Heimerziehung der frühen BRD: Caritas auf Abwegen?
Vor gut vier Jahren setzte eine umfangreiche Berichterstattung über die Heimerziehung in der frühen Bundesrepublik ein. Kritisiert werden erniedrigende Lebensverhältnisse: die bis in die 1970er Jahre hineinreichende Alltäglichkeit körperlicher Züchtigungen, demütigende Strafen, harte, meist unbezahlte Arbeit und ein repressives System, das die Kinder und Jugendlichen in ein Korsett rigider Moralvorstellung zu zwängen versuchte. Im Mittelpunkt der Kritik steht bis heute die konfessionelle Heimerziehung. Dies kann zunächst rein zahlenmäßig nicht verwundern, da von den etwa 800.000 Minderjährigen, die zwischen 1949 und 1975 in der Bundesrepublik in Erziehungsheimen lebten, vermutlich 70 Prozent bis 80 Prozent in Einrichtungen in konfessioneller Trägerschaft waren. Wenn man zudem bedenkt, dass noch 1964 fast die Hälfte der gut 11.000 hauptberuflichen Mitarbeiter(innen) in den caritativen Heimen einer Ordensgemeinschaft angehörten, von denen nicht selten im erzieherischen Bereich die Gruppenleitungen gestellt wurden, wird die stark konfessionelle Prägung dieser Häuser noch deutlicher.2
Aber die Kritik reicht weiter, da der Vorwurf einer systematisch erniedrigenden Erziehungspraxis gerade gegen die konfessionellen Einrichtungen erhoben wird und auf die Diskrepanz zwischen dem christlichen Gebot der Nächstenliebe und den realen Bedingungen in nicht wenigen Heimen weist. Damit geht es um eine grundsätzliche und schwerwiegende Anfrage, der sich Caritas und Kirche heute stellen müssen: Haben sich die Einrichtungen von ihrem christlichen Auftrag und Selbstverständnis entfernt und die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen gedemütigt und ausgebeutet?
Eine einfache Antwort lässt sich aus historischer Perspektive nicht geben. Und eine historische Aufarbeitung, die allein aufgrund der großen Zahl an Heimen (in den 1950er und 60er Jahren ist von 550 bis 600 caritativen Einrichtungen auszugehen), betroffenen Personen und Institutionen kein leichtes Unterfangen ist, hat erst langsam im Zuge der Kritik eingesetzt. Trotzdem sollen im Folgenden auf Basis der Ergebnisse laufender Forschungsprojekte besonders für den Bereich der Fürsorgeerziehung einige Problemzonen benannt und Zugänge skizziert werden.
„Verwahrlosung“ als zentraler Begriff
Versucht man eine historische Linie in die Geschichte der Heimerziehung in der frühen Bundesrepublik zu ziehen, dann sind als große Einschnitte die Jahre 1945 und 1968 zu benennen. Nach dem Kriegsende wurde die rassistische Überformung der Erziehungspraxis im NS-Regime aufgegeben und versucht, an die Tradition der Weimarer Republik anzuknüpfen. Die für die Einweisung in ein Heim wie auch die Aufsicht über dieselben zuständigen staatlichen Instanzen führten daher die traditionell enge Bindung mit den konfessionellen Trägern fort oder nahmen sie wieder auf. Gerade bei der Fürsorgeerziehung, über die vor allem ein Großteil der schulentlassenen Kinder und Jugendlichen in Heime kam, war die „Verwahrlosung“ der zentrale Begriff – die Betroffenen sollten davor bewahrt oder davon geheilt werden. Dabei standen die traditionellen Ordnungsvorstellungen einschließlich einer rigiden Sexualmoral sowie die Einstellung zur Arbeit im Mittelpunkt. Als wesentliches Erziehungsziel galt hier letztlich die Anpassung der dort untergebrachten Minderjährigen an die gesellschaftlichen Verhältnisse. Dementsprechend sollten vor allem ein enger disziplinarischer Rahmen und die Erziehung durch Arbeit zur Erlangung der pädagogischen Ziele führen, die auch die katholischen Heime kennzeichneten. Für Mädchen ging es um die Erziehung in die Rolle der Mutter und Ehefrau, für Jungen gab es aufgrund des Rollenverständnisses mehr Ausbildungsplätze. Allerdings reichten diese nicht aus. Ein Großteil war mit ungelernten Tätigkeiten wie dem Mattenflechten beschäftigt oder arbeitete etwa in der hauseigenen Landwirtschaft direkt für den Erhalt der Einrichtung.
