Aufarbeitung heißt Prävention
Die Öffentliche Diskussion um die Erfahrungen ehemaliger Heimkinder in Deutschland hat den Blick auf eine verdrängte Vergangenheit erzwungen. Aufarbeitung ist nicht möglich ohne die detaillierte Sicht auf die Erfahrungen von sexualisierter und körperlicher Gewalt, auf seelische Grausamkeit, Demütigungen, Machtmissbrauch, Unterdrückung und alle Formen der nicht angemessen geleisteten Hilfe. Diese Gewalt hat zwar nicht ausschließlich, aber leider in viel zu großem Ausmaß auch in kirchlichen Einrichtungen stattgefunden.1 Der vom Deutschen Bundestag beschlossene „Runde Tisch der ehemaligen Heimkinder“ befindet in seinem Abschlussbericht: „Es hat sich gezeigt, dass weiterhin großer Bedarf an Auseinandersetzung mit dem Thema besteht. (…) Es sind aber noch längst nicht alle betroffenen Stellen aktiv und auch die begonnene Auseinandersetzung muss vielfach noch fortgeführt werden. Der Runde Tisch ruft daher alle betroffenen Stellen dazu auf, die Aufarbeitung auch in Zukunft eigeninitiativ durchzuführen.“2
Im Umgang mit kritischen Ehemaligen oft hilflos
Aus der Perspektive vieler Einrichtungen der Jugendhilfe, insbesondere katholischer Einrichtungen, entwickelte sich die Konfrontation mit kritischen ehemaligen Heimkindern zu einem Problem, auf das sie nicht vorbereitet waren. Systematisch und aktiv auseinandergesetzt mit der eigenen Vergangenheit haben sich die wenigsten Einrichtungen. Durch die Vorwürfe einzelner Ehemaliger und durch das öffentliche Interesse entstand nun Druck, sich mit konkreten Lebensgeschichten von anklagenden Ehemaligen und mit der Vergangenheit der Einrichtungen zu beschäftigen. Doch die Angst vor dem, was an historischen Altlasten noch im Dunkeln liegt, verbunden mit der Befürchtung um Rufschädigung hindern die Einrichtungen daran, dieses Problem anzugehen.
In einigen Einrichtungen wird langfristiger und freundschaftlicher Kontakt zu Ehemaligen gepflegt. Dem Gesamteindruck in der Öffentlichkeit, dass es ausschließlich furchtbare und leidvolle Erfahrungen gab, widersprechen konkrete Rückmeldungen von Ehemaligen, die durchaus positive Erinnerungen schildern. Diese Erinnerungen haben in der öffentlichen Auseinandersetzung keinen Raum.
Ehemalige Heimkinder werden befragt
Eine Befragung ehemaliger Heimkinder wurde aus dem Interesse entwickelt, ein realistisches und differenziertes Bild der früheren Erfahrungen aus der Sicht der Betroffenen zu ermitteln. Eine Projektgruppe aus Expert(inn)en der sechs teilnehmenden Einrichtungen hat die Befragung durchgeführt, wissenschaftlich begleitet wurde die Umfrage vom Institut für Kinder- und Jugendhilfe, Mainz (IKJ). Die Polarisierung der Diskussion – das Heim, insbesondere das katholische Heim, als Ort systematischer Unterdrückung und Misshandlung versus das Heim als Rettungshaus und Ort des Schutzes und der liebevollen Fürsorge – sollte aufgelöst und in eine realistische und differenzierte Vergangenheitssicht geführt werden. Außerdem sollten anhand der Antworten Faktoren entwickelt werden, die für die zukünftige pädagogische Arbeit hilfreich sein können.
Die empirische Untersuchung ging der Frage nach, wie die ehemaligen Heimkinder ihre Kindheit und Jugendzeit in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe bewerten, welchen Merkmalen der Heimerziehung sie selbst fördernde und belastende Wirkung zuschreiben und wie sie ihr heutiges Leben bewerten.
