Generalistische Ausbildung bringt Vorteile
Seit Ende der 80er Jahre rückt das Thema Pflegenotstand immer wieder in den Fokus der Öffentlichkeit und ist derzeit aktueller denn je. Der Rückgang von Schulabgänger(inne)n und damit potenziell Interessierten am Pflegeberuf hat bereits eingesetzt. Parallel dazu steigt der Pflegebedarf an. Dies macht die Debatte um eine Reform der Pflegeausbildung umso dringender, zumal sich die Erfordernisse in der Kranken- und Altenpflege zunehmend überschneiden.
Auch vor diesem Hintergrund haben der Deutsche Caritasverband (DCV) und das Diakonische Werk der EKD mit ihren Fachverbänden für Krankenhaus und für die Altenhilfe die "Empfehlung für eine zukunftsweisende Reform der Pflegeausbildungen in Deutschland" verabschiedet.1 Sie sprechen sich für eine gemeinsame Ausbildung der bisherigen Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege aus. Im Sinne des lebenslangen Lernens soll die Ausbildung Durchlässigkeit bis zum tertiären Bildungssektor ermöglichen. Definierte gestufte Qualifikationsniveaus analog zum Europäischen beziehungsweise Deutschen Qualifikationsrahmen (EQR und DQR) und modularisierte Ausbildungsgänge sind ebenfalls zu nutzen.
Auch die Möglichkeit, parallel eine grundständige Pflegeausbildung und ein Pflegestudium in Form eines dualen Studiums zu absolvieren, wird befürwortet. Dies eröffnet zeitlich komprimierten Bildungswegen eine Chance.
Der demografische Wandel ist eine besondere Herausforderung für die Träger der Dienste und Einrichtungen der Gesundheits- und Altenhilfe. Die Veränderung der Alterspyramide, die durch eine Zunahme des Anteils älterer und alter Menschen an der Gesamtbevölkerung gekennzeichnet ist, sowie der Anstieg der Lebenserwartung sind oft verbunden mit Mehrfacherkrankungen und einem höheren Pflegebedarf. Insgesamt verschiebt sich das Krankheitsspektrum in Richtung chronischer und degenerativer Erkrankungen.
Die Gesundheits- und Altenhilfeträger haben sich vielfach schon strukturell und konzeptionell auf die dadurch bedingten Anforderungen eingestellt. In der Gesundheits- und Altenhilfe ist in den vergangenen Jahren eine deutliche Konzentration der Träger bei gleichzeitiger Erweiterung der Dienstleistungen zu beobachten. So sind vielfach Träger von Krankenhäusern zugleich Träger von Altenhilfeeinrichtungen und ambulanten Pflegediensten. Wo dies nicht unter einem Dach geschieht, werden Kooperationen und Netzwerke mit anderen Trägern gebildet, damit möglichst wenig Lücken für die gesundheitliche und pflegerische Versorgung der Bevölkerung bleiben.
Medizinischer Fortschritt, aber auch wissenschaftlich fundierte Pflegekonzepte sowie die Gesundheitsgesetzgebung haben sich auf die Behandlung und Pflege ausgewirkt und unter anderem die Verweildauer in Krankenhäusern deutlich verkürzt. Die Patient(inn)en werden im häuslichen Bereich oder in stationären Altenhilfeeinrichtungen anschließend weiterversorgt. Im Krankenhaus werden für die Pflege hochbetagter Menschen verstärkt gerontologische und gerontopsychiatrische Kompetenzen erforderlich; in der ambulanten Pflege und der stationären Altenhilfe werden mehr krankenpflegerische oder medizinisch-pflegerische Kompetenzen benötigt. Traditionell ausgebildete Kranken- oder Altenpfleger(innen) verfügen in aller Regel nicht über ein Kompetenzprofil, das alters- und sektorenübergreifenden Anforderungen gerecht wird.
