Beruf und Pflege: Wie geht das unter einen Hut?
In vielen Familien stellt sich die Vereinbarkeitsfrage ganz konkret und tagtäglich aufs Neue. Die zunehmende Zahl alter und hochaltriger Menschen lässt für die Zukunft erwarten, dass immer mehr Angehörige mit einem Pflegebedarf im familiären Umfeld konfrontiert werden.
Wie geht es weiter nach dem Krankenhausaufenthalt? Vater wird zunehmend dement - was kommt da auf uns zu? Aber auch Zweifel der Älteren selbst: Eigentlich will ich zu Hause bleiben, aber kann ich die Kinder so beanspruchen?
Sowohl für die Pflegebedürftigen als auch für die Angehörigen ist die Pflegesituation - egal ob plötzlich oder als schleichender Prozess - ein Ausnahmezustand. Ein Zustand, der vor allem emotional beansprucht, bei dem widerstrebende Empfindungen von Fürsorge und Pflichtgefühl, von Dankbarkeit und Abgrenzung "gemanagt" werden müssen. Ein Zustand, der aber auch organisiert sein will.
Meist in der Familie gepflegt
Im Jahr 2009 waren in Deutschland 2,34 Millionen Menschen im Sinne des Rechts der Pflegeversicherung pflegebedürftig.1 Für das Jahr 2030 werden durch die demografische Entwicklung etwa 3,4 Millionen Pflegebedürftige erwartet.2 Von den Pflegebedürftigen werden derzeit 69 Prozent (1,62 Millionen Menschen) zu Hause und nur 31 Prozent in stationären Pflegeeinrichtungen gepflegt. Von den zu Hause Betreuten erhielten 66 Prozent (1,06 Millionen) ausschließlich Pflegegeld. Das bedeutet, dass sie in der Regel allein durch Angehörige gepflegt wurden. Bei den weiteren 34 Prozent wurde die Pflege zum Teil oder vollständig von ambulanten Pflegediensten übernommen.3 Hinzu kommen schätzungsweise drei Millionen unterstützungsbedürftige Menschen, die in Privathaushalten versorgt werden, ohne Leistungen aus der Pflegeversicherung zu beziehen.4 Die pflegenden Angehörigen sind zu 66 Prozent im erwerbsfähigen Alter, 75 Prozent sind weiblich.5 Viele sind neben der Pflege berufstätig. Nicht selten sind parallel eigene Kinder zu versorgen.
Mit dem "Gesetz zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf" (Familienpflegezeitgesetz) möchte die Bundesregierung neue Anreize für die Pflege von Angehörigen setzen und die Vereinbarkeitsmöglichkeiten verbessern. Sie löst damit eine Zielsetzung des Koalitionsvertrages ein.6
Familienpflegezeit - Fakten
Die Familienpflegezeit sieht vor, die Arbeitszeit auf bis zu 15 Stunden pro Woche verringern zu können, wenn ein pflegebedürftiger naher Angehöriger in häuslicher Umgebung gepflegt wird. Die Arbeitszeitreduzierung gilt über einen Zeitraum von höchstens zwei Jahren. Um die Einkommenseinbußen in der Zeit abzufedern, wird der Lohn über ein Wertguthaben aufgestockt. Wird beispielsweise von einer vollen auf eine halbe Stelle reduziert, erhält die/der Beschäftigte 75 Prozent des letzten Bruttoeinkommens. Nach der Pflegephase wird die Arbeit wieder in vollem Umfang aufgenommen. Die Beschäftigten erhalten in dieser sogenannten Nachpflegephase weiterhin nur ihr abgesenktes Gehalt - so lange, bis das negative Wertguthaben wieder ausgeglichen ist. So ergibt sich eine Laufzeit der Familienpflegezeit (Pflegephase und Nachpflegephase) von maximal vier Jahren.
