Glaubwürdigkeit geht vor
Glaubwürdigkeit ist eine wichtige Ressource des politischen Lobbyings von Verbänden. Glaubwürdigkeit ist Teil des "Sozialkapitals". Sie ist nicht einfach gegeben, sondern entsteht und wächst, wenn die Adressat(inn)en verbandliches Tun wahrnehmen, das sie als glaubwürdig bewerten. In gleicher Weise kann Glaubwürdigkeit auch wieder verloren gehen. Was bedeutet dies für Verbände, die im Sozialen politisches Lobbying betreiben? Was gefährdet Glaubwürdigkeit?
Leistungsfähige soziale Sicherungssysteme sind unvermeidbar komplex. Häufig besteht ein Zielkonflikt zwischen Einfachheit und Gerechtigkeit. Viele der aus Kenntnis von Defiziten im Hilfesystem entwickelten Forderungen der verbandlichen Caritas dürften, soweit sie Gehör fanden, eher zu wachsender Komplexität als zur Vereinfachung der Hilfesysteme beigetragen haben.
Auch zwischen der Einfachheit der Systeme und ihrer fiskalischen Tragfähigkeit gibt es meist einen Zielkonflikt: Die Differenzierung der Anspruchsvoraussetzungen und die damit unvermeidbar verbundenen Einzelfallprüfungen dienen auch der Sicherung finanzieller Nachhaltigkeit. Nicht intendierte und oft schwer abschätzbare Reaktionen unterschiedlicher Akteure erhöhen die Komplexität zusätzlich.
Was bedeutet dies nun für die Frage verbandlicher Glaubwürdigkeit? Zumindest wer die Komplexität als Politiker(in), Entscheidungsträger(in) oder Wissenschaftler(in) kennt, wird einen Verband nur für glaubwürdig halten, wenn zu erkennen ist, dass verbandliche Positionen und Forderungen in Kenntnis ihrer komplexen Wirkungen und Nebenwirkungen vertreten werden. Auch Vorschläge zur Vereinfachung des Hilfesystems müssen in Kenntnis seiner Komplexität vertreten und verantwortet werden.
Kampf um die mediale Beachtung
Öffentliche Aufmerksamkeit ist häufig Bedingung für verbandliche Wirksamkeit. Meist können Problemsichten und Lösungsvorschläge erst dann politisch wirksam werden, wenn breitere Kreise sie öffentlich beachten.
Öffentliche Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut, Bereitschaft und Kapazität der Menschen zur Informationsaufnahme sind begrenzt. Entsprechend hart ist der Kampf um öffentliche Beachtung. Extrempositionen haben einen deutlichen Vorteil im Kampf um Beachtung, selbst wenn sie sich bei einer nüchternen Prüfung rasch als fragwürdig oder substanzlos erweisen. Nur 20 oder 30 Sekunden beträgt die Regelzeit, die im Fernsehen zur Verfügung steht, um eine verbandliche Position zu vertreten. Das zwingt zur Zuspitzung und birgt die Gefahr, die Grenzen der Seriosität zu überschreiten.
Die Botschaft verkaufen - nicht die Seele
Verbände stehen in Konkurrenz um mediale Beachtung. Das ist nicht nur dem Wunsch geschuldet, die Medien als Mittel verbandlicher Wirksamkeit zu nutzen. Viele Mitglieder halten ihren Verband für wirksam, wenn er möglichst oft in den Medien vorkommt - was keineswegs zwingend ist.
Dies alles erzeugt die Versuchung, Positionen entgegen der eigenen Fachlichkeit so auszuwählen und zuzuspitzen, dass die Chancen um mediale Beachtung steigen. Verschärft wird dieses Problem für Wohlfahrtsverbände dadurch, dass ihnen oft von Medienseite die Rolle zugewiesen wird, abseits aller Differenzierung für das feststehende Setting eines Beitrags ein Wort der Verurteilung oder Empörung bereitzustellen.
Was bedeutet dies für verbandliche Glaubwürdigkeit? Kein Verband kann auf Medienarbeit verzichten. Die Bedingungen der Medienarbeit stellen hohe Anforderungen an den Balanceakt, der Komplexität der Sachzusammenhänge gerecht und dennoch beachtet zu werden. Zur Ethik der Glaubwürdigkeit gehört zumindest, die notwendige mediale Vereinfachung in Kenntnis der Komplexität vorzunehmen und unangemessene Schuldzuweisungen zu unterlassen. Das hat seinen Preis. Wer glaubwürdig bleiben will, wird auf den einen oder anderen medialen Erfolg verzichten müssen.
