aktionen zu erreichen ist, muss in jedem Einzelfall abgewogen werden.
- In den Kernbotschaften versucht der Deutsche Caritasverband schließlich solidaritätsstiftend zu bleiben mit dem Ziel, die Solidarität in der Gesellschaft zu fördern. Marktschreierische, vorschnell skandalisierende, einzelne Aktionen sowie unberechtigt anklagende oder gar diffamierende Äußerungen werden vermieden. Ziel ist es immer, die ganze Gesellschaft dazu zu motivieren, sich für die Menschen einzusetzen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens leben und sich oft nicht aus eigener Kraft helfen können. Auch diese solidaritätsstiftende Strategie wird im Verband nicht immer geteilt und muss immer wieder neu diskutiert und ausgehandelt werden.
Anmerkungen
1. Leitbild und Satzung des DCV unter: www.caritas.de/8833.html. Die im Folgenden vorgenommene Spezifizierung der Anwaltsfunktion ist darin nicht beschrieben.
2. Schwengers, Clarita: Mehr Angebote für Alleinerziehende. In: neue caritas Heft 9/2011, S. 5. Becker, Thomas; Schwengers, Clarita: Sozialmonitoring zeigt Wirkung. In: neue caritas Heft 5/2009, S. 27-30. Bericht zum Gemeinsamen Monitoring in der Legislaturperiode 2005-2009. In: neue caritas Heft 14/2009, S. 32-35. Becker, Thomas; Schwengers, Clarita: Sozialmonitoring - Zum Leben reicht das Geld nicht aus. In: neue caritas Heft 21/2007, S. 20-23. Becker, Thomas: Sozialmonitoring - Geeignetes Instrument. In: neue caritas Heft 21/2007, S. 21. Becker, Thomas: Sozialmonitoring: Schwachstellensuche. In: neue caritas Heft 1/2005, S. 3. Becker, Thomas; Brünner, Frank; Fix, Birgit: Sozialmonitoring zeigt Lücken und Lösungen. In: neue caritas Heft 14/2005, S. 9-17. Becker, Thomas: Sozialmonitoring: Lücken im Netz. In: neue caritas Heft 4/2004, S. 3.