Die Familienpflegezeit wird über eine Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und der/dem Beschäftigten auf betrieblicher Ebene geregelt. Die Arbeitgeber können zur Finanzierung der Gehaltsaufstockung ein zinsloses staatliches Darlehen abrufen. Dieses wird in der Nachpflegephase durch den Einbehalt des anteiligen Arbeitsentgelts rückerstattet. Beschäftigte, die Familienpflegezeit in Anspruch nehmen, müssen auf eigene Kosten eine Versicherung zur Absicherung des Todesfall- und Berufsunfähigkeitsrisikos abschließen beziehungsweise die Kosten einer entsprechenden Gruppenversicherung über den Arbeitgeber oder das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben tragen.
Vom guten Willen des Arbeitgebers abhängig
Ob das neue Gesetz in der Praxis tatsächlich für viele Pflegende attraktiv ist und genutzt wird beziehungsweise auch genutzt werden kann: Hier bleibt Skepsis. Der Deutsche Caritasverband (DCV) fordert einen Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit, denn sonst bleiben die Beschäftigten (wie bisher auch schon) ausschließlich auf das Entgegenkommen des Arbeitgebers zum Abschluss von einzelvertraglichen Regelungen oder auf tarifliche Vereinbarungen angewiesen. Pflegende Angehörige dürfen nicht schlechter gestellt werden als Erziehende in der Elternzeit. So wie Zeiten für die Kindererziehung und Betreuung gesetzlich geregelt sind, braucht es gesetzliche Regelungen für die Pflege.
Schon heute besteht die Möglichkeit, wie beispielsweise in den AVR umgesetzt, in Tarifverträgen oder betrieblichen Vereinbarungen Regelungen zur Freistellung oder Arbeitszeitverkürzung aufgrund von Pflege zu treffen; auch Wertkonten können so heute schon geregelt werden. Die Realität ist jedoch eine große Zurückhaltung der Arbeitgeber.7 Die Nutzung auf alle Wirtschaftsbereiche gesehen ist gering. Selbst für das neue Instrument der Familienpflegezeit geht die Bundesregierung für die nächsten Jahre nur von einer geringen Nutzung aus (im Durchschnitt rund 6800 Fälle im Jahr).8
Nachdem sich auch die bei der Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Gesetzentwurf am 19. September 2011 anwesenden Arbeitgeberverbände eindeutig gegen einen Rechtsanspruch ausgesprochen und auch, wie schon vorab der Bund der Arbeitgeberverbände, sonstige Regelungen des Gesetzentwurfes (zum Beispiel den Kündigungsschutz) als viel zu weitgehend kritisiert haben, war absehbar: Ein Rechtsanspruch ist mit den derzeitigen Regierungsfraktionen nicht zu machen.
Last trägt der Beschäftigte
Das neue Modell der Familienpflegezeit belastet aus Sicht des DCV in finanzieller Hinsicht nur die Beschäftigten. Es ist anzuerkennen, dass auch die Arbeitgeber zur Umsetzung der Familienpflegezeit in ihren Betrieben organisatorisch und administrativ mehr gefordert sind. Durch die staatliche Förderung mit der zinslosen Refinanzierung der Entgeltaufstockung verbleibt der darüber hinausgehende Aufwand in den Gehaltskosten für sie aber kostenneutral. Demgegenüber müssen die finanziellen Lasten aus Lohneinbußen und neuen Versicherungskosten von den Beschäftigten allein getragen werden. Die Kosten der für die Gesellschaft höchst bedeutsamen häuslichen Pflege liegen damit weiter im privaten Bereich.
Nachbesserungsbedarf sah der DCV auch für bestimmte Konstellationen, beispielsweise, wenn pflegende Angehörige in der Nachpflegephase die Rückzahlung nicht wie vereinbart leisten können oder diese eine besondere Härte verursachen würde. Hier sollten Härtefallregelungen eingeführt werden. Dies hatte auch der Bundesrat angeregt. Der Gesetzgeber hat vor der abschließenden Beschlussfassung dann noch nachgebessert, jedoch die Stundungsregelungen in der Nachpflegephase nur auf den Fall des Bezugs von Krankengeld beziehungsweise Kurzarbeitergeld begrenzt.
