Die Patienten verlieren ihre Angst
Das Aussergewöhnliche an der Station Silvia am Malteser Krankenhaus St. Hildegardis in Köln ist das Konzept einer Demenzstation im Akutkrankenhaus. In Deutschland ist dies wenig verbreitet. Im gesamten Bundesgebiet existieren nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie weniger als zehn derartige Einrichtungen. Im Gegensatz dazu gibt es in psychiatrischen Kliniken, aber auch in Altenhilfeeinrichtungen bereits seit längerer Zeit Stationen für demenziell erkrankte Menschen.
Demente Menschen leiden sehr häufig unter einem Krankenhausaufenthalt: Weil sie sich nur sehr schwer oder gar nicht mehr auf eine neue Umgebung einstellen können, werden sie durch die ungewohnten Bedingungen, Abläufe und fremden Personen irritiert und verlieren rasch ihre Sicherheit. Die Patient(inn)en reagieren mit Verwirrtheit, Unruhe, Aggressivität – Stürze sind mögliche Folgen.
Demente Patient(inn)en mit einer körperlichen Erkrankung, die in einem Akutkrankenhaus behandelt werden, müssen oft mit Psychopharmaka ruhiggestellt oder in die Gerontopsychiatrie verlegt werden. Dabei zeigt sich, dass das Milieu in der Akutklinik mit seinen festgefahrenen Strukturen und Prozessen für den dementen Menschen schädlich ist. Die Patient(inn)en, die eigentlich wegen einer völlig anderen Erkrankung in die Klinik gekommen sind, werden durch Komplikationen, die sich aus der Demenz ergeben, noch kränker. Der Krankheitsverlauf wird ungünstig beeinflusst und der Klinikaufenthalt dauert länger.
Station Silvia versucht, es anders zu machen: Dort will man ein günstiges Klima schaffen und die Organisation an die Bedürfnisse der Patient(inn)en anpassen. Die körperlich erkrankten dementen Menschen werden in einer geschützten Umgebung ganzheitlich und berufsgruppenübergreifend versorgt.
Auf Station Silvia werden akut erkrankte Patient(inn)en (meist internistisch oder chirurgisch) behandelt, die unter einer Demenz als Begleiterkrankung leiden. Es werden dort überwiegend Patient(inn)en mit leichter bis mittelschwerer Demenz versorgt, bei denen häufig noch ein rehabilitatives Potenzial besteht. Dagegen gehen wir davon aus, dass Menschen mit schwerer Demenz oder länger anhaltender Immobilität weniger von diesem Ansatz profitieren.
Das Team der Station arbeitet in Anlehnung an das schwedische „Silviahemmet“-Konzept, das auf einem palliativen Ansatz für alle Berufsgruppen beruht. Wesentliche Elemente sind:
- Symptomkontrolle,
- Kommunikation und Beziehung,
- Teamarbeit,
- Angehörigenarbeit.
Die Umsetzung dieses Konzeptes gelingt nur durch eine konsequente und regelmäßige Schulung aller haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden und muss außer der Pflege, dem ärztlichen Dienst und den Therapeut(inn)en auch alle anderen am dementen Patienten tätigen Berufsgruppen (zum Beispiel Fahrdienst, Funktionsdienste) umfassen.
Konkret wurde auf Station Silvia eine geeignete Raumgestaltung umgesetzt mit Ess-/Wohnzimmer, Gästezimmer, vier großzügig ausgestatteten Zweibettzimmern, geschützter Lage sowie einem Farb- und Lichtkonzept, das auf großer Helligkeit der Räume (Lichtquellen mit mehr als 600 Lux) und starkem Rot- sowie Gelbanteil beruht. Man hat nämlich die Erfahrung gemacht, dass Demenzkranke diese Farben besser erkennen können als beispielsweise Blau- und Grüntöne. Auch leiden die meist älteren dementen Menschen häufig gleichzeitig unter einer verminderten Sehfähigkeit.
Selbstverständlich sind die Patientenzimmer barrierefrei. Die Betten sind im Unterschied zur sonstigen Anordnung eines Krankenzimmers längs der Wand angeordnet, so dass auch auf diese Weise Geborgenheit und Sicherheit vermittelt und die Sturzgefahr verringert wird. Als technisches Hilfsmittel verfügt die Station über Sensormatten für sturzgefährdete Patient(inn)en. Stehen sie auf, wird sofort das Pflegepersonal über die Rufanlage alarmiert.
Auf rechtlich problematische Überwachung wird verzichtet
Weitere technische Sicherungen sind nach den bisherigen Erfahrungen nicht notwendig. So konnte beispielsweise auf rechtlich schwierige Technik wie Videoüberwachung oder kodierte Türen komplett verzichtet werden. Offenbar wirkt sich an dieser Stelle die Zuwendungsorientierung stark hemmend auf mögliche Fluchttendenzen aus. Außerdem sind die Türen der am Flurende gelegenen Station sozusagen „getarnt“, indem sie in Wandfarbe gehalten sind (Tür aus Milchglas).
