Lieber länger zu Hause? Die Technik macht´s möglich
Hilfebedürftig im Alter oder durch Behinderung: Wie viel Eigenständigkeit muss ich aufgeben? Inwieweit muss ich mich anpassen an die Möglichkeiten meiner Helfer(innen), seien es meine Kinder, mein Pflegedienst, mein Heim? Wer hilft mir, wenn ich keine Angehörigen in meiner Nähe habe?
Zum aktiven Altern sollte es gehören, früh nach Möglichkeiten zu suchen, im Alter selbstbestimmt leben zu können – beispielsweise auch mit Hilfe der Technik. Vieles ist inzwischen möglich an technischer Unterstützung. Forschung, Industrie, Gebäudemanagement befassen sich damit. Im schottischen Landkreis West Lothian1 hat man dazu positive Erfahrungen gemacht: Seit dem Jahr 2002 wurden dort mit technischer Unterstützung herausragende Fortschritte hinsichtlich Lebensqualität und Versorgung alter und behinderter Menschen erzielt und zugleich Sozial- und Gesundheitskosten spürbar gesenkt. Die Unterstützung basiert darauf, gezielt Hilfemix-Netzwerke in der Gemeinde zu entwickeln und eine unkomplizierte Technik individuell auf den Bedarf und die Lebensgewohnheiten des einzelnen Menschen zuzuschneiden. Die Universität Sterling hat von 2002 bis 2005 die Entwicklung in West Lothian begleitet.2 Wesentliche Ergebnisse der „Assistenztechnologie in der eigenen Häuslichkeit“3 sind laut David Kelly:
- Eine große Gruppe der zu Hause lebenden befragten Personen sowie ihrer pflegenden Angehörigen berichteten von einem positiven Einfluss der Technik auf die Lebenssituation. Dabei wurden vor allem die verbesserte Sicherheit und Gefahrenabwehr angeführt.
- Viele der Befragten gaben nur ungern zu, auf Hilfe angewiesen zu sein. Durch assistive Technik wird die Unabhängigkeit der Menschen betont und der Stigmatisierung entgegengewirkt.
- Nicht nur die assistenzbedürftigen älteren und behinderten Menschen werden unterstützt, sondern auch informelle Hilfspersonen wie Familienangehörige, Nachbarn und professionelle Dienste. Darüber hinaus befördern assistive Technologien das soziale Netzwerk dadurch, dass sich der Verbleib in bestehenden sozialen Bezügen verlängert.
Automatische Sturzmelder sichern schnelle Hilfe
Die technisch unterstützten Wohnangebote hatten eine Reihe konkreter Verbesserungen zur Folge. Beispielsweise wurde mittels Sensortechnologie (automatischer Sturzmelder) sichergestellt, dass durchschnittlich maximal nur 20 Minuten bis zum Eintreffen eines Unfallwagens vergehen, während der Wert schottlandweit bei vier Stunden liegt.
Durch die technisch unterstützte Verlängerung der Verweildauer hilfebedürftiger Personen in ihren eigenen vier Wänden konnten die stationären Pflegeeinrichtungen ebenfalls deutlich entlastet werden. So verkürzten sich die Wartelisten für Pflegeheime erheblich. Dadurch verringerte sich auch die Wartezeit von alten Menschen, die aus dem Krankenhaus ins Pflegeheim verlegt werden sollten. Mussten die Patient(inn)en im April 2004 durchschnittlich 68 Tage auf einen Platz im Pflegeheim warten, waren es im April 2007 nur noch neun Tage. Im Zuge der durch die Technik gewährleisteten schnellen Krisenintervention konnten zudem jährlich 3200 Krankenhaustage eingespart werden.