Dazu kam speziell für das Ordenspersonal hinzu, bei ihren Erziehungsbemühungen sowohl das eigene als auch das Seelenheil der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen im Blick zu haben. Welche Spannung sich daraus ergab, zeigten die Heimordnungen und Ordenssatzungen. Einerseits verwiesen sie wie Mitte der 1950er Jahre bei den bayerischen St.-Anna-Schwestern darauf, dass die Erziehung von „verstehende[r] Liebe“ geprägt sein solle, die „ihre Auswirkung […] in einer nie versiegenden Hochschätzung vor jedem Schützling in seiner Würde als Mensch und Christ und der ihm von Gott gegebenen Ewigkeitsbestimmung“ finde. Andererseits widersprach dem jedoch offenbar nicht selten das Verhalten des Erziehungspersonals, indem es sich immer wieder hauptsächlich an den vermeintlichen Defiziten der Minderjährigen orientierte. Typisch dafür sind Beurteilungen wie „Triebhaftigkeit, dauernde Oppositionshaltung, vorherrschende Debilität“, „zerfloss vor Mitleid mit der eigenen Person“ oder „triebhaft, unbeherrschte Wesensart, egozentrisch“, die aus einem Heim in Waldniel bei Mönchengladbach aus dem Jahr 1958 stammen und sich auf 15- bis 17-jährige Mädchen beziehen.
Dieser defizitären Perspektive entsprach es, dass etwa nach der 1953 verfassten Heimordnung der im Emsland gelegenen Johannesburg, eines Erziehungsheims für Jungen in Trägerschaft der Norddeutschen Provinz der Herz-Jesu-Missionare, „ein großer Teil der Erziehungsarbeit im Heim darin [besteht], das Böse durch Aufsicht und straffe Ordnung zu verhindern“. Es wird noch genauer zu untersuchen sein, inwieweit die Ordensangehörigen ihre ordensspezifischen Wertvorstellungen in die Erziehung einbrachten, also ob etwa die im eigenen Ordensleben einer Schwester geforderte Demut das Vollziehen demütigender Strafen beeinflusste oder eine besondere Wertschätzung des Leidens in der Ordensspiritualität Einfluss auf die Bestrafung hatte.
Verzögerte Modernisierung
Eine in den 1950er Jahren im Zuge des Wirtschaftswunders langsam beginnende Modernisierung setzte zwar neue Akzente, ohne allerdings einen schnellen und durchschlagenden Wandel zu erreichen. Über eine rege Bautätigkeit konnten pädagogisch wichtige Ziele wie die Schaffung von Freizeiträumen sowie die Verkleinerung der Schlafsäle – erste Heime verfügten sogar schon Mitte der 1950er Jahre über Einzelzimmer – erreicht werden. Auch die Größe der Gruppen wurde verringert, wobei diese aber stark schwankte. Im Eduardstift in Helenenberg bei Trier umfassten etwa 1967 die Gruppen 25 bis 35, 1969 im Agnesstift in Bonn nur 16 bis 23 Plätze.
Für diese unterschiedlichen Entwicklungen spielten nicht nur die ökonomischen Möglichkeiten – erst im Lauf der 1960er Jahre wurden in allen Bundesländern kostendeckende Pflegesätze gezahlt –, sondern auch die pädagogischen Konzepte der einzelnen Heime eine wichtige Rolle. So hielt das Erziehungsheim Birkeneck bei München, das sich in der Trägerschaft der Oberdeutschen Provinz der Herz-Jesu-Missionare befand, noch Mitte der 1960er Jahre entgegen der „gegenwärtigen pädagogischen Strömung“ unter anderem deshalb bewusst an Großgruppen mit 30 bis 40 Jungen fest, da gerade die hier bestehende „Gruppenhierarchie“ den „Anfänger“ zum „Ordnunghalten“ veranlasst. Dagegen betrug auf der Johannesburg die durchschnittliche Gruppenstärke 20 Jungen, wobei vermehrt Auflockerungen angestrebt wurden. Auch sonst hatte sich hier seit 1952 unter der Leitung eines vergleichsweise jungen Direktors ein dynamischer Aufbruch etwa mit der Errichtung eines „Heimparlaments“ sowie durch den Ausbau der Lehr- und Ausbildungsmöglichkeiten und der Außenfürsorge vollzogen. Angebote wie diese, so begrenzt sie insgesamt auch waren, sind ein wichtiger Grund dafür, dass es unter ehemaligen Heimkindern auch positive Erinnerungen an ihre Heimzeit gibt. Gleiches kommt zum Ausdruck, wenn sie unter den Mitarbeiter(inne)n der Einrichtung eine Bezugsperson fanden. An den konträren Beispielen wird auch deutlich, dass die katholischen Einrichtungen in unterschiedlichem Ausmaß an der Modernisierung partizipierten.
