Umgang mit Patientenverfügungen hat seine Tücken
Mit Wirkung zum 1. September 2009 hat der Gesetzgeber erstmals eine Regelung zur Patientenverfügung getroffen. Das Bundesjustizministerium hat das Werk, das im Betreuungsrecht verankert wurde, sogleich als Erfolg verkündet: „Ab sofort werden die Voraussetzungen von Patientenverfügungen und ihre Bindungswirkung eindeutig im Gesetz bestimmt. (…) Künftig ist jede schriftliche Patientenverfügung, die der aktuellen Lebens- und Behandlungssituation entspricht, für alle Beteiligten verbindlich. Wir stellen sicher, dass die Menschen in jeder Phase ihres Lebens selbst entscheiden können, ob und wie sie behandelt werden möchten. Zugleich gewährleisten wir, dass bei Missbrauchsgefahr oder Zweifeln über den Patientenwillen das Vormundschaftsgericht als neutrale Instanz entscheidet.“ Bei genauem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass der Gesetzgeber das Versprechen der Rechtssicherheit nicht gehalten hat. Schon jetzt bestehen in der juristischen Fachliteratur erhebliche Differenzen darüber, wie das Gesetz zu verstehen ist und für wen die Patientenverfügung tatsächlich verbindlich ist. Dabei betreffen die bestehenden Unklarheiten Fragestellungen, die für die Praxis von erheblicher Bedeutung sind:
- Das Gesetz definiert die Patientenverfügung als „schriftliche Festlegung eines einwilligungsfähigen Volljährigen für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt“. Die gesetzlichen Bestimmungen schweigen dabei zu der Frage, welchen Adressaten gegenüber die Patientenverfügung Bindungswirkung entfaltet: nur gegenüber dem Betreuer oder Bevollmächtigten1, der nach dem Gesetz zu prüfen hat, ob die Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen, oder auch gegenüber dem behandelnden Arzt beziehungsweise dem gesamten Behandlungsteam, welche die Entscheidung des Patienten letztlich umzusetzen haben?
Es ist strittig, für wen die Verfügung verbindlich ist
Wenngleich die wohl herrschende Auffassung – meines Erachtens zutreffend – davon ausgeht, dass die Patientenverfügung auch den behandelnden Arzt oder das Behandlungsteam unmittelbar bindet, wird unter Juristen – mit nicht ganz unbeachtlichen Argumenten – auch die gegenteilige Auffassung vertreten.
Die Frage ist von erheblicher Relevanz – insbesondere in solchen Situationen, in denen ad hoc über das Einleiten oder Unterlassen lebenserhaltender Maßnahmen entschieden werden muss, ohne dass eine Rücksprache mit einem Betreuer oder Bevollmächtigten möglich ist. Entfaltet die Patientenverfügung nur Bindungswirkung gegenüber einem Betreuer oder Bevollmächtigten, hätte das Behandlungsteam in dieser Situation jede medizinisch indizierte Maßnahme zur Lebenserhaltung zu ergreifen, auch wenn in der Patientenverfügung etwas anderes verfügt ist. Entfaltet die Patientenverfügung dagegen auch Bindungswirkung gegenüber dem Behandlungsteam, wäre ihr zu entsprechen, das heißt gegebenenfalls auf lebenserhaltende Maßnahmen zu verzichten.
- Bejaht man grundsätzlich eine Bindungswirkung auch gegenüber dem Arzt oder Behandlungsteam, stellt sich eine weitere, durch das Gesetz ebenfalls nicht geklärte Frage: Ist neben einer Patientenverfügung für die Umsetzung des Patientenwillens ein Betreuer überhaupt noch nötig beziehungsweise ist neben einer Patientenverfügung Raum für einen Betreuer? Denn wenn der Arzt unmittelbar an die Patientenverfügung gebunden ist, muss er ohnehin der Verfügung entsprechen und nicht dem Betreuerwillen. Allerdings verlangt das Gesetz vom behandelnden Arzt, dass er indizierte Maßnahmen mit dem Betreuer im Hinblick darauf erörtert, ob sie dem in der Patientenverfügung erklärten Patientenwillen entsprechen. Der Gesetzgeber geht dabei offenbar wie selbstverständlich davon aus, dass ein Betreuer, mit dem der Arzt die Maßnahme besprechen kann, existiert. Tatsächlich wird das jedoch nicht immer der Fall sein. Es stellt sich dann die Frage, ob der Arzt der Patientenverfügung auch ohne Gespräch mit einem Betreuer entsprechen darf (beziehungsweise muss) oder ob zuvor ein Betreuer zu bestellen ist, damit der Arzt mit ihm die Maßnahme besprechen kann. Jedenfalls in eilbedürftigen Fällen, in denen eine Betreuerbestellung nicht abgewartet werden kann oder der Betreuer nicht erreichbar ist, sieht die wohl herrschende Auffassung den Arzt an die Patientenverfügung gebunden.