Technische Unterstützung ersetzt keine menschliche Zuwendung. Sie kann sie aber ergänzen und die persönliche Sicherheit erhöhen, besonders für allein lebende Menschen mit Demenz, wenn sie häufige Risiken erfasst und gezielt eine geeignete Antwort einleitet. Für den Einsatz unterstützender Technik sind Situationen geeignet, die im Alltag häufiger vorkommen, rasche Hilfe erfordern und bei denen das Ausbleiben früher Hilfe die betroffenen Menschen erheblich gefährdet.
Notwendig sind einfache Meldesysteme, die sich an die individuellen Lebensgewohnheiten anpassen lassen und deren Meldungen an einer Stelle auflaufen, die rund um die Uhr verlässlich für schnelle sachgerechte Hilfe sorgt. Dafür muss diese Stelle wie ein Callcenter ausgestattet sein, mit den vorhandenen Netzwerkstrukturen zusammenarbeiten und für eine genügend große Einheit (einen Kreis oder eine kreisfreie Stadt) zuständig sein. Idealerweise ist sie ein Teil der kommunalen Daseinsvorsorge, die grundsätzlich allen Bürger(inne)n ab einem bestimmten Lebensalter angeboten wird. Geeignete Risiken und erzielbarer Nutzen sind zum Beispiel:
- Sturz – erfasst über Sturzdetektoren oder Bewegungsmelder mit dem Ziel schneller Diagnose und Therapie – weniger Komplikationen – weniger und kürzere Krankenhausliegezeiten – Erhalt der Mobilität und Selbstständigkeit;4
- Herd wird nicht ausgeschaltet – erfasst über Hitzedetektor mit dem Ziel, ans Ausschalten zu erinnern oder bei Brandgefahr rasche Hilfe zu schicken;
- Feuer, etwa durch brennende Zigarette – erfasst über Rauchmelder mit dem Ziel, die Gefahrensituation rasch einzuschätzen – schneller Feuerwehreinsatz;
- Wasserhahn wird nicht zugedreht oder Abfluss ist verstopft – erfasst über Wasserdetektoren in Küche und Bad/Toilette mit dem Ziel rascher Hilfe, um Sturzgefahr durch Nässe zu minimieren und Gebäudeschaden abzuwenden;
- Verbleiben im Bett bei akuter Erkrankung oder Verschlechterung – erfasst über Bewegungsmelder mit dem Ziel schneller Diagnose und Therapie, um Krankenhausliegezeiten zu mindern und Pflegebedürftigkeit zu verhindern;
- zu geringe Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme – erfasst über Gewichtsdetektor in der Toilettenbrille mit dem Ziel, frühzeitig personelle Zuwendung zu intensivieren – vermindert Exsikkosegefahr (Austrocknen), beugt Verwirrtheit und Depression vor;
- Vergessen von Schlüssel/Mantel beim Verlassen der Wohnung – Unterstützung durch Bewegungsmelder an der Tür, der automatisch auslöst, dass eine freundliche, vertraute Stimme (zum Beispiel der Tochter) dazu auffordert, den Schlüssel/Mantel mitzunehmen.
Beispiel einer individuellen Lösung aus West Lothian5
Situation: Ein altes Ehepaar, über 80-jährig, kann sich noch selbst versorgen – mit Unterstützung von Tochter und Schwiegersohn, über 60-jährig, die in der Nähe wohnen. Nachts allerdings gibt es das gravierendste Problem: Die alte Dame mit Demenz geht häufig zur Toilette und kehrt manchmal nicht in ihr Bett zurück, sondern verlässt das Haus. Ihr Mann ist sehr schwerhörig und bemerkt das nicht. Tochter und Schwiegersohn sind massiv in Sorge und inzwischen erschöpft.
Lösung: Ein Detektor im Bett meldet nach zehn Minuten, wenn die alte Dame nicht zurückkehrt. Die Meldung läuft dann direkt auf dem Mobiltelefon der Tochter auf. Diese ruft umgehend in der Wohnung der Eltern an. Die alte Dame geht ans Telefon und nach dem Gespräch mit der Tochter wieder ins Bett. Ginge die alte Dame nicht ans Telefon, würde die Tochter umgehend kommen, um die Mutter noch in der Nähe des Hauses anzutreffen.