Zumindest was die Beitragsberechnung für die Familienpflegezeitversicherung betrifft, haben die Hinweise des DCV und anderer Verbände zu Verbesserungen für die Beschäftigten geführt. Der Gesetzentwurf sah bisher lediglich vor, dass die Beitragsberechnungen unabhängig vom Geschlecht erfolgen sollen. Zwingend notwendig war aus Sicht des DCV aber auch, dass keine Gesundheitsprüfung verlangt wird und die Beiträge unabhängig vom Alter berechnet werden. Ansonsten wäre möglicherweise bereits die Beitragshöhe für viele Interessierte ausgrenzend. Hier haben Regierungsfraktionen den Gesetzentwurf abgeändert.
Pflegebedürftige einbeziehen
Um Familienpflegezeit in Anspruch nehmen zu können, muss eine Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI bestehen. Diese Voraussetzung einer Pflegeeinstufung lässt unter anderem den größer werdenden Kreis der demenzkranken Pflegebedürftigen außer Acht, weil hier oft keine Pflegestufe vorliegt. Der DCV hatte deshalb vorgeschlagen, den Anwendungsbereich der Familienpflegezeit auf die Pflege von nahen Angehörigen mit eingeschränkter Alltagskompetenz nach § 45a SGB XI auszuweiten. Weil eine solche Erweiterung im Fall der Familienpflegezeit auch nicht mit Mehrleistungen der Sozialversicherung verbunden ist, hält es der Deutsche Caritasverband angesichts der Pflegerealität in Familien für vertretbar, die Pflegedefinition weitergehender als in anderen Gesetzen zu fassen. In der Sache fand der DCV in der Anhörung Zustimmung für diesen Vorschlag. Jedoch wollen die Regierungsfraktionen das Anliegen, den Pflegebedürftigkeitsbegriff zu reformieren, übergreifend innerhalb der angekündigten Pflegereform geregelt sehen.
Für Geringverdiener ist keine Lösung in Sicht
Bei der Anhörung zum Gesetzgebungsverfahren nahm zu Recht die Frage einen großen Raum ein, wie der Wirkungsgrad für bestimmte Einkommens- beziehungsweise Beschäftigungskonstellationen eingeschätzt wird. Alle Expert(inn)en waren sich einig, dass eine Familienpflegezeit eher für Vollzeit- oder nahezu Vollzeitbeschäftigte attraktiv ist. Weil sie unmittelbar Einkommen mindert und auf die eigene Existenzsicherung wirkt, wird sie für Geringverdiener voraussichtlich kaum machbar sein. Auch die abzuschließende Familienpflegezeitversicherung belastet finanziell zusätzlich und wird gerade für Geringverdiener abschreckend wirken. Der DCV hatte daher vorgeschlagen, dass für Bezieher von ergänzendem ALG II sowie für Menschen, die durch die Prämienzahlung in das SGB II fallen würden, die Prämie vom Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende übernommen wird. Das nun beschlossene Gesetz enthält dazu keine Regelungen.
Ein alternatives Darlehensmodell
Um das Verfahren für die Beschäftigten flexibler zu gestalten und den Administrationsaufwand zu minimieren, hatte der DCV angeregt, eine alternative Lösung über direkte staatliche Darlehen im Verhältnis Bundesamt - Beschäftigte zu prüfen. Ein solches Modell macht transparent, dass es sich letztlich um eine individuelle Kreditaufnahme handelt. Auch ließen sich ohne das "Dreiecksverhältnis" der administrative Aufwand und das Umsetzungsrisiko vor allem in Klein- und mittleren Betrieben minimieren und damit möglicherweise die Akzeptanz für die Familienpflegezeit stärken. Auch wären Härtefallregelungen für die Rückzahlung einfacher zu lösen. Bei einem solchen Direktdarlehen für die Beschäftigten verblieben dem Arbeitgeber lediglich die Aufgaben, die er auch bei Inanspruchnahme einer Elternzeit zu organisieren hat. So wäre es auch sachgerecht, für die Familienpflegezeit einen Rechtsanspruch analog dem Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit zu gewähren. Im Sinne der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung könnte in einem solchen Modell gegebenenfalls auch auf die Risikoabsicherung über eine private Versicherung verzichtet werden.