Teilnehmende Einrichtungen und Träger zeigen, dass sie sich für die Erfahrungen der früher betreuten Kinder und Jugendlichen interessieren und bereit sind, sich auch mit Kritik und negativen Bewertungen ehrlich auseinanderzusetzen. Die Befragung leistet einen Beitrag zur sachlichen und differenzierten Aufarbeitung, indem sie kritische Rückmeldungen und negative Erfahrungen ebenso explizit erfasst wie positive Erfahrungen.
An der Befragung ehemaliger Heimkinder haben sich sechs katholische Einrichtungen der stationären Jugendhilfe beteiligt. Aus 1550 teilstandardisierten Fragebögen wurden 344 (24,9 Prozent) beantwortete zurückgesandt. Die Einsendungen bewerteten Erfahrungen aus den Zeiträumen von 1945 bis 2008, die Altersspanne erstreckte sich von 18 bis 78 Jahren.
Teils traumatische Erfahrungen, teils positive Stimmen
Insgesamt bewertet die befragte Personengruppe ihre biografische Erfahrung im Heim überraschend positiv. Repräsentativ sind diese Zahlen selbstverständlich nur für einen Teil der ehemaligen Betreuten in den beteiligten Einrichtungen, nicht jedoch für die gesamte stationäre Jugendhilfe (siehe Abbildung unten).
„Die Erfahrungen, dass es Menschen gibt, die für einen einstehen. Man lernt ein völlig neues Leben kennen. Ich kann natürlich nur für mich sprechen, und für mich war es das Beste, was mir hätte passieren können. Ich hatte super nette Erzieher, die immer verständnisvoll und liebenswert waren, sie haben mir beigebracht wieder an mich zu glauben, zu vertrauen, und nicht ständig Angst davor zu haben Fehler zu machen. (…) Hatte in jeder Lebenslage Unterstützung, ob in der Schule, bei den Hausaufgaben, bei persönlichen Dingen. Und ich habe gelernt, mich niemals dafür zu schämen dass ich im Heim aufgewachsen bin.“3
In der Befragung gibt ein hoher Anteil der Befragten eine Traumatisierung („ein Ereignis, das Ihr ganzes Leben überschattet“4) an (38,3 Prozent). Der jeweilige Ursprung der Traumatisierung konnte in der Befragung nicht ermittelt werden, weshalb nicht dargestellt werden kann, wie hoch der Anteil der speziell durch die Heimerziehung verursachten Traumatisierungen ist.
„Es ist eigentlich schon sehr lange her, ABER vergessen kann man es niemals!!! Dieser Schmerz bleibt in einem drin, (…) In einem Heim zu leben bedeutet: EINSAMKEIT, aufzuwachsen OHNE LIEBE, ohne GEBORGENHEIT, ohne ZÄRTLICHKEITEN. Nacht für Nacht schläft man weinend ein. Nein, es bleibt eine Leere in einem, weil einfach niemand da ist, der dich liebt. Wenn ich heute zurückdenke, war nichts Gutes daran, in einem Heim zu leben. (…) Sie fragen, ob es schlimme Erfahrungen gab? Ja, die gab es und das wisst ihr genau, sonst würdet ihr die Frage nicht stellen. Ja, es gab sie, die Gewalt. Nicht nur unter uns Kindern, sondern meistens von den Schwestern, auch die sexuellen Übergriffe die von den älteren Jungens in der Gruppe ausgingen, vergisst man nie !!!!!!!!“5
Eine Bezugsperson ist sehr wichtig
Die Auswertung der Befragungsergebnisse zeigt als Einflussfaktor mit der stärksten fördernden Wirkung auf die stationäre Jugendhilfe das Vorhandensein einer Bezugs- beziehungsweise Bindungsperson. Die Wirkung der stationären Hilfe ist deutlich positiver, wenn die Gründe für die Unterbringung verstanden werden. Als Wirkfaktor mit erheblicher Nachhaltigkeit haben sich die fachpädagogischen Angebote – Sport, Musik, erlebnis- und freizeitpädagogische Angebote – erwiesen. Als hilfreiche, fördernde Wirkfaktoren, die den Erfolg der stationären Jugendhilfe positiv beeinflussen können, wurden die sozialen Erfahrungen (Gruppe und Gemeinschaft), die Vermittlung und Erfahrung von Werten und Regeln und die Wichtigkeit fachlicher Hilfen im Sinne der Förderung (Schule, Therapie, Elternarbeit) genannt.