Pflegefachkräfte der Zukunft müssen flexibel und schnell reagieren können. Sie müssen schon in ihrer Ausbildung lernen, in allen pflegerelevanten Handlungsfeldern tätig zu werden und übergreifende wissenschaftlich fundierte Pflegekonzepte professionell umzusetzen. Eine neue Pflegeausbildung, die sich auf alle Sektoren und Altersgruppen bezieht, ist für die Arbeitsbereiche von erheblichem Nutzen.
Dabei kann es in einer (generalistischen) Ausbildung nicht darum gehen, dass Auszubildende in der Pflege ihre Aufgaben möglichst schnell innerhalb der Arbeitsprozesse "störungsfrei" umsetzen können. Vielmehr muss sie stärker als bisher darauf ausgerichtet sein, dass Auszubildende pflegerelevante Situationen analysieren, Handlungsoptionen erkennen und zielgerichtet die beste Option wählen können. Dies gilt umso mehr, als Auszubildende einer generalistischen Pflegeausbildung nicht jede Pflegesituation in jeder Altersstufe und in jedem Setting kennenlernen und üben, sondern durch die erworbenen Kompetenzen professionelle Analyse- und Transferleistungen erbringen. Der praktischen Anleitung durch erfahrene pädagogisch interessierte und qualifizierte Pflegeexpert(inn)en kommt eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Funktion zu. Praxisanleiter(innen) müssen gezielt geeignete Lernsituationen auswählen, die diese Lernprozesse ermöglichen. Ihnen muss für diese Aufgabe der notwendige Zeitrahmen zur Verfügung gestellt werden.
Bereits im Jahr 2008 zeigten die Ergebnisse der Modellprojekte des BMFSFJ-Vorhabens "Pflegeausbildung in Bewegung"2, dass eine generalistische Ausbildung dem Anspruch gerecht wird, den erforderlichen Kompetenzerwerb zu ermöglichen und somit die Absolvent(inn)en für das breite Berufsfeld der Pflege zu qualifizieren. Zwar waren die Teilnehmer(innen) des Projektes in einzelnen Routinetätigkeiten zu Beginn ihres Einsatzes nicht gleich schnell wie zum Beispiel Auszubildende in einem traditionellen Ausbildungsgang der Alten-, Kranken- oder Kinderkrankenpflege. Sie zeigten jedoch eine ausgeprägte Analyse- und Transferkompetenz und bewältigten so insbesondere auch neue Aufgaben professionell.
Als Generalisten qualifiziert für die Pflege
Dieses Ergebnis stellt eine sogenannte "Win-win-Situation" dar: die generalistisch ausgebildeten Pflegekräfte können ihren Arbeitsplatz im Bereich der allgemeinen Pflege ohne Einschränkungen wählen und sind schnell in der Lage, sich auf neue Anforderungen einzustellen. Einrichtungsträger können Pflegekräfte in allen Arbeitsfeldern einsetzen. Dadurch können Vorlieben und Wechselwünsche der Pflegekräfte während ihres Berufslebens berücksichtigt werden. Sie verbleiben so möglicherweise länger im Beschäftigungsverhältnis.
Bislang bestehen noch in einigen Bundesländern Einschränkungen zum Beispiel für Altenpfleger(innen), wenn sie medizinisch-pflegerische Aufgaben oder Leitungsfunktionen im ambulanten Pflegebereich übernehmen. Dies wird künftig nicht mehr der Fall sein. Generalistisch ausgebildete Pflegefachkräfte können sozusagen "barrierefrei" überall eingesetzt werden. Dass Spezialisierungen für einzelne Arbeitsbereiche (zum Beispiel Intensivpflege) und Funktionen (Leitung einer Pflegeeinheit) weiterhin erforderlich sind, bleibt unbenommen. Voraussetzung für eine erfolgreiche Nutzung dieser Optionen ist dabei eine systematische Personal- und Organisationsentwicklung.