Glaubwürdig durch den Blick aufs Ganze
Zur inhaltlichen Glaubwürdigkeit gehört das Bemühen, Konsistenz zwischen den Positionen zu unterschiedlichen Politikfeldern herzustellen. Man kann nicht ohne Einbußen an Glaubwürdigkeit einerseits die hohe Staatsverschuldung als Bürde für kommende Generationen beklagen, andererseits aber jeden Vorschlag bezüglich einer fiskalischen Tragfähigkeit der öffentlichen Aufgaben zurückweisen. Die Vertretung eines Anliegens kann glaubwürdig nicht losgelöst von allen Überlegungen zur Konsistenz mit anderen legitimen Interessen erfolgen. Den Interessen von Kranken, Pflegebedürftigen, Langzeitarbeitslosen, Armen oder Familien kann man nicht gemeinsam gerecht werden, ohne Mitverantwortung für das Gesamtsystem sozialer Sicherung wahrzunehmen. Dazu gehört auch, sich der Frage zu stellen, wie dieses System in einer demokratischen Gesellschaft mehrheitsfähig bleibt und auch diejenigen vom Nutzen einer guten sozialen Sicherung zu überzeugen sind, die, real oder vermeintlich, mehr dafür zahlen als sie erhalten. Verbandliche Glaubwürdigkeit setzt voraus, sich diesen Konsistenzproblemen der Politik zu stellen.
In der politischen Argumentation für oder gegen eine politische Maßnahme ist die Nutzung stark verkürzter Ursache-Wirkungs-Ketten üblich. Dies reduziert Komplexität und erleichtert die mediale Zuspitzung. Ein Beispiel: "Ein gesetzlicher Mindestlohn sichert Nachfrage, vermeidet staatliche Lohnzuschüsse und verringert das Risiko der Altersarmut." Unter bestimmten Bedingungen, in bestimmten Branchen und bei moderater Dosierung mögen diese Effekte eintreten, aber die Wirkungskette ist stark verkürzt. Denn die Argumentation setzt implizit voraus, dass der Mindestlohn nicht dazu führt, dass ein Teil der Beschäftigten, deren Löhne angehoben werden, ihre Arbeit verlieren. Dann greift eine andere Wirkungskette: Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, in der Folge die staatlichen Transferleistungen und das Risiko der Altersarmut. Ein mit verkürzten Wirkungsketten verwandtes Problem ist die einseitige Selektion von Studien oder wissenschaftlichen Daten. All dies mag helfen, in einer aktuellen Auseinandersetzung kurzfristig zu punkten. Aber es führt dazu, dass diejenigen, die die Verkürzung der Darstellung durchschauen, nicht nur in dem konkreten Fall nicht zu überzeugen sind, sondern auch die Argumente bezweifeln werden, die vom selben Akteur zu anderen Themen der politischen Auseinandersetzung vorgebracht werden.
Zur Glaubwürdigkeit gehört also die Redlichkeit einer nüchternen Wirkungsabschätzung. Ebenso erfordert sie die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen für Folgen, die eintreten würden, wenn die Forderungen, die man politisch vertritt, realisiert würden. Teil dieser Verantwortung sollte auch die Demut sein, dass unser Wissen über Wirkungsketten beschränkt ist und dass es neben den intendierten Wirkungen, die eine politische Forderung begründen, auch nicht intendierte Wirkungen geben kann.
Glaubwürdig gegenüber Betroffenen
Anwaltschaftlich begründetes politisches Lobbying muss glaubwürdig sein gegenüber den Menschen, deren soziale Problemlagen Gegenstand des Lobbyings sind. Dazu gehören eine realitätsgerechte Problemsicht, die Kenntnis der Sichtweisen Betroffener und das nachhaltige Bemühungen, ihre Teilhaberechte zu befördern. Zur Glaubwürdigkeit gehört, diese Belange mit der notwendigen Zähigkeit zu vertreten, auch wenn damit keine öffentliche Zustimmung verbunden ist. Lobbying muss dabei mehr sein als Bekenntnis der eigenen Position. Lobbying, das nicht auf Wirkung setzt, negiert die Interessen der Betroffenen.