Ein entscheidender Faktor dafür war auch das Erziehungspersonal. Dabei lässt sich in der Zusammensetzung ein gravierender Umbruch beobachten, da die Zahl der aus einer Ordensgemeinschaft kommenden Kräfte – bei gleichzeitig wachsendem Bedarf – wegen des drastischen Nachwuchsmangels abnahm. So sank zwischen 1949 und 1975 der Anteil der Ordensangehörigen unter den hauptberuflichen Mitarbeiter(inne)n in den caritativen Heimen von fast 60 Prozent auf 25 Prozent. Letztlich litten gerade die ordensgebundenen Erzieher(innen) in vielen Heimen unter einer permanenten Überbelastung, da sie oftmals bei den Gruppen schliefen, also einen 24-Stunden-Dienst versahen. Weltliches Personal fand wegen der Unattraktivität des Berufsfeldes kaum den Weg in die Heime. Auch kam es immer wieder zu Problemen zwischen Ordens- und weltlichen Kräften, die auch in unterschiedlichen pädagogischen Vorstellungen ihre Ursache haben konnten.
Zudem bestand beim Großteil des Personals ein Qualifizierungsdefizit, das nur unzureichend durch Nachqualifizierung ausgeglichen wurde. Versuche der verstärkten Kompensation durch den Ausbau des Ausbildungswesens in Form von Heimerzieherschulen, Fachschulen oder Fachhochschulen liefen zwar Ende der 1950er Jahre an, doch reichten sie angesichts der schwierigen Gesamtsituation nicht aus. Allerdings fand seitdem eine differenzierende Professionalisierung des Erziehungspersonals statt, das so nun zunehmend auch durch Psycholog(inn)en ergänzt wurde.
Erst die 68er-Bewegung veränderte die Heimerziehung
Die langsam einsetzenden Reformen konnten nicht verhindern, dass die Heimerziehung – insbesondere die Fürsorgeerziehung – gerade von der jüngeren Pädagogen-Generation angesichts des drängenden Mentalitätswandels in den 1960er Jahren immer stärker als Auslaufmodell betrachtet wurde. Eingebunden in traditionelle gesellschaftliche und theologische Denk- und Verhaltensmuster, hielten die Erziehungsmethoden mit den dynamischen Veränderungsprozessen nicht Schritt. Vor allem die Heimkampagnen in den Jahren 1968/69, die von Angehörigen der Außerparlamentarischen Opposition ausgingen, führten dann zu umfassenden gesellschaftlichen Diskussionen und zu tiefgreifenden Reformen in den 1970er Jahren.
Auch vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass viele der 500.000 bis 600.000 Minderjährigen, die während der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte mit der konfessionellen Heimerziehung in Berührung kamen, das Heim als „totale Institution“ erlebten, die durch mangelnde Transparenz, autoritäre Abhängigkeitsverhältnisse, eingeschränkte Rechte sowie durch alltägliche Demütigungen bis hin zu Misshandlungen geprägt war. Die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände werden gut daran tun, sensibel mit der Aufarbeitung dieses schwierigen Kapitels ihrer Geschichte fortzufahren. Sie sollten auch den Blick auf andere Betreuungsbereiche weiten. Denn zum Beispiel sprechen die Berichte ehemaliger Bewohner(innen) von Behinderteneinrichtungen dafür, dass auch dort in der frühen Bundesrepublik teilweise katastrophale Zustände herrschten. Es wäre zu begrüßen, wenn die Einrichtungen dies zum Anlass nehmen würden, sich kritisch mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen.
Anmerkungen
1. Siehe zu Heimerziehung auch neue caritas Heft 15/2009, S. 23–25, Heft 9/2010, S. 18–20, Heft 8/2009, S. 20 f.
2. Damberg, Wilhelm; Frings, Bernhard; Jähnichen, Traugott; Kaminsky, Uwe (Hrsg.): Mutter Kirche – Vater Staat? Geschichte, Praxis und Debatten der konfessionellen Heimerziehung seit 1945. Münster, 2010.