Dem Stress Beine machen
„Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit Ihrem Wagen mit hoher Geschwindigkeit auf der Autobahn. Sie sehen gerade noch rechtzeitig das Ausfahrtschild und ordnen sich auf der Abbiegespur ein. Die Geschwindigkeit drosseln Sie erst kurz vor der Ausfahrt, gerade so viel, dass Sie die scharfe Kurve bewältigen. Hätten Sie nicht auf die Bremse getreten, wären Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der Kurve geflogen. Trotzdem spüren Sie eine Art inneren Widerwillen gegen die Verminderung der Geschwindigkeit. Es dauert eine Weile, bis Sie sich an die Entschleunigung gewöhnt haben.
In unserer globalisierten Arbeitsgesellschaft sind hohe Geschwindigkeiten, Beschleunigung und Spurenwechsel (Flexibilität) zu wichtigen Arbeitskonstanten geworden. Viele Führungskräfte und verantwortliche Mitarbeiter haben sich bereits so an das hohe Tempo gewöhnt, dass sie kaum noch abbremsen können. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie aus der Kurve fliegen, das heißt überstressen, ausbrennen, krank werden oder die übrigen Lebensbereiche vernachlässigen.“1
Das Bild des Fahrens mit hoher Geschwindigkeit von Kurt Richter beschreibt sehr eindrücklich die Situation von Fach- und Führungskräften: „Laufend unterwegs“ sind sie in ihrem beruflichen Alltag. „Laufend unterwegs“ ist darüber hinaus ein Synonym für die berufliche Belastung:2 Die Termindichte ist hoch und vielfältig sind die Aktivitäten, Vorhaben und Projekte im beruflichen Alltag, die ständig im Auge zu behalten und zu managen sind. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an Effizienz; die Ökonomisierung des Sozialbereiches schreitet unaufhaltsam voran. Die Krise der öffentlichen Haushalte erhöht den Handlungsdruck für die Verantwortlichen im sozialen Sektor.
Wie kann jede(r) Einzelne diese gesteigerten Anforderungen bewältigen und dennoch gesund und leistungsfähig bleiben – zufrieden in der je eigenen Arbeits- und Lebenssituation?
Der Seminartitel „Laufend unterwegs“ weist darauf hin, dass im Seminar auch gelaufen beziehungsweise „gewalkt“ wird – dies aber ohne jede Leistungsorientierung, sondern mit dem Ziel der Entspannung sowie der Verbesserung des körperlichen und auch seelischen Wohlbefindens.
Eine Idee läuft ihren Weg
Die Laufangebote sind kombiniert mit Einheiten der persönlichen Reflexion und Besinnung, mit angeleiteter Meditation, Entspannung und Beratung. Thematisch geht es um Impulse zum Stressmanagement beziehungsweise besser und umfassender: Selbstmanagement.
Entstanden ist die Idee zu diesem Seminar 2003 im Rahmen einer zweijährigen Management-Weiterbildung, in der sich die drei Autoren – damals noch in verteilten Rollen als Kursleitung und -teilnehmerin – begegnet sind. Kurseinheiten zu den Themen Konfliktmanagement und Psychohygiene waren Ausgangspunkt für die gemeinsame Überlegung, zum Thema Selbst- und Stressmanagement ein eigenes Seminar zu entwickeln, das Laufen als wesentliches Element zum Stressabbau integriert. Einbringen können die Autoren vielfältige Erfahrungen als Führungskräfte, (Marathon-)Läufer, Supervisoren, Coachs und Fortbildner wie auch eigene Praxis in Meditation und unterschiedlichen Entspannungsmethoden. Die erste Durchführung ließ sich dann im Frühjahr 2005 verwirklichen. Seither findet das Seminar jährlich statt und entwickelt sich kontinuierlich weiter.