Kein Politiker-Bashing1
In der medialen Zuspitzung mag es Entlastung bringen, die Komplexität der Systeme, die Schwerfälligkeit jeder Reform, die teilweise unschönen, aber kaum vermeidbaren Konflikte um die Verteilung der Finanzierungslasten als Schuld oder Versagen von Politiker(inne)n zu attribuieren. Hier ist in der sozialpolitischen Debatte die Argumentation manchmal recht simpel gestrickt. Oft gibt es eben keine einfachen, im demokratischen Prozess konsensfähigen, in den erwartbaren Wirkungen sicheren und zudem fiskalisch risikofreien Wege. Differenzen über den einzuschlagenden Weg, ja selbst über das Ausmaß des zu lösenden Problems sind daher völlig normal. Mit einer Politik der Glaubwürdigkeit vereinbar sind pointierte und engagierte Beiträge zu dieser Debatte, aber kein Politiker-Bashing, das eine für unsere Demokratie ohnehin bedenkliche undifferenzierte Grundstimmung einer Politik- und Politiker-Verdrossenheit bedient und damit weiter festigt.
Interessen und Rollen klären, eigenen Beitrag benennen
Es gehört zur weit verbreiteten Praxis im politischen Lobbying, ein Einzelinteresse als Interesse der Gesamtheit darzustellen. Da dies aber so häufig geschieht, haben die Adressat(inn)en des Lobbying immer das Gefühl, das postulierte Gemeinwohlinteresse diene der verdeckten Beförderung von Partikularinteressen. Ein Verband wie der Deutsche Caritasverband hat ein solches Versteckspiel nicht nötig. Wenn er unternehmerische Interessen seiner Dienste und Einrichtungen vertritt, kann er dies offen tun. Voraussetzung ist, dass er dabei für Rahmenbedingungen eintritt, die die Erbringung qualitativ guter Dienste für Hilfesuchende und ihr Recht zur Wahl einer für sie angemessenen Hilfe sichern. Zur Glaubwürdigkeit trägt ein Lobbying bei, das die Interessen in ihrer Darstellung transparent differenziert. Unternehmerische Interessen sind legitim, und sie sollten als unternehmerische Interessen vertreten werden.
Sind wir auch da, wo es argumentativ schwierig ist?
Ein Element der politischen Rhetorik ist die Aufforderung an Politiker(innen), auch unpopuläre Maßnahmen zu vertreten, wenn sie für die Lösung eines Problems notwendig sind. Das können Politiker nur in vergleichsweise engen Grenzen, denn die Gewinnung politischer Mehrheiten ist Voraussetzung ihres Amtes und damit ihrer Gestaltungsmöglichkeit.
Verbände könnten hier freier sein, sie sind nicht von Wahlergebnissen abhängig. Auch aus einem verbandlichen Blickwinkel heraus gibt es jedoch Themen und Positionen, die nicht so ohne weiteres auf Zustimmung stoßen, aber bei ehrlicher Bewertung um der Sache willen vertreten werden müssen. Es belastet verbandliche Glaubwürdigkeit zumindest bei denjenigen, die die Zusammenhänge durchschauen, wenn diese Themen gemieden werden. Ein Beispiel: Ein bedeutendes Element der Bewältigung des demografischen Wandels ist die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Dennoch war der Deutsche Caritasverband der einzige Sozialverband, der sich zur Notwendigkeit der unpopulären Entscheidung bekannt hat, das Rentenalter in einer Übergangszeit bis 2029 auf 67 Jahre anzuheben (er hat dabei natürlich auch darauf hingewiesen, dass zwingend Altersdiskriminierung auf dem deutschen Arbeitsmarkt abzubauen ist). Es trägt zur Glaubwürdigkeit verbandlicher Argumentation bei, wenn nicht nur allgemein zustimmungsfähige Fragen und Positionen angesprochen werden.
Grundsatzentscheidung fürs Prinzip Glaubwürdigkeit
Glaubwürdigkeit wird durch glaubwürdiges Handeln gemehrt, durch gegenteiliges Handeln jedoch geschädigt oder geht verlustig. Es ist eine grundlegende strategische Entscheidung, politisches Lobbying und Öffentlichkeitsarbeit auf den Gewinn und Erhalt von Glaubwürdigkeit auszurichten. Wer keine "Bataillone" hat, kann auf Glaubwürdigkeit nicht verzichten.
Ein glaubwürdiges Lobbying nennt die Defizite und Probleme konkret und wirklichkeitsnah und ringt um konsistente Lösungen. Es stellt sich auch der Selbstverpflichtung, die eigenen Potenziale zu nutzen, um zur Problemlösung beizutragen. Es gibt Fallstricke, die Glaubwürdigkeit gefährden. Das verbandliche Lobbying der Caritas zeigt, dass man sie meiden kann. Dies sei in aller Demut gesagt und im Wissen, dass man sich seinen Zielen nur im täglichen Ringen annähern kann.
Anmerkung
1. Bashing: Verbales/mediales "Einprügeln" auf eine (prominente) Person.