Widerruf ist immer möglich – und sorgt für Verwirrung
- Nach der gesetzlichen Regelung ist zu prüfen, ob die Patientenverfügung noch dem aktuellen Willen des Patienten entspricht oder ob dieser sie inzwischen widerrufen hat. Ein Widerruf ist prinzipiell jederzeit formlos möglich, auch durch schlüssiges Verhalten (beispielsweise Gesten). Der Widerruf muss auch nicht gegenüber dem Betreuer oder Arzt erklärt werden. Jedes Verhalten, durch das der Patient irgendwie gegenüber irgendeiner Person zum Ausdruck gebracht hat, dass er seine Patientenverfügung nicht mehr gelten lassen möchte, kann daher als Widerruf auszulegen sein. Dies stellt die Adressaten der Patientenverfügung vor das schwierige Problem, zu ermitteln und zu beurteilen, ob der Patient irgendwann einmal signalisiert hat, dass er seine Patientenverfügung als ungültig betrachtet. Gerade Ärzte, die den Patienten persönlich nicht kennen, werden dies in der Regel nicht leisten können. Die jederzeitige, formlose Widerrufsmöglichkeit durchbricht die Verbindlichkeit der Patientenverfügung ganz erheblich und wird möglicherweise große Unsicherheiten in der täglichen Praxis bewirken. Hinzu kommt, dass das Gesetz sich uneindeutig zu der Frage verhält, ob der Patient seine Patientenverfügung auch noch im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit wirksam widerrufen kann.
- Unklar ist das Gesetz ferner bei der Frage, wann genau es einer Genehmigung durch das Betreuungsgericht bedarf. Das Gesetz unterstellt nur Entscheidungen des Betreuers oder Bevollmächtigten dem Erfordernis einer betreuungsgerichtlichen Genehmigung – es sei denn, zwischen behandelndem Arzt und Betreuer bestünde Einvernehmen über den Patientenwillen. Gleichzeitig geht der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung aber davon aus, dass der Betreuer oder Bevollmächtigte gar keine Entscheidung fällt, wenn der Patient für die konkrete Behandlungssituation bereits selbst in seiner Verfügung eine Entscheidung getroffen hat. Dies führt streng genommen dazu, dass das Betreuungsgericht in allen Fällen, in denen eine Patientenverfügung Aussagen zur konkreten Behandlungssituation macht, nicht angerufen werden kann, auch dann nicht, wenn der behandelnde Arzt und der Betreuer unterschiedlicher Auffassung über die Bedeutung der Festsetzungen in der Patientenverfügung sind. Eine Konsequenz, die der Gesetzgeber vermutlich nicht gewollt hat.
Keine hinreichenden Gedanken hat der Gesetzgeber sich auch zu der Frage gemacht, wie in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in denen die Betreuung von Patienten in den Händen mehrerer, im Schichtdienst arbeitender Personen liegt, über die Behandlung oder Nichtbehandlung von Patienten mit Patientenverfügung zu entscheiden ist. Hier stellen sich insbesondere folgende Fragen:
- Wer ist befugt (und verpflichtet), die Patientenverfügung auszulegen und zu interpretieren? Die Frage stellt sich zum einen im Hinblick auf arbeitsrechtliche Hierarchien in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, zum anderen im Hinblick darauf, dass es häufig nicht nur einen behandelnden Arzt, sondern ein Ärzteteam verschiedener Fachrichtungen gibt.
- Wie ist das Wissen über die Existenz einer Patientenverfügung und ihren Inhalt innerhalb der Einrichtung zwischen den verschiedenen Beteiligten des Behandlungsteams zu kommunizieren? Auf welche Informationsquellen über den Inhalt einer Patientenverfügung darf ein Arzt oder eine Pflegekraft sich verlassen?
Insgesamt hat die neue gesetzliche Regelung der Patientenverfügung gegenüber der bisherigen Rechtslage nicht ein Mehr, sondern ein Weniger an Rechtssicherheit gebracht. Es werden etliche Fragen aufgeworfen, die von den Gerichten zu beantworten sein werden, bis ein gesicherter Umgang mit Patientenverfügungen möglich wird. Bis dahin ist guter Rat teuer. Auch Juristen können denjenigen, die von Berufs wegen mit Patientenverfügungen konfrontiert sind, nur allgemeine Hinweise zur Risikoreduzierung geben (siehe Kasten).
Anmerkung
1. Zugunsten der Lesbarkeit des Textes wird im Folgenden ausnahmsweise auf die weibliche Form verzichtet. Frauen sind natürlich in allen Fällen mitgemeint.