Sozialraumorientierung: vom Konzept zur Tat
Hilfe zur Selbsthilfe, Stärkung der Eigeninitiative, Aktivierung, Befähigung und die Förderung von gesellschaftlicher Teilhabe von Menschen in schwierigen Lebenssituationen und nicht zuletzt die Lebensweltorientierung sind zentrale Motive im Leitbild des Deutschen Caritasverbandes. Zugleich gehören diese Elemente zu den Prinzipien sozialraumorientierter Arbeit.
An diese Arbeitsprinzipien und Leitmotive der Caritas knüpft ein Projekt des Deutschen Caritasverbandes an, das im vergangenen Herbst startete und bis Ende 2011 angelegt ist. Unter dem Titel "Förderung der sozialräumlichen Arbeit" sollen im Wesentlichen folgende Ziele verfolgt werden:
Gute Beispiele sollen Schule machen
Da es in den Fachbereichen unterschiedliche Vorstellungen zu den Inhalten und Zielen sozialraumorientierter Arbeit gibt, soll eine innerverbandliche Verständigung über das Fachkonzept "Sozialraumorientierung" und die Notwendigkeit einer verstärkten Umsetzung stattfinden. In diesen Verständigungsprozess sollen die vielen Erfahrungen der Caritas im In- und Ausland einfließen, besonders die Ergebnisse der Projekte "Diakonie im Lebensraum" (2006-2009), "Community Organizing: den Sozialraum mittels Bürgerplattformen von unten organisieren" (2005-2008) sowie die Erkenntnisse aus der Arbeit von Caritas international, insbesondere aus der Katastrophenhilfe. Hier sind die Prinzipien des sozialräumlichen Ansatzes bereits fest verankert. Darüber hinaus sollen auch die Beispiele jener Orts-Caritasverbände einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, die sich mit intensiver Vernetzung, Ressourcenorientierung, mit zielgruppen- und bereichsübergreifenden Ansätzen und der Integration von Diensten und Einrichtungen gezielt auf den Weg der Sozialraumorientierung gemacht haben. Derartige Prozesse sollen vermehrt und gestärkt werden.
Das Projekt "Förderung der sozialräumlichen Arbeit" will dafür sensibilisieren, dass alle diese Elemente Teil eines Fachkonzepts sind, das verschiedene methodische Prinzipien zusammenführt.
Profis schaffen die Rahmenbedingungen
Es geht der sozialraumorientierten Arbeit im Kern um eine andere Sicht auf diejenigen, an die sich die soziale Arbeit richtet. Ausgangspunkt sind die Interessen, Sichtweisen und der Wille der Menschen, die in einem Quartier leben. Es geht nicht um Bedürfnislagen und Interventionsformen, die von anderen Personen festgelegt werden. Die professionelle Sozialarbeit hat lediglich die Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Betroffenen in einem Quartier ihren Willen artikulieren können. Sie sollen dazu befähigt werden, ihre Lebensverhältnisse aktiv und selbstbestimmt zu gestalten.
Die Verbände, die sozialraumorientierte Ansätze verstärkt umsetzen wollen, können in den Sozialräumen auf die materiellen und personalen Ressourcen der Caritas und ihrer Kirche setzen. Sie können auf die Gebäude und Strukturen der Pfarrgemeinden und der pastoralen Räume zurückgreifen, aber vor allem auf die Menschen zählen, die zu diesen Gemeinden gehören oder in ihrem Umfeld leben - Potenziale, die vielerorts (noch) nicht hinreichend erkannt sind! In die Richtung gegenseitiger Stärkung in Zeiten des Umbruchs weist auch das von der Kommission Caritasprofil der Delegiertenversammlung ausgearbeitete und 2008 vom Deutschen Caritasverband verabschiedete Impulspapier "Rolle und Beitrag der verbandlichen Caritas in den pastoralen Räumen".