Personell sind die acht Behandlungsplätze an das Behandlungsteam der Geriatrie angebunden. Zusätzlich verfügt die Station Silvia über zwei eigene Alltagsbegleiter(innen). Auch die Wochenenden sind durch sie abgedeckt.
Die Alltagsbegleiter(innen) haben wie das übrige auf dieser Station eingesetzte Personal zumindest eine Basisschulung in vier Modulen in der palliativen Pflegephilosophie nach dem Silviahemmet-Prinzip absolviert. Zusätzlich findet eine fünfwöchige Ausbildung als Alltagsbegleiter(in) für Demenz statt.
Die Patient(inn)en, die auf Station Silvia meist wegen einer internistisch-geriatrischen oder chirurgischen Akuterkrankung behandelt werden, haben neben der ärztlichen Diagnostik und Therapie einen strukturierten Tages- und Wochenplan mit gemeinsamen Mahlzeiten (angepasste Zeiten), Gruppen- und Einzeltherapien, Freizeitaktivitäten oder Spaziergängen. Besonders die Aktivitäten am Nachmittag wechseln im Lauf der Woche ab und umfassen unter anderem Musik, gemeinsames Singen, Spiele, einen Lesezirkel, gemeinsames Kochen und Backen. Ein großer Anteil der Patient(inn)en auf Station Silvia erhält eine sogenannte geriatrische Komplexbehandlung mit wenigstens 20 Einzeltherapien. Auf diese Weise wird bei einem Anteil von mehr als 30 Prozent der auf Station Silvia behandelten Patient(inn)en bei der Abrechnung eine höherwertige DRG angesteuert (Fallpauschale, die einen höheren Erlös einbringt) als dies ohne die Komplexbehandlung möglich wäre. Dies ist wichtig, weil es momentan für die Diagnose Demenz allein – auch bei schwersten Fällen – keinen Zuschlag gibt und die Gefahr besteht, dass die umfassende Behandlung nicht kostendeckend angewandt werden kann.
Eine Evaluation der Behandlungsergebnisse auf Station Silvia hat gerade begonnen. Es zeichnen sich bereits zum heutigen Zeitpunkt, nach den ersten drei Monaten einer zunächst über sechs Monate laufenden Studie, erste positive Effekte ab im Vergleich zu den anderen Stationen, auf denen demenzkranke Patienten behandelt werden:
- weniger Unruhe und Aggressivität,
- geringerer Einsatz von Neuroleptika und Sedativa,
- verringerte Sturzrate,
- geringe Weglauftendenz,
- Vermeidung des Drehtüreffektes,
- hohe Zufriedenheit der Patient(inn)en,
- hohe Zufriedenheit der Angehörigen.
Detaillierte Ergebnisse sind erst nach Abschluss der Evaluation gegen Ende dieses Jahres zu erwarten.
Die Mitarbeiter sind zufriedener
Die positiven Effekte der neuen Station beschränken sich nicht nur auf die Patient(inn)en und Angehörigen. Die Mitarbeiterzufriedenheit ist hoch, weil die günstigen Auswirkungen der Silviahemmet-Philosophie unmittelbar sichtbar sind. Die Zusammenarbeit der medizinischen Fachabteilungen des Krankenhauses wird gestärkt, da einige Patient(inn)en auf dieser Station interdisziplinär behandelt werden (zum Beispiel chirurgisch-geriatrisch).
Bereits heute ist erkennbar, dass die Abteilung Akutgeriatrie und Tagesklinik, die derzeit zum Zentrum für Altersmedizin ausgebaut wird, deutlich von Station Silvia profitiert. Medieninteresse und Öffentlichkeitswirkung der Eröffnung waren so hoch, dass der Bekanntheitsgrad der Geriatrie gestiegen ist. Es ist anzunehmen, dass die Nachfrage nach geriatrischen Leistungen und auch die Fallzahl davon nachhaltig gestärkt werden. Zwar war vorübergehend eine Verschiebung des Fallspektrums der Geriatrie hin zu Demenzkranken zu beobachten, die aber wieder zurückgegangen ist. Die Aufmerksamkeit der Medien wirkte sich auch positiv auf das gesamte Krankenhaus aus.
Für die Zukunft sind eine noch umfassendere Mitarbeiter- und Angehörigen-Schulung, ein Ausbau der haupt- und ehrenamtlichen Alltagsbegleitung und ein verbessertes Patientenscreening zur Aufnahme auf die Demenzstation geplant.