Eltern mit behinderten Kindern nicht alleinlassen
Der Bundesgerichtshof (BGH) stellt in seinem Urteil vom 6. Juli 2010 die Vereinbarkeit einer bestimmten Methode der Präimplantationsdiagnostik (PID) mit dem Embryonenschutzgesetz (ESchG) fest. Ein Berliner Arzt hatte auf Wunsch von sogenannten Hochrisikopaaren Embryonen daraufhin getestet, ob sie schwere genetische Schäden aufweisen. Diejenigen mit negativem Befund wurden übertragen, die mit positivem Befund, also genetisch geschädigte, aussortiert. Die meisten Patientinnen des Arztes hatten, bevor die PID angewendet wurde, Fehlgeburten erlitten oder eine Schwangerschaft aufgrund genetischer Anomalien des Fetus abgebrochen. Eine Patientin hat bereits eine schwerstbehinderte Tochter. Seit August liegt nun das höchstrichterliche Urteil in Textform der Öffentlichkeit vor. In erster Linie wollte der BGH klären, ob die vom Arzt ausgeführte PID durch § 1 Abs. 1 Nr. 2 und § 2 Abs. 1 ESchG strafbar ist. Die Richter kamen zu folgendem Ergebnis:
(1) Um eine Schwangerschaft herbeizuführen, ist die künstliche Befruchtung einer Eizelle erlaubt, auch wenn vor der Zeugung die Absicht besteht, im Falle eines positiven Befundes den Embryo nicht in die Gebärmutter einzupflanzen.
(2) Die Auslese von Embryonen mit positivem Befund ist keine Instrumentalisierung derselben, solange in der PID nicht Embryonen, sondern Zellen verbraucht werden, die nicht fähig sind, sich zu einem kompletten Individuum zu entwickeln.
(3) Die PID sollte darauf beschränkt sein, schwerwiegende genetische Krankheiten und Behinderungen zu erkennen.
Weder gebilligt noch abgelehnt
Tatsächlich wird in dem 20 Jahre alten ESchG die damals gerade erst im Ausland entwickelte PID weder ausdrücklich gebilligt noch abgelehnt. Dennoch waren sich Befürworter wie Gegner der PID bislang mehrheitlich darüber einig, dass „die PID nicht mit dem deutschen Embryonenschutzgesetz vereinbar“1 ist. Daher forderte beispielsweise die Mehrheit der damaligen Enquete-Kommission des Bundes- tages „Recht und Ethik der modernen Medizin“ unter Berufung auf § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG ein explizites Verbot der PID. Heute, acht Jahre später, wünschen auch die BGH-Richter „eine eindeutige gesetzliche Regelung der Materie“2. Allerdings haben sie aus mehreren Wertentscheidungen des Gesetzgebers eine begrenzte Erlaubnis der PID abgeleitet: So wird in § 3 Satz 2 ESchG die Selektion von Spermien vor der Erzeugung von Embryonen erlaubt, um diese vor schweren geschlechtsgebundenen Erbkrankheiten zu bewahren. Zudem kann gemäß § 218a Abs. 2 Strafgesetzbuch im Rahmen der medizinisch-sozialen Indikation die Schwangerschaft abgebrochen werden. Dem BGH zufolge regelt der Gesetzgeber in diesen zwei Bereichen eine mit der PID gleich gelagerte Konfliktsituation. Der Konflikt bestehe darin, dass dem Paar mit Kinderwunsch nicht zugemutet werden kann, dass hier „sehenden Auges das hohe Risiko eingegangen [wird], dass ein nicht lebensfähiges oder schwerkrankes Kind geboren wird“3. Der Gesetzgeber würde sich in Wertungswidersprüche verwickeln, verböte er die PID bei gleichzeitiger Zulassung anderer vorgeburtlicher Regelungen. Hätte die Diagnosemethode beim Erlassen des ESchG zur Verfügung gestanden, so hätte der Gesetzgeber die PID zugelassen – so das Fazit des BGH.