Die bisherigen Reformen der Ausbildungen in den Pflegeberufen bedeuteten für die Träger häufig, dass die Auszubildenden immer kürzere Zeiten der Ausbildung im eigenen Betrieb verbrachten. So müssen Auszubildende in der Gesundheits- und Krankenpflege umfangreiche Außeneinsätze beispielsweise in der ambulanten Pflege, der Altenhilfe oder Kinderkrankenpflege absolvieren.
In der Altenpflegeausbildung sind die praktischen Einsätze im Wesentlichen auf die stationäre Altenhilfe beziehungsweise die ambulante Pflege begrenzt. Einsätze zum Beispiel im Akutkrankenhaus oder der Psychiatrie sind nur in einigen Bundesländern verbindlich vorgesehen.
Da die generalistische Ausbildung auf den gesamten Handlungsbereich der Pflege ausgerichtet ist, werden auch zukünftig "Außeneinsätze" zu absolvieren sein. Diese Einsätze sollten jedoch nicht als Zeiten gewertet werden, in denen die Auszubildenden nicht dem eigenen Betrieb zur Verfügung stehen. Hier sollte der Blick darauf gerichtet sein, wie die erworbenen Kenntnisse dem eigenen Betrieb wieder zugutekommen können. So wird es im Entlassmanagement eines Krankenhauses von Vorteil sein, wenn Pflegekräfte die Bedingungen und Abläufe in der stationären Altenhilfe oder im ambulanten Pflegedienst kennen. Dies gilt auch für in allen Bereichen zunehmend wichtiger werdende Aufgaben wie zum Beispiel in der Gesundheitsförderung oder Beratung, die zurzeit in den klassischen Ausbildungsfeldern noch unterrepräsentiert sind.
Mit Ausbildung investieren Träger in die Zukunft
Die Ausbildung von Pflegefachkräften ist eine wichtige Investition in die Zukunft. So zeigt sich schon heute, dass die Träger, die sich an der pflegerischen Ausbildung beteiligen, weniger Probleme mit der Besetzung von Fachkraftstellen haben als nicht ausbildende Träger.
Ebenso wichtig ist es, die ausgebildeten Pflegefachkräfte für eine dauerhafte Tätigkeit in der Pflege zu gewinnen. Vor dem Hintergrund des Rückgangs von Schulabgänger(inne)n wird dies noch bedeutsamer werden. Dabei steht der Pflegeberuf in Konkurrenz zu vielen anderen als sehr attraktiv bewerteten Berufen. Gerade in den vergangenen Jahren ist zwar das Ansehen des Pflegeberufs gestiegen und liegt auf Platz zwei nach dem Arztberuf.3 Bei Schüler(inne)n zählt er jedoch laut einer Untersuchung der Universität Bremen aus dem Jahr 2010 nicht zu den "In-Berufen", sondern eher zu den "Out-Berufen".4
Durch eine reformierte Pflegeausbildung können Träger junge Menschen, aber auch Frauen und Männer nach der Familienphase gewinnen, indem sie ihnen die Entwicklungsmöglichkeiten in der Gesundheits- und Altenhilfe aufzeigen: Karriere in der Pflege ist maßgeschneidert möglich. Je nach Voraussetzung können Ausbildungswege für Bewerber(innen) angeboten werden.
Schulabgänger(innen) mit schlechten Zeugnissen erhalten leichter als bisher eine weitere Chance und Zugang zur beruflichen Pflege, indem sie zunächst eine Ausbildung in der Pflegeassistenz durchlaufen können. Wenn die Leistungen es zulassen, können sie die berufliche Bildung auf höherer Ebene fortsetzen. Vielen jungen Menschen kommt dies entgegen, da die Leistung häufig nur vorübergehend niedrig ist und vorhandene Ressourcen erst geweckt werden müssen. Für Einrichtungen der Caritas ist dies nicht nur im Sinne der sozialen Teilhabe Benachteiligter eine positive Option, sondern erschließt auch neue Bewerbergruppen, die später entsprechend ihrer Qualifikation eingesetzt werden können. Zunehmend wichtig wird es aber, Abiturient(inn)en für die Ausbildung in der Pflege zu gewinnen. Viele dieser jungen Menschen fragen gezielt nach Studienmöglichkeiten in der Pflege.