Seminar mit „entschleunigter Tagesstruktur“
Alle Seminartage folgen der gleichen Struktur: Mit dem Laufangebot beginnt vor dem Frühstück der Tag. Ans Frühstück schließen sich kurze Impulse und Texte zur Besinnung an, die einstimmen auf die anschließende Stunde, in der die Teilnehmer(innen) sitzend und teilweise gehend gemeinsam meditieren. Nach der Mittagspause geht die Seminargruppe an die Arbeit mit Theorieimpulsen, die später individuell in Lernpartnerschaften fortgesetzt werden kann. Der Seminartag endet nach dem Abendessen mit einem Angebot zur Entspannung, wie zum Beispiel einer Fantasie- oder Klangreise. Allein schon die „entschleunigte Tagesstruktur“ ist für einzelne Teilnehmer(innen) immer wieder eine Herausforderung und zugleich ein erster Schritt in Richtung Achtsamkeit.
Bewegung und Ruhe im Wechselspiel
Dass körperliche Bewegung – insbesondere in Ausdauersportarten wie Laufen und Walking – Ausgleich schafft und dem Stressabbau dient, ist vielfach wissenschaftlich belegt. In diesem Sinn sollen die morgendlichen Lauf- oder Walking-Einheiten zum aktuellen Wohlbefinden beitragen. Darüber hinaus sind sie für etliche Teilnehmer(innen) die aktivierende Erinnerung an eine eigene frühere, im Lauf der Zeit vernachlässigte sportliche Betätigung und oftmals dann auch der Anstoß, diese im Alltag wiederaufzunehmen.
Mit kurzen Texten beziehungsweise Impulsen zur Besinnung wird die spirituelle Dimension, werden letztlich Fragen nach dem (Lebens-)Sinn angesprochen. Im Strudel des Alltags ist es vielfach gar nicht mehr möglich, sich zu besinnen und zu fragen, welche Ziele und Werte für das eigene Leben wirklich wichtig sind. Herausgehoben durch die Auszeit des Seminars, die diesem Nachsinnen Raum gibt, werden diese Fragen für viele Teilnehmer(innen) wieder bedeutsam.
Die gemeinsame Meditation bietet Zeit- und Freiraum, innezuhalten. Meditieren ist dabei mehr und anderes als gedankliche Reflexion. Im Meditieren entsteht ein inneres Gleichgewicht, eine Haltung der Gelassenheit und Achtsamkeit. Deutlich werden kann dies am Beispiel der Atemmeditation. Hier„folge ich meinem Atem“, das heißt ich nehme – ohne Wertung und Beeinflussung – wahr, wie ich atme, wie sich die Bauchdecke hebt und senkt, wie der Atem kommt und geht … Es entwickelt sich eine Haltung des Geschehenlassens, des Zulassen- und Loslassenkönnens.
Die abendlichen Entspannungseinheiten dienen – wie das morgendliche Laufen – zum einen dem aktuellen Wohlbefinden. Ziel ist zum anderen, dass die Teilnehmer(innen) eine erste Einführung in verschiedene Entspannungsmethoden erhalten. Sie erleben Übungen aus dem autogenen Training, der progressiven Muskelentspannung nach Jacobsen und weitere, und sie entwickeln vielleicht eine Idee, welche Methode Teil ihres Alltags werden könnte.
Echtes Selbstmanagement geht von der Sinnfrage aus
Thematisch abgerundet wird das Seminar durch Theorieimpulse zum Selbstmanagement. Viele Fortbildungsangebote zu diesem Thema beschäftigen sich – oft deutlich zu kurz gedacht – mit Techniken, die den eigenen Alltag noch besser, sprich: effizienter und „zeitsparender“, organisieren sollen. Letztlich dreht sich damit das System aber im (Teufels-)Kreis, weil sich die mühsam freigeschaufelten Zeitlücken nur allzu schnell mit neuen Aufgaben und Herausforderungen füllen. Im Ergebnis sind Arbeitsbelastung und -dichte sogar noch erhöht.