Präimplantationsdiagnostik ist ethisch unzulässig
Der Deutsche Caritasverband hält die PID für unvereinbar mit der Unantastbarkeit und Unteilbarkeit der Menschenwürde und der darin begründeten Schutzwürdigkeit des menschlichen Embryos. Alle Arten der PID schließen letzten Endes das Töten menschlicher Embryonen mit ein. Daher sind sie zumindest ethisch unzulässig. Die Caritas setzt sich für ein klares Verbot der PID ein. Rechtlich ist es allerdings umstritten, ob dem menschlichen Embryo von Anfang an eine Schutzwürdigkeit zukommt. In diesem Fall sollte aus verfassungsrechtlicher Sicht der Gesetzgeber, also der Bundestag, diese grundrechtsrelevanten Fragen regeln. Es ist befremdlich, wenn der BGH in seiner PID-Rechtsprechung die zentrale Frage des Status des Embryos nicht problematisiert und dennoch implizit einseitig gewichtet. So spricht das Gericht ausschließlich vom menschlichen Embryo als Gefahr und Risiko, ohne auf dessen Schutzwürdigkeit einzugehen. Ferner beschreiben die Strafrichter irrtümlich die Selektion von Spermien und die von Embryonen als eine gleich gelagerte Konfliktsituation. Selbst Befürworter der PID gehen im Unterschied zu Spermien von einer (wenn auch abgestuften) Schutzwürdigkeit menschlicher Embryonen aus. Ebenfalls fragwürdig ist die zweite Behauptung eines Wertungswiderspruchs der Richter: Die Selektion eines Embryos vor der Implantation in den Uterus der Frau ist von der Situation einer Schwangerschaft grundlegend zu unterscheiden. So stellt die ehemalige Enquete-Kommission fest: „Die Schwangerschaft ist die intensivste körpergebundene und soziale Beziehung der Frau als werdender Mutter mit dem in ihrem Körper wachsenden Kind.“4 Im Gegensatz dazu werde bei der PID „nicht auf einen bestehenden Konflikt reagiert, sondern der Konflikt bewusst einkalkuliert und die Konfliktsituation durch die In-vitro-Fertilisation erst herbeigeführt“5.
Ein unzumutbares Risiko für Paare
Mit einem schwerkranken oder -behinderten Kind schwanger zu sein stellt laut BGH ein unzumutbares Risiko für Paare dar. In Zukunft liegt es an ihnen, ob sie mit Hilfe der PID Kinder mit Behinderung vermeiden wollen. Der Wunsch der Eltern nach einem möglichst gesunden Kind ist verständlich. Zudem schmeichelt das Urteil einer auf die individuellen Freiheitsrechte bedachten Gesellschaft. Ferner ist uns die Vorstellung eines extrakorporalen Embryos fremd. In der modernen Technologie erscheint uns der Embryo gänzlich anonymisiert und verobjektiviert. „Wie gehen wir mit diesen Empfindungen um?“, fragt Pastor Bernward Wolf und gibt folgende Antwort: „Wir können sie nur nüchtern wahrnehmen, als Empfindungen zulassen und dann in Verantwortung handeln, indem wir uns an unserem christlichen Menschenverständnis orientieren, wonach jedes menschliche Leben Gabe Gottes ist, über das wir nicht verfügen können, sondern dem wir nur Lebensmöglichkeiten eröffnen und das wir dabei unterstützen können, seinen individuellen, einzigartigen ‚Weg‘ zu gehen.“6 Gerade deshalb muss immer wieder in Erinnerung gerufen werden, dass im BGH-Urteil Menschen mit Behinderung als mittels PID legitim zu vermeidendes Risiko angesehen werden, über deren Lebenswert letztlich entschieden wird.
Angst vor einem Kind mit Behinderung weit verbreitet
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) befragte Schwangere über ihre Einstellung zu einem Leben mit einem Kind mit Behinderungen.7 Über die Hälfte der Frauen stimmten der Aussage zu: „Ich habe Angst davor, dass mein Kind behindert sein könnte“8. Für 85 Prozent der Befragten bedeutet ein behindertes Kind eine große zeitliche und für 74 Prozent eine große finanzielle Belastung. Ein Kind mit Behinderung würden 68 Prozent der Verwandten, 66 Prozent der Freunde und 61 Prozent der Partner akzeptieren. Jede dritte Frau gibt an, eine Behinderung ihres Kindes nicht akzeptieren zu können. Laut Studie ist dies ein sehr hoher Anteil, da die von der Gesellschaft erwünschte Antwort die Akzeptanz des Kindes ist. Außerdem besteht bei schwangeren Frauen bereits eine Fürsorgebeziehung zu dem in ihr wachsenden Embryo. Die Studie zeigt vor allem, dass Frauen bei einem positiven Befund oft psychisch überfordert sind. Zwar sind sie im Bilde über die medizinischen Möglichkeiten, jedoch fühlen sie sich in ihrer Entscheidungsfindung alleingelassen. Einige bekommen den „gut gemeinten“ Ratschlag zu hören oder denken selber: „So ein Kind ist doch ein Leben lang ein Klotz am Bein und außerdem für uns alle teuer. Da kann man doch eine Lösung finden.“ Schon jetzt stellen chronisch kranke und behinderte Kinder ein zusätzliches Armutsrisiko für Frauen dar und können deren Berufschancen verschlechtern.