In vielen Schulen - derzeit überwiegend Kranken- und Kinderkrankenpflegeschulen - wird interessierten Auszubildenden bereits ein duales Studium angeboten. Die Auszubildenden erreichen damit nach drei Jahren den staatlichen Abschluss Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpfleger(in) und nach vier Jahren den Bachelor als akademischen Abschluss. Diese Auszubildenden stellen schon früh die Frage, welche Aufgaben sie im Unterschied zu einer Pflegekraft übernehmen können, die eine dreijährige Ausbildung absolviert hat.
Um die durch die Ausbildung oder ein Studium erworbenen Kompetenzen adäquat nutzen zu können, sind die Träger gefordert, die Prozesse ihres Versorgungsbereiches systematisch daraufhin zu analysieren, wie Verantwortung zugeordnet werden muss und welche Qualifikation an welcher Stelle gefragt ist. Klare Kompetenzzuweisungen sind erforderlich. Die Vergütung muss sich an der Verantwortung orientieren.
Notwendig werden verbindliche Qualifikationsniveaus auch, wenn die formalen gesetzlichen Voraussetzungen dazu geschaffen werden, dass bestimmte, bisher ärztliche Aufgaben - wie zum Beispiel Verordnung von Pflegehilfsmitteln - in den Verantwortungsbereich der professionellen Pflege übertragen werden.
Eine Chance, den Beruf flexibler zu machen
Eine Reform der pflegerischen Ausbildung bringt für die Träger in der Gesundheits- und Altenhilfe viele Veränderungen mit sich. Die von Caritas und Diakonie sowie ihren Fachverbänden formulierte Empfehlung bietet die Chance, den Beruf zu modernisieren und zu flexibilisieren. Die Reform trägt dazu bei, dass der Pflegeberuf attraktiver wird.
Letztendlich hängt die Attraktivität aber nicht nur von den beschriebenen Möglichkeiten ab, sondern von der Qualität der Umsetzung. Hier kommt es zwar auch auf die politisch gesetzten Rahmenbedingungen an. Da aber die Träger weiterhin für die Pflegeausbildung verantwortlich zeichnen wollen, sind sie gefordert, ihre Gestaltungsmöglichkeiten zu nutzen. Parallel dazu gilt es, die Politik zu bewegen, die Ausbildungsreform voranzubringen und die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, die es zulassen, eine attraktive und zukunftsorientierte Pflegeausbildung umzusetzen.
Anmerkungen
1. Diakonisches Werk der EKD, Deutscher Caritasverband, Deutscher Evangelischer Krankenhausverband (DEKV), Katholischer Krankenhausverband Deutschlands (KKVD), Deutscher Evangelischer Verband für Altenarbeit und Pflege (DEVAP), Verband katholischer Altenhilfe in Deutschland (VKAD): Empfehlungen für eine zukunftsweisende Reform der Pflegeausbildungen in Deutschland. Berlin, Mai 2011 (siehe neue caritas Heft 12/2011, S. 36-40).
2. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Pflegeausbildung in Bewegung. Abschlussbericht, Berlin, 2008.
3. Allensbacher Berufsprestige-Skala, www.ifd-allensbach.de, "News", Pressemitteilung vom 7. April 2011.
4. Görres, Stefan: Imagekampagne für Pflegeberufe auf der Grundlage empirisch gesicherter Daten - Einstellungen von Schüler/innen zur möglichen Ergreifung eines Pflegeberufes. Universität Bremen, März 2010.