Das allein kann es nicht gewesen sein
Die Familienpflegezeit wird am 1. Januar 2012 in Kraft treten. Der Bundestag hat den Gesetzentwurf am 20. Oktober in zweiter und dritter Lesung bestätigt. Der grundlegende Webfehler des Gesetzes, der fehlende Rechtsanspruch, bleibt bestehen. Auch hat unser Vorschlag einer Koppelung von Direkt-Darlehen und Rechtsanspruch keinen Anklang gefunden. Klar ist damit auch: Das Gesetz wird hinter seinem eigenen Anspruch zurückbleiben, den Bundesfamilienministerin Kristina Schröder noch im Februar 2011 wie folgt formuliert hatte: "Die Familienpflegezeit zeigt den Weg, wie wir die Herausforderungen des demographischen Wandels gemeinsam bewältigen können. Sie bietet eine Lösung für das große Problem der Vereinbarkeit von Beruf und der Pflege von Angehörigen."9
Das Familienpflegezeitgesetz kann sicherlich ein weiterer Mosaikstein zur Familienfreundlichkeit werden. Für Einzelne kann die Möglichkeit der zeitweisen Arbeitszeitreduzierung, die mit einem Lohnvorschuss gekoppelt ist, eine neue Option darstellen. Insgesamt werden Wirkung und Nutzung vor dem Hintergrund des rapide wachsenden Bedarfs an privaten Pflegeleistungen aber nur "ein Tropfen auf den heißen Stein" bleiben.
Unabdingbar bleibt, dass Pflegende ebenso wie Pflegebedürftige zur Organisation häuslicher Pflege auf ein gut strukturiertes Netz von Beratung, professioneller Pflegeunterstützung, Dienstleistungen sowie kurzfristigen Entlastungsmöglichkeiten zurückgreifen können. Klar ist: Die anstehende Reform der Pflegeversicherung muss Verbesserungen bringen, auch in Bezug auf den Pflegebedürftigkeitsbegriff und die Erhöhung der materiellen Leistungen bei häuslicher Pflege.
Anmerkungen
1. Statistisches Bundesamt: Pflegestatistik 2009. Wiesbaden, 2011; www.destatis.de.
2. Statistisches Bundesamt: Ältere Menschen in Deutschland und der EU; Wiesbaden, Juni 2011, S. 83.
3. Statistisches Bundesamt: Pflegestatistik 2009, a.a.O.
4. Vgl. Schneekloth, Ulrich; Wahl, Hans-Werner: Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in privaten Haushalten (MuG III). München, März 2005, S. 61.
5. Vgl. Siemens Betriebskrankenkasse: Daten und Fakten zur Pflegesituation in Deutschland. www.sbk.org, "Presse", "Presseinformationen", "Themenspecials", "Themenspecial Pflege".
6. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, 17. Legislaturperiode, S. 92.
7. Netzwerkbüro " Erfolgsfaktor Familie": Auswertung der 3. Blitzabfrage: "Pflege - (k)ein Thema in den Unternehmen?", www.erfolgsfaktor-familie.de.
8. Bundestags-Drucksache 17/6000; Gesetzentwurf der Bundesregierung/Begründung, S. 21.
9. www.bmfsfj.de, "Presse"; Pressemeldung vom 16. Februar 2011.