Das Leben nicht ausgrenzen
Ist das Risiko, ein Kind mit Behinderung zu bekommen, für die Eltern zumutbar? Im Gegensatz zum BGH-Urteil will die Caritas das Leben nicht ausgrenzen. Ihr Anliegen ist es, Familien und Frauen nicht alleinzulassen, deren Entscheidung nicht zu privatisieren und gegen diskriminierende Tendenzen gegenüber Menschen mit Behinderung vorzugehen. Es ist zu befürchten, dass durch das erlaubte Vermeiden, Kinder mit Behinderung zur Welt zu bringen, der gesellschaftliche Erwartungs- und Perfektionsdruck auf Paare zunehmen wird. Schon jetzt sehen sich Paare im Falle der Geburt eines behinderten Kindes mit latenten bis offenen Schuldzuweisungen konfrontiert. Zudem hat die Erfahrung mit der Pränataldiagnostik gezeigt, dass „individuelle Entscheidungen internalisierte gesellschaftliche ‚Lebenswertzuschreibungen‘ ausdrücken können oder sogar unter direktem Druck des sozialen Umfeldes zustande kommen“9. Das BGH-Urteil bestärkt dies und setzt Paare und Eltern einem verstärkten sozialen Druck aus.
Es liegt nahe, dass ein Verfahren zur Aussonderung genetisch geschädigter Embryonen stigmatisierende und diskriminierende Tendenzen in der Gesellschaft fördert. Kritiker befürchten, „dass es im Zuge dieser gesellschaftlichen Werteveränderung zur gesellschaftlichen Durchsetzung einer zunehmenden Diskriminierung und Entsolidarisierung von Menschen mit Behinderungen und deren Familien kommt“10. In der Regel ist eine autonome Entscheidung individuell zu verantworten. Zwischen Privatisierung und Entsolidarisierung ist nur ein kleiner Schritt.
Die PID stellt uns vor die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und wie wir das Leben von Menschen sehen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Die gegenwärtig erfreulich hohe gesellschaftliche Solidarität mit Menschen mit Behinderung könnte sich unter den Gesichtspunkten der Kostenexplosion im Gesundheits- und Pflegebereich und immer härterer Verteilungskämpfe schnell als brüchig erweisen. Die Caritas widmet ihre Jahreskampagne 2011 Menschen mit Behinderung. Dies bietet die große Chance, die positive Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft zu stärken und auf deren Recht zur selbstbestimmten Teilhabe hinzuweisen. Das Zusammenleben mit schwerkranken oder -behinderten Menschen darf für Familien nicht länger ein Armutsrisiko sein und für die Betroffenen berufliche Nachteile bringen.
Das Urteil des BGH privatisiert den Konflikt um die Frage nach der Zumutbarkeit von Menschen mit Behinderung, statt ihn solidarisch anzugehen. Schlussendlich sind wir alle herausgefordert, uns ein eigenes Urteil zu bilden, wie wir das Leben anderer und unser eigenes Leben verstehen.
Anmerkungen
1. Schlussbericht der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, Deutscher Bundestag, Drucksache 14/9020, 14. Mai 2002, S. 104.
2. BGH Urteil vom 6. Juli 2010, 5 StR 386/09 LG Berlin, S. 14.
3. Ebd., S. 112.
4. Schlussbericht der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, S. 112.
5. Ebd., S. 102.
6. Wolf, Bernward: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?!, in: Cantow, Jan/Grüber, Katrin (Hrsg.): Eine Welt ohne Behinderung – Vision oder Alptraum?, 2009, S. 106.
7. BZgA: Schwangerschaftserleben und Pränataldiagnostik. Repräsentative Befragung Schwangerer zum Thema Pränataldiagnostik, 2006.
8. Ebd., S. 43.
9. Vgl. Schlussbericht der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, Deutscher Bundestag, Drucksache 14/9020, 14. Mai 2002, S. 100.
10. Ebd., S. 100f.