Ergebnis: Die Lebensqualität von vier Menschen wurde erheblich verbessert. Die vom Hausarzt vorgeschlagene Heimaufnahme des Ehepaares wurde abgewendet.
Was für Akzeptanz und Nutzen der Technik wichtig ist
- Die Auswahl der Melder und ihre Reaktionsschwelle sind auf den Bedarf des einzelnen Nutzers auszuwählen und unkompliziert einzustellen.
- Alarm wird ohne gezielte Handlung des Nutzers ausgelöst, da alte Menschen in einer Notsituation selten in der Lage sind, einen Alarmknopf zu drücken.
- Das Callcenter meldet sich innerhalb definierter Zeit (zum Beispiel zwei Minuten) und über einen Zugang, der kein Zutun des Nutzers erfordert, beispielsweise über die Lautsprechanlage des Telefons oder den Fernseher.
- Der/die Nutzer(in) kann von jedem Ort in der Wohnung aus antworten und berichten, wie die Situation ist, ohne selbst Technik zu aktivieren (muss dafür nicht an sein Telefon kommen).
- Fehlalarme werden als willkommene Gelegenheit für Kommunikation genutzt. Das stärkt das Vertrauen zwischen Nutzer(in) und Callcenter und vermittelt ein Grundgefühl von Sicherheit in der eigenen Wohnung.
- Callcenter-Mitarbeitende sind geschult für die kommunikativen Anforderungen ebenso wie für die Einschätzung der Lage und die Auswahl der erforderlichen Aktion.
- Die Zusammenarbeit im gesamten Hilfenetz mit allen professionellen, familiären, nachbarschaftlichen und ehrenamtlichen Helfer(inne)n einschließlich des Callcenters ist entwickelt und wird gepflegt, um im Notfall rasch, kompetent und effizient zu helfen.
Was in Schottland möglich ist, sollte auch in Deutschland machbar sein. Finanzielle Gegenargumente können nicht gelten, weil in Schottland diese Lösung gerade aus Finanznot der Kommune geboren wurde und mit weniger Kosten eine bessere Lebensqualität ermöglicht. Unser zergliedertes Sozialleistungssystem ist eine besondere Hürde. Aber die Wohnungswirtschaft und der Verband der Elektrotechnik sind auf dem Weg. Was hindert uns daran, dass Akteure auf kommunaler Ebene Wege einer sozialraumorientierten Realisierung suchen?
Anmerkungen
1. Kelly, David F., West Lothian Council: Vortrag „Touching Peoples’ Lives through Technology“ im Forum 1: Selbstbestimmte Lebensführung I/Independent Living I beim Kongress Seniorenwirtschaft in Europa 2005/Silver Economy in Europe 2005.
2. Bowes, Alison; McColgan, Gillian: Smart technology and community care for older people: innovation in West Lothian, Scotland. Age Concern Scotland, 2006.
3. Gaden, Udo in: Driller, Elke; Karbach, Ute; Stemmer, Petra; Gaden, Udo; Pfaff, Holger; Schulz-Nieswandt, Frank: Ambient Assisted Living – Technische Assistenz für Menschen mit Behinderung. Freiburg : Lambertus-Verlag, 2009, S. 48–52.
4. Telemedizin – Modellprojekte des Ostalbkreises, Gesundheitsversorgung im Ländlichen Raum, Tagung 6. April 2009:
- Ein Drittel aller über 65-Jährigen stürzt mindestens einmal im Jahr, bei über 80-Jährigen liegt dieser Anteil bei über 50 Prozent;
- fünf Prozent aller Stürze im Alter führen zu Knochenbrüchen;
- 25 Prozent der Alterspatient(inn)en nach sturzbedingter Fraktur versterben im ersten postoperativen Jahr.
5. Kelly, David F., a.a.O.