Belastende Erfahrungen beeinträchtigen den Erfolg der stationären Jugendhilfe nachhaltig. Von den ehemaligen Betreuten wurde besonders die Trennung von der Familie, Demütigungen und Entwürdigungen sowie Ungerechtigkeit, unangemessen harte Strafen, physische Gewalt und die mangelnde Kompetenz der Betreuer(innen) als kritische und belastende Erfahrungen genannt.
Noch vieles kann verbessert werden
Aus den Ergebnissen der Befragung lassen sich Entwicklungsbedarfe für die stationäre Erziehungshilfe ableiten. Die Ergebnisse der Qualitätsmerkmale Partizipation und Elternarbeit sind keinesfalls befriedigend. Die Professionalität des Feldes für die Themen Bindung und Traumatisierung ist noch unzureichend. Diese Themen bedürfen noch einer intensiven wissenschaftlichen Erforschung, damit die Zusammenhänge zwischen den Interventionen der Erziehungshilfe und ihren Wirkungen klarer werden. Was sich durch die Befragung klar abzeichnet, ist die Bedeutung der Bindungsperson, die nachhaltige Wirkung von fachspezifischen Aktivitäten und die Notwendigkeit, Verständnis für die Unterbringung zu erreichen und Traumatisierungen durch die stationäre Jugendhilfe zu vermeiden. Die Frage, die sich bei der Auseinandersetzung mit den Berichten aus der früheren Heimerziehung aufdrängt, ist: Wie kann es verhindert werden, dass Kinder und Jugendliche, die heute in der Erziehungshilfe betreut werden, weiteren schädigenden Einflüssen ausgesetzt sind?
Die Ehemaligenbefragung hat einen Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit der Heimerziehung geleistet. Die an der Befragung beteiligten Einrichtungen haben die Ergebnisse der Befragung sowohl den heutigen Mitarbeiter(inne)n als auch den Ehemaligen mitgeteilt und sich damit der weiteren Diskussion gestellt. Jede Einrichtung der Jugendhilfe, die ein stationäres Angebot vorhält, benötigt ein Konzept für die Kommunikation mit Ehemaligen, in dem Verantwortungen, Ansprechpartner(innen) und Abläufe festgelegt sind. Um die Erfahrungen der ehemaligen Betreuten in die Qualitäts- und Wirkungsdiskussion der stationären Jugendhilfe einzubeziehen, sollte eine systematische Befragung von ehemaligen Betreuten zum festen Bestandteil der Qualitätssicherung in der Jugendhilfe gehören.
Anmerkungen
1. Breul, Theo: Gedemütigt und misshandelt: Erschreckende Praktiken in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre. In: Hiller, Stephan; Knab, Eckhart; Mörsberger, Heribert (Hrsg.): Erziehungshilfe : Investition in die Zukunft. Freiburg, 2009, S. 113–119.
2. www.rundertisch-heimerziehung.de/documents/Abschlussbericht_rth-1.pdf vom 20. April 2011.
3. Die ausführliche Darstellung der Schilderungen der ehemaligen Heimkinder aus der Befragung finden sich im Buch von Esser, Klaus: Zwischen Alptraum und Dankbarkeit : Ehemalige Heimkinder kommen zu Wort. Freiburg : Lambertus-Verlag, 2011.
4. Fragebogen für ehemalige Heimkinder. Esser, Klaus: Die retrospektive Bewertung der stationären Jugendhilfe durch ehemalige Kinder und Jugendliche. Ein Beitrag zur Qualitätsentwicklung und Wirkungsorientierung. Inauguraldissertation an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln, 2010.
5. Esser, Klaus: Zwischen Alptraum und Dankbarkeit, a.a.O., 2011.