Caritas tritt ein für mehr Solidarität
Wenn nun die Caritas gemeinsam mit ihrer Kirche und den Menschen in den Sozialräumen Diakonie im Lebensraum mit Leben füllt, kann sie bei einer gleichzeitigen Umsetzung des Fachkonzepts Sozialraumorientierung noch weitergehen: Sie ist Teil der Zivilgesellschaft und kann so die Notstände in den Sozialräumen benennen und versuchen, diesen Nöten durch Empowerment und Aktivierung der Bewohnerschaft zu begegnen. Sie wird dabei nicht allein auf professionelle Fachdienste und Einrichtungen setzen, die fertige Angebote und individuelle Fallarbeit vorhalten und die durch gesetzliche Vorgaben und Ansprüche bestimmten Refinanzierungsmodalitäten entsprechen.
Viel eher wird sie sich unter die Leute mischen und sie fragen, wo "der Schuh drückt" und was man verändern könnte. Sie wird besonders zu denen gehen, die sonst kaum Gehör im Gemeinwesen finden, die isoliert, segregiert und/oder in prekären Verhältnissen leben. Sie wird diese Menschen darin stärken, ihre Interessen und Bedürfnisse zu artikulieren und sich selbst für deren Erfüllung einzusetzen.
Alte Strukturen stehen auf dem Prüfstand
Wird dieser Ansatz konsequent verfolgt, dürfte dies nicht folgenlos für das Selbstverständnis, die Strategien und Strukturen der Caritas bleiben. Nicht nur die Dienste und Einrichtungen werden sich verändern. Die gesamte Rolle des Verbandes im Sozialraum und in der Kommune kann sich mit diesem Perspektivwechsel verschieben: Getreu dem Subsidiaritätsprinzip und der etablierten Rolle der freien Wohlfahrtspflege sind Caritasverbände und die Fachverbände Träger sozialstaatlich finanzierter Maßnahmen. Somit sind sie Empfänger öffentlicher Gelder. Doch in ihrer aktivierenden Funktion können diese Verbände nun die Ruhe stören. Sie können die Strukturen durchkreuzen und gar etablierte Machtverhältnisse hinterfragen, wenn sie sich dafür stark machen, dass die Hilfeempfänger über die Art und Form der Hilfe (mit-)bestimmen. Als überwiegend aus kirchlichen und öffentlichen Zuschüssen refinanzierte Träger von oft nach Fallzahlen bemessenen Angebotsstrukturen müssen die Verbände die Spannung aushalten, dass der Wille der Menschen vor Ort nicht immer dem Willen der Caritas als Dienstleisterin entsprechen muss.
Das Projekt "Förderung der sozialräumlichen Arbeit" möchte mit Eckpunkten und über eine Aktivierung der Gliederungen Chancen und Risiken für die verbandliche Caritas ausloten. Dabei soll die sozialräumliche Arbeit und zugleich die Zusammenarbeit der Caritas der Hauptamtlichen mit den Pfarrgemeinden und pastoralen Räumen ausgebaut werden.
Eine Plattform für den Erfahrungsaustausch
Im Sinne einer Erprobung und Identifizierung von guter Praxis wird das Projekt denjenigen Verbänden über die Schulter schauen, die sich mit dem Konzept bereits auf den Weg gemacht haben. Wenn das Projekt des Deutschen Caritasverbandes zwar nicht selbst Modellprojekte initiieren und materiell fördern kann, so will es mit Workshops und Fachveranstaltungen allen Interessierten eine Plattform für einen bundesweiten Erfahrungsaustausch und Wissenstransfer bieten.
Das Projekt ist personell in der Abteilung Soziales und Gesundheit des Deutschen Caritasverbandes angesiedelt und mit der Zuständigkeit für das Bund-Länder-Programm "Soziale Stadt" verbunden. Dieses bietet den Trägern in enger Kooperation mit der Kommune die Möglichkeit, im Rahmen der sozialen Stadtentwicklung sozialräumliche Ansätze in ihrer Angebotsstruktur auf- und auszubauen.
Ansprechpartnerin für das Projekt und das Programm "Soziale Stadt" ist Karin Vorhoff, Deutscher Caritasverband, Arbeitsfeld Sozialräumliche Arbeit, Tel. 0761/ 200-197.