In einem tieferen Sinn geht es beim Selbstmanagement3 jedoch darum, die eigene Arbeits- und Lebenssituation mit Abstand zu betrachten und sie anhand von Sinnfragen, kleineren und größeren (Lebens-)Zielen und -Werten zu überdenken. Es gibt viele Möglichkeiten und Methoden, sich diesem Thema zu nähern. Das Seminar „Laufend unterwegs“ arbeitet – mit jährlich wechselnder Auswahl und Schwerpunktsetzung – unter anderem mit dem Antreiberkonzept aus der Transaktionsanalyse, dem Kompetenzentfaltungskreuz nach Heinrich Fallner, dem Werte- und Entwicklungsquadrat nach Friedemann Schulz von Thun, den Führungsdilemmata nach Oswald Neuberger und dem Riemann-Thomann-Modell.
Vorgestellt sei an dieser Stelle beispielhaft und kurz das Modell der Identitätspyramide, das einen sehr grundlegenden Zugang zu den Sinn- und Lebensthemen und -fragen eröffnet. Kurt F. Richter4 unterscheidet im Anschluss an Hilarion Petzold fünf sogenannte „Säulen der Identität“ als Grundlage des Selbst beziehungsweise als Ressourcen der individuellen Lebensgestaltung und -bewältigung: Leiblichkeit; soziale Netzwerke und Beziehungen; Werte, Sinn und Spiritualität; Arbeit und Leistung; materielle Sicherheit. Jede(r) Teilnehmer(in) kann in einer ersten persönlichen Situations- beziehungsweise Selbstanalyse die eigene Identitätspyramide gestalten und anschließend in Lernpartnerschaften oder Kleingruppen weiterführenden Fragen nachgehen, unter anderem: Wie zufrieden bin ich mit den einzelnen Säulen? Welche Säulen sind tragend? Welche Säulen sind (aktuell) sehr schmal, brüchig oder weisen Risse auf? Welche Säulen möchte ich gerne verändern? Was brauche ich, um diese Veränderung verwirklichen zu können?
Gelassenheit und Achtsamkeit als tragende Prinzipien
Ziel der Arbeit mit der Identitätspyramide wie auch des Seminars insgesamt ist es, (wieder) ein neues Gleichgewicht zu finden sowie eine Haltung der Gelassenheit und der Achtsamkeit zu entwickeln. „Gelassenheit ist ein lebendiges Mitschwingen mit den Widersprüchen des Lebens und gleichzeitig ein Ruhen in sich selbst. Gelassenheit ist eine Haltung dem Leben gegenüber, die es ermöglicht, in all der Komplexität seine Kräfte auf das zu konzentrieren, was einem bedeutsam und wichtig ist. Gelassenheit fliegt einem nicht zu. Sie bedarf harter Arbeit am Selbst. Und der beste Übungsraum ist der Alltag.“5 Das innere Gleichgewicht ist kein statischer Zustand, der sich – einmal gefunden – für den Rest des Lebens festhalten und konservieren lässt. Situations- und lebensphasenbezogen werden immer wieder Ungleichgewichte zwischen den Säulen der Identitätspyramide entstehen. Gelassenheit ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass es stets aufs Neue gelingen kann, die eigene innere Mitte und eine individuelle Balance zu finden.
Eng verbunden mit einer von Gelassenheit getragenen Lebensweise ist die Haltung der Achtsamkeit, die sich ebenfalls nicht einfach von selbst, sondern erst über kontinuierliche Übung – zum Beispiel in der Meditation – einstellt und erhält. Gleichwohl: Achtsamkeit ist keine Praxis, die sich exklusiv in speziellen Meditationsräumen und -zeiten vollzieht, vielmehr gilt es, sie im Alltag, in den alltäglichen Dingen wie Teetrinken, Abwaschen, Putzen etc. zu leben.6 Allzu oft sind wir während einer Tätigkeit gedanklich schon bei den nächsten und übernächsten Dingen, die auch noch zu erledigen sind. Achtsamkeit hingegen öffnet die Aufmerksamkeit für das Dasein im Hier und Jetzt; zugleich ist sie verbunden mit einer nicht wertenden Haltung. „Diese Art der Achtsamkeit ermöglicht einen inneren Abstand zu sich selbst, eine leidenschaftslose Selbstbeobachtung. Ich kann mich wahrnehmen, wie ich gerade fühle, denke, handele, ohne dass das Ich korrigierend eingreifen muss. Solche Übungen fördern die Gelassenheit, aktivieren Ressourcen und Selbstheilungskräfte.“7
Die Haltung der Achtsamkeit ist nicht beschränkt auf den Umgang mit der eigenen Person, sondern äußert sich im gleichen Maße in einer behutsamen und wohlwollenden Haltung gegenüber Mensch und Welt, wie sie sich nicht zuletzt in einem zugewandten Lächeln ausdrückt.
Eine durchaus anspruchsvolle Aufgabe ist es für die Teilnehmer(innen), ihre Übungen der Achtsamkeit im Anschluss an die Seminartage im Alltag fortzusetzen, was sich in unserer schnelllebigen Zeit alles andere als einfach darstellt. Insofern nutzen einige das Seminarangebot regelmäßig als jährliche Auszeit, um eine Haltung der Gelassenheit und Achtsamkeit (wieder) stärker im Alltag zu verankern.
Mehr Infos sind über die Bundesfachakademie/GFO – Region Süd (Schwäbisch Hall) und die Fortbildungs-Akademie des Deutschen Caritasverbandes (Freiburg) zu erhalten.
Anmerkungen
1. Richter, Kurt F.: Coaching als kreativer Prozess : Werkbuch für Coaching und Supervision mit Gestalt und System. Göttingen, 2009, S. 11.
2. Im Zuge von Ökonomisierung, Globalisierung und neuen Kommunikationstechniken hat sich unser Lebens- und Arbeitstempo in den letzten Jahren drastisch erhöht. Dass die damit verbundenen Belastungs- und Stressfaktoren maßgeblich an der Entstehung zahlreicher Erkrankungen beteiligt sind, wird inzwischen nicht nur in der Psychosomatik, sondern auch in weiten Kreisen der Schulmedizin anerkannt und problematisiert. Richter spricht in diesem Zusammenhang von sogenannten „Beschleunigungserkrankungen“. Vgl. Richter, Kurt F.: Kommt Zeit kommt Rat. In: Jahrbuch Kulturpädagogik der Akademie Remscheid. Remscheid, 2007, S. 86–98.
3. Dieter F. Hinze spricht in einem ähnlichen Zusammenhang von „Selbstführung“ und stellt sehr überzeugend dar, dass Selbstführung die Grundlage jeglicher Mitarbeiterführung ist: „Andere zu führen kann nur in dem Maße gelingen, in dem es gelingt, sich selber zu führen.“ Hinze, Dieter F.: Führungsprinzip Achtsamkeit : Der behutsame Weg zum Erfolg. Heidelberg, 2001, S. 11.
4. Vgl. zum Folgenden Richter, Kurt F.: Erzählweisen des Körpers : Kreative Gestaltarbeit in Theorie, Beratung, Supervision und Gruppenarbeit. Seelze-Velber, 3. Auflage, 2003, S. 42 ff.
5. Richter, 2009, S. 288.
6. „Wir können jede Tätigkeit unseres Lebens in Meditation verwandeln. Wenn Sie Ihre Teetasse aufnehmen, dann können Sie das achtsam tun. (…) Ihr Geist wandert dabei nicht in die Vergangenheit oder in die Zukunft, sondern er ist ganz und gar auf den Tee konzentriert, den Sie in diesem Moment trinken.“ Thich Nhat Hanh: Jeden Augenblick genießen : Übungen zur Achtsamkeit. Berlin, 2004, S. 20 f.
7. Richter, 